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Lest Rousseau!

Jean-Jacques Rousseau gilt als Idealist und Freiheitsverächter. Falsch! Der Genfer war Republikaner und Verfechter föderaler Kleinstaatlichkeit. Anregungen zur Neuentdeckung eines ungelesenen Philosophen.

Was fällt – in der Sendung «International» von Radio DRS vom 4. November – einem österreichischen Sozialdemokraten ein, wenn er den Begriff «direkte Demokratie» hört? Gefahr des Faschismus! Womit haben sich die politischen Philosophen Georg Kohler («Tages-Anzeiger») und Francis Cheneval (DRS) in eindrucksvollen Statements zum Rousseau-Jahr keineswegs identifiziert? Mit dem politischen Rousseau! Welchen Schriftstellerkollegen hat der für seine Toleranz gerühmte Voltaire im Jahr von dessen endgültiger Ausbürgerung aus Genf nicht nur nicht verteidigt, sondern mit einer üblen anonymen Schmähschrift in die Pfanne gehauen?

Richtig: Jean-Jacques Rousseau, Citoyen de Genève, geboren am 28. Juni 1712 an der Grand-Rue 40 in der Genfer Altstadt, verstorben als Bürger Neuenburgs am 2. Juli 1778 in einem Gartenhäuschen des Grafen Girardin im heute noch existierenden idyllischen Park von Ermenonville, eine knappe Autostunde nordöstlich von Paris. Schon zur Zeit der Restauration höhnte ein Sprichwort: «Je suis tombé dans l’eau – c’est la faute à Rousseau.»

Rezeption eines revolutionären Vordenkers

So wie Pestalozzi, Kant, Schiller und Bentham 1792 von Frankreichs Nationalversammlung zu Ehrenbürgern erhoben wurden, so sprach dieselbe (in Rousseaus politischem Konzept keineswegs vorgesehene) Institution 1792 dessen Witwe Thérèse Levasseur (1721–1801) eine lebenslängliche jährliche Rente von 3000 Francs zu. Ein gutes Jahr später wurde Rousseaus einstiger Freund und Förderer Malesherbes, der ihn im neuenburgischen Exil besucht hatte, aufgrund eines Gesinnungsurteils ohne Berufungsmöglichkeit samt Familie guillotiniert. Dazu im 5. Kapitel des 2. Buches des Contrat social (1762): «Die Todesstrafe ist ein Recht, das der Souverän nur übertragen, nicht selber ausüben kann. Ausserdem ist die Häufigkeit der Todesstrafe immer ein Zeichen für Schwäche und Verderbnis der Regierung.» Hätte der Verfasser diese Zeilen 1793 auf ein Flugblatt schreiben können, das «nationale Rasiermesser» des Dr. Guillotin hätte vor Rousseau kaum haltgemacht.

In der Terrorphase der Französischen Revolution war der Autor des Contrat social schon mehr als 15 Jahre tot. Von seinen zu Lebzeiten leidenschaftlichsten Anhängern in der Schweiz war der Brugger Arzt und Mitgründer der Helvetischen Gesellschaft Johann Georg Zimmermann (1728–1795) noch am Leben. Dieser hatte schon 1764 so etwas wie die Französische Revolution vorausgesagt, von ihrem realen Terror wandte er sich als unverbrüchlicher Verehrer Rousseaus voller Ekel ab. Seinem Brugger Landsmann Philipp Albrecht Stapfer, dem späteren Bildungsminister der Helvetischen Republik, empfahl er, sich mit den Schriften des britischen Revolutionskritikers Edmund Burke zu befassen, eines streitbaren Rechtsliberalen («Whig»), der die direkte Anwendung von Rousseaus Prinzipien als für die praktische Politik untaugliche «Metaphysik» verurteilte, obwohl diese «theoretisch richtig» seien.

Julie Bondeli (1731–1779), welche damals als wohl einzige Deutschschweizerin die Differential- und Integralrechnung beherrschte, war bei aller Kritik die bedeutendste Rezipientin Rousseaus östlich der Saane. In Frankreich hatten die romanhaften Schriften Nouvelle Héloïse und Emile oder Über die Erziehung auch beim weiblichen Publikum der Oberschicht einschliesslich des gebildeten Bürgertums Furore gemacht. Der Minister Talleyrand konstatierte für die Jahre vor der Revolution eine spürbare Wirkung des Emile auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kind.

