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«Lesen als letztes Abenteuer»

«Lesen als letztes Abenteuer»

Peter Stamm: Wenn es dunkel wird.

Ohne dass er es «geplant hätte», erklärte Peter Stamm, gehe es in vielen der elf Geschichten aus seinem neuen Erzählband «um irrationale Dinge, um Menschen, die auftauchen und verschwinden». So stimmen sowohl der Titel «Wenn es dunkel wird» als auch das Umschlagbild, René Magrittes berühmtes Gemälde «L’empire des lumières», auf surreale, unheimliche Geschichten ein.

Ein bei Stamm immer wiederkehrendes Thema sind zufällige Begegnungen von Menschen, aus deren Zusammentreffen oft eine gemeinsame, schicksalhafte Geschichte entsteht. Zumeist gibt es für die Lebensglück suchenden Protagonisten kein Happy End, sondern die Offenheit einer Zukunft, in der alles möglich ist. Im Band «Wenn es dunkel wird» setzt Stamm diese offenen Lebensgeschichten fort, akzentuiert seine bekannte, mit erzählerischer Lakonie gestaltete Orientierung an einer alltäglichen Realität aber verstärkt durch die Fiktionalität. So wird eine «andere Wirklichkeit» sichtbar, die tiefere Wahrheiten eines täuschenden Alltagslebens offenbart.

Schon die erste Erzählung, «Nahtigal», inszeniert ein Spiel mit Realität und Fiktionalität: Ein 18jähriger Lehrling, ausgerüstet mit einer Eichhörnchenmaske, bereitet sich auf einen Bankraub vor und beobachtet genauestens den Schauplatz seiner geplanten (abenteuerlichen) Tat. Ob er die Bank tatsächlich überfällt, bleibt am Ende offen; möglicherweise ist alles nur eine Phantasmagorie, die Imagination einer begehrten Befreiung aus den Fesseln eines erdrückenden alltäglichen Lebens. Dieses uneindeutige Handeln ist symptomatisch für die meisten der Protagonisten (von denen überraschend viele als weibliche Ich-Erzähler auftreten). Sie leiden an der Monotonie und Ereignislosigkeit ihres Daseins, ersehnen Aus- und Aufbrüche, erwünschen sich ein selbstbestimmtes, freies Leben und erfahren in Begegnungen mit aussergewöhnlichen Menschen eine andere, «dunkle» Existenz. Sie verschwinden wundersam aus der Realität, wie der bald pensionierte Ich-Erzähler in der Geschichte «Supermond», finden als Kunstobjekt zu ihrer Liebe (in «Sabrina, 2019»), in der surrealen Begegnung mit einem Wahrsager zur Selbsterkenntnis (in «Cold Reading») oder durch das Zusammentreffen mit einer geheimnisvollen Frau in den Bergen zur Suche nach der eigenen Identität (in «Wenn es dunkel wird»). Gewiss nicht zufällig schliesst Stamm die Sammlung seiner «dunklen Geschichten» mit einer Erzählung, die die realitätsverwandelnde Macht der Literatur demonstriert, indem der Protagonist Richard Gerster nach dem Verlust eines grossen Vermögens sich in einem Hotelzimmer verbarrikadiert und Trost und Hoffnung in der Lektüre des «Robinson Crusoe» findet: «Robinson hat achtundzwanzig Jahre durchgehalten, dachte Richard, das Abenteuer hat gerade erst begonnen.» – Mit diesen offenen, zukunftsorientierten, zuversichtlich auf die literarische Fantasie setzenden Gedanken enden die Erzählung und das Buch. Von derartigen realitätsaufbrechenden «Abenteuern», an denen sich der Protagonist des «Schiffbruchs» letztlich klammert, erzählt Stamm in seinem neuen Band auf überraschende Weise, durch die den Leserinnen und Lesern die Brüchigkeit und Unzuverlässigkeit der Wirklichkeit und die grenzenlosen Existenzmöglichkeiten in einer imaginären Realität gezeigt werden. «Lesen sei das letzte Abenteuer», heisst es im Buch: Die Lektüre von Peter Stamms Erzählband fordert zur Bestätigung dieses Diktums auf!


Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2020.

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