Rousseaus eigenes Privatleben war das eines psychisch schwierigen, neurotischen und meistenteils in objektive Widersprüche verwickelten Menschen. Noch dazu lebte er in vielfach beengten finanziellen Verhältnissen. Zu seinen ethischen Prinzipien als Republikaner gehörte die Verweigerung der Annahme von «Kulturförderung», welche vorher dem Volk aus Steuergeldern abgeknöpft worden war. Franzosenkönig Ludwig XV., Preussens Friedrich der Grosse und Englands Georg III. hätten den wohl seit Montaigne brillantesten Prosaschriftsteller gerne mit lebenslänglichem Unterhalt an sich gebunden. Davon wollte der Genfer, der sich regelmässig als «Schweizer» bekannte, nichts wissen. Hingegen liess er sich in den späteren Jahren seines Lebens vom Neuenburger Geschäftsmann Pierre Alexandre du Peyrou unterstützen, dessen Einkünfte aus niederländischen Kolonialgütern zum Teil auf der Basis von Sklavenarbeit erfolgten. Dabei wendet sich der Contrat social in der Westschweizer Tradition des Naturrechts gegen die Sklaverei.

Für Otto von Habsburg (1912–2011) stehen Rousseau und die Französische Revolution für eine Politik, «welche die Bindung an das Transzendente leugnet, das Naturrecht nicht anerkennt und den autonomen Menschen, meist nur als Masse verstanden, als die Quelle allen Rechts betrachtet. Daraus erfolgt die Unbeschränktheit des Gesetzgebers.» Diese Thesen aus katholischen Schulbüchern konnte nur aufrechterhalten, wer sich nie mit Rousseaus Hintergründen aus dem Calvinismus und der Westschweizer Schule des Naturrechts (Barbeyrac, Burlamaqui, de Vattel, auf der Basis von Pufendorf) befasst hatte. Es war kein Zufall, dass Montesquieus Standardwerk zur Gewaltentrennung, Vom Geist der Gesetze, 1748 in Genf gedruckt wurde.

Für die moderne westliche politische Philosophie wurde Rousseau wegen seiner Denunziation des Parlamentarismus als Aristokratieersatz sowie hauptsächlich wegen seiner Forderung nach demokratischer Unmittelbarkeit inakzeptabel. Schlechthin berüchtigt ist die volonté générale, ein interpretationsbedürftiger Begriff, dessen Schöpfer man als «Vater des Totalitarismus» ausgemacht haben will. Damit signalisiert man den Inbegriff eines philosophischen Feindbildes, an dem die deutsche monarchische, nationale und ultrakonservative Rechte seit 200 Jahren zu ihrem eigenen Schaden unverdrossen festhält. Unvergessen sind Ressentiments gegen den «Plebejer» (Egon Friedell) und die «Canaille Rousseau» (Friedrich Nietzsche).

Die Kündigung des Staatsvertrags

Für progressive Rousseau-Kritiker aus dem linken und linksliberalen Lager ist schon der Gedanke reiner Horror, der moderne Wohlfahrts- und Schuldenstaat könnte irgendwann den Punkt erreichen, wo dem Bürger wie schon 1789 das Recht auf Kündigung oder wenigstens zum legitimen Austritt aus dem System seiner Ausbeutung nicht mehr abzusprechen wäre.

Zwar gibt es bei Rousseau unbedingte Bürgerpflichten, wie zum Beispiel: «Chaque citoyen a le devoir d’être soldat.» Die Dienstpflicht des Bürgersoldaten gilt aber nur zur milizorientierten Selbstverteidigung der Republik und ihrer Prinzipien, wie das 1712 Rousseaus Vater als Angehöriger einer Genfer Kompanie bei der Schlacht bei Villmergen praktiziert hat. Hingegen sind käufliche fremde Kriegsdienste ebenso unrepublikanisch wie eine nicht mehr transparente Steuerbelastung, zu der man als Bürger nichts zu sagen hat. Der Staatsvertrag muss kündbar sein, so wie man einst mit der demokratisch beschlossenen Einführung der reformierten Republik (1536) Genfs Fürstbischof aus der Stadt verjagt hat. Die im Vergleich zur mittlerweile als Menschenrecht anerkannten Dienstverweigerung heute bedeutend brisantere Steuerverweigerung aus politischen Gewissensgründen wurde u.a. vom US-Philosophen Henry David Thoreau (1817–1862) auch mit Berufung auf Rousseau vertreten.

Zur Lebenszeit des Revolutionärs unter den Schweizer Autoren war aus der Sicht der demokratischen Opposition zum Beispiel die Mitbestimmung am teuersten Bauprojekt im Ancien Régime von Genf, den Festungsanlagen nach dem System Vauban, bei den immerhin 6000 stimmberechtigten Citoyens und Bourgeois der Calvinstadt eine Frage von Freiheit oder Unfreiheit, zumal dieses Projekt nicht ohne öffentliche Kredite und Steuererhöhungen zu realisieren war. Zur Basisgesinnung, also der volonté générale dieser Männer, von denen fast jeder Kunde in einer der 40 Buchhandlungen Genfs war, gehörte eine protestantische Arbeitsmoral einschliesslich der Stigmatisierung des Konkurses. Für die ehemaligen hugenottischen Asylanten galt der Grundsatz: «Lieber hungern, als dir, Republik Genf, nicht alles sogar über Gebühr zurückzuzahlen, was du uns einst vorgeschossen hast.» So nachzulesen in einem Epigramm aus der Zeit um 1700.

Wie man sich eine demokratische Revolution im Geist des Contrat social vorzustellen hat, zeigen weniger der Sturm auf die Bastille oder der Bruch der Berliner Mauer als ein 1832 vorgeschlagenes Konzept des Schweizer Philosophen Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) zur Umwandlung der kantonalisierten Schweiz in einen Bundesstaat. Die in Vereinen und Fähnlein privatrechtlich organisierten Schützen treffen sich zu einem eidgenössischen Schützenfest. Auf der Heimkehr besetzen sie die kantonalen Rathäuser. Sie ziehen nur unter Erfüllung von zwei Bedingungen ab: a) Die Regierung stimmt der Volkswahl eines eidgenössischen Verfassungsrates zu. b) Das Resultat einer Volksabstimmung über die revolutionäre Verfassung wird von der Regierung anerkannt. Im Idealfall wäre eine solche Revolution, wie das Beispiel des Freiämter Sturmes von 1830 nach Aarau zeigt, ohne Tote oder doch nur mit verschwindend wenigen Opfern praktizierbar.

Weder die Französische Revolution noch erst recht der Terror von Robespierre, dessen diktatorischer Wille sich mit der volonté générale identifizierte, sind mit Rousseaus Vorstellungen von Demokratie zu verwechseln. Robespierre mit Rousseau gleichzusetzen wäre wohl noch mehr daneben, als in Stalin den authentischen Interpreten von Karl Marx zu sehen. Rousseau ist bekanntlich meistenteils in der Genfer Rue de Coutance aufgewachsen, dem Hauptquartier der demokratischen Opposition, und er verdankt seine Politisierung dem 1708 hingerichteten Pierre Fatio und dem später lebenslänglich in Aarburg eingekerkerten Schweizer «Mandela» Micheli du Crest (1690–1766), dem er in seinen Confessions ein eindrückliches Denkmal setzte. Beiden Freiheitshelden ging es um nicht verhandelbare uralte Mitbestimmungsrechte in einer überschaubaren Stadtrepublik, welche von calvinistisch-republikanischer öffentlicher Moral geprägt war. Dies zu einem Zeitpunkt, da die Hinrichtung des Ketzers Serveto (1653) von aufgeklärten Protestanten wie Turretini und Barbeyrac längst als Fehler eingestanden war.

Zu einigen Missverständnissen

Rousseaus Modell der Republik ist weder ein zentral regierter Riesenstaat wie Frankreich noch gar die heutige Europäische Union, sondern zum Beispiel die Bergrepublik Korsika, als deren Hauptort das Gegenteil von Paris, nämlich ein unscheinbares Bergdorf, vorgesehen war. Kommt dazu, dass das Staatswesen Korsika, wie die von Rousseau etwas idealisierte Bergrepublik Oberwallis, in seiner demokratischen Struktur gemäss Verfassungsentwurf auf dem kommunalen Föderalismus beruhen müsste. Das Leben der Einheimischen, die sich für gemeinschaftliche Zwecke zu Genossenschaften zusammentun (wie die Wässergenossenschaften im alten Wallis), soll so wenig wie möglich von der korrumpierenden Geldwirtschaft beherrscht sein. Öffentliche Schulden sind nach einer Einschätzung des Genfer Republikaners Micheli du Crest vor allem Ausdruck von Machtmissbrauch bei denjenigen, die sich aufgrund ihrer amtlichen Stellung anmassen, über das Geld und den Willen anderer frei verfügen zu können. Als wichtigster Lebensinhalt der Menschen gilt nach calvinistischer Ethik die Arbeit. Was die Bildung betrifft, so soll diese nach Rousseau den regionalen Verhältnissen angepasst sein. Ausser Lesen, Schreiben und Rechnen soll man sich, für den politischen Unterricht, mit römischer Geschichte beschäftigen und mit der Tradition vaterländischer Freiheit, in der Schweiz etwa mit Wilhelm Tell. Andererseits verwahrte sich Rousseau gegen Unterhaltung als Mittel der Herrschaft. In Genf wollte er gemäss der Lettre à Alembert kein Theater haben. Über diesen Puritanismus hat sich der im benachbarten Verney wohnhafte Voltaire aus begreiflichen Gründen empört.

Rousseaus Verfassungsentwurf für Polen versucht, dank föderaler Aufsplitterung des Landes in 33 über Volksversammlungen zu regierende Einheiten der Bürgerschaft einen zentralistischen und autoritären Führerstaat zu ersparen. Nichts entspricht Rousseau weniger als der Unterschied zwischen Hauptstadt und Provinz oder gar der «demokratische Zentralismus» kommunistischen Zuschnitts. Kein «Führer schützt das Recht» (Carl Schmitt), nur die moralische Gesinnung der Bürger, welche durch eine «protestantisch» anmutende «Zivilreligion» als Moralkonsens geeint sind. Auf gar keinen Fall ist irgendeiner Person oder Instanz «alles erlaubt». Eine solche Tugendrepublik ist zwar gewiss kein Ausbund an Liberalismus, doch gibt es kaum ein grösseres Missverständnis, als Rousseau jeweils nach den Schlagworten auf den ersten Seiten seiner Werke zu beurteilen. Die negative Wertung des Privateigentums zu Beginn des Discours sur l’inégalité ist – nicht unähnlich der Auffassung von Jesus Christus – prinzipienethisch zu verstehen. Die Praxis zielt auf einen Primat des Mittelstandes im Gegensatz zu allzu Reichen, welche ihre Macht politisch missbrauchen könnten. Diese Warnung ist auch in Gottfried Kellers Fähnlein der sieben Aufrechten nachzulesen, ohne dass deswegen Keller als Kommunist einzuschätzen wäre! Die «Volonté générale» von Rousseau steht auf jeden Fall dem «mittelständischen Denken» eines Friedrich Traugott Wahlen wie generell einem dem Protestantismus inhärenten Potential von moralischen Hemmungen weit näher als irgendwelchen totalitären Konzepten eines idealen Staates oder einer idealen Gesellschaft.

Schweizer Geistesverwandtschaft

Die schönste Reminiszenz an Rousseau in der Geschichte der Schweiz bleibt wohl der liberale Revolutionär und Nationalratspräsident von 1848, der einst von der Luzerner Regierung wegen Hochverrats zum Tode verurteilte und von Gewissenstätern befreite Jakob Robert Steiger (1801–1862). Ihm verdanken wir unter anderem das Petitionsrecht in der Bundesverfassung und den für die ganze Menschheit wünschbaren Verfassungsgrundsatz, dass «niemand aus politischen Gründen zum Tode verurteilt werden darf». Ausserdem hat er beim Schuldenmachen vor jenen Beträgen gewarnt, deren Höhe sich der gewöhnliche Bürger nicht mehr vorstellen kann – damals Millionen, heute Billionen!

Schon nach drei Jahren Amtszeit zog sich Steiger aus dem nationalen Parlament zurück, um besser seiner Tätigkeit als Frauenarzt, kantonaler Bildungspolitiker und Verfasser einer 650seitigen Flora des Kantons Luzern (1860) nachgehen zu können. Wie Rousseau hat dieser bedeutendste liberale Politiker der Innerschweiz mehr Zeit in die Botanik investiert als in die Politik. Nicht aber ein «Zurück zur Natur», sondern das «Vorwärts zur Kultur» war sein Lebensmotto: Sein Anliegen war ein auf Ethik und sozialer Verpflichtung basierender Liberalismus. Der Radikaldemokrat Steiger war im Zweifelsfall praktischer Politiker, wohingegen Rousseau noch über einen durchaus romantisch-idealistischen Freiheitsbegriff verfügte. Beides, die radikaldemokratische Praxis wie auch Signale der Freiheit, die über blosse «Realpolitik» (z.B. der heutigen chinesischen Führung) hinausgehen, wäre für das Europa und die Schweiz von heute eine Herausforderung. Rousseau zu lesen bleibt ganz unabhängig davon eine der anregendsten Beschäftigungen für Menschen mit geistigen Bedürfnissen.

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