Lenin – ein Mensch mit drei Gesichtern
Im Ökonomischen blieb er nicht Kommunist
Für die einen ist Lenin eine Ikone, ein schuldloser Genius, für die anderen der dämonische Verderber Russlands, und viele haben ja vor unseren Augen jene Auffassung gegen diese vertauscht. Für die dritten ist er ein Eklektiker, bei dem sich Ansichten für fast jeden Geschmack finden lassen. Wieder für andere ist er ein Mensch, der sich im Zuge seines Lebens tatsächlich in vielem geändert hat.
1999 erschien im Moskauer Verlag Rospen der Sammelband «V. Lenin. Unbekannte Dokumente. 1891–1922». Darin wurde veröffentlicht, was Jahrzehnte hindurch in den Tiefen der Parteiarchive versteckt blieb, weil es nicht der kommunistischen Ideologie und dem kanonisierten Bild des Führers entsprach. Allem voran die grauenhaften Direktiven und Empfehlungen zur Abrechnung mit den «Klassenfeinden»; daneben Instruktionen zur Finanzierung kommunistischer Parteien im Ausland – während der Hungerjahre wohlgemerkt, als in Russland Millionen von Menschen umkamen; unbequeme Dokumente über die Beziehungen zu Kampfgefährten; Material aber auch, das die Scheinheiligkeit der Partei belegt.
Im Jahr 2000 publizierte der anerkannte amerikanische Sowjetologe Richard Pipes den grösseren Teil der Dokumente dieses Sammelbandes unter dem Titel «Der unbekannte Lenin». Damals entsprach ein solcher Titel allerdings schon nicht mehr der Realität. Eine Reihe «sensationeller» Dokumente war schon früher in der Presse und in Periodika erschienen und im zweibändigen Werk von D. A. Volkogonov, «Lenin: Ein politisches Porträt» (Moskau 1994). Der Höhepunkt des öffentlichen Interesses war damals bereits überschritten, und der Band brachte für den Durchschnittsleser nichts Neues: Lenin, ein fanatischer Revolutionär, der bereit war, im Dienst seiner Ziele jedes Opfer zu bringen und auch grausame und unmoralische Mittel einzusetzen. Unmoralisch? Warum? Wenn die Moral den «Interessen des Klassenkampfes des Proletariats» (will heissen: der politischen Zweckdienlichkeit) untergeordnet ist, wenn «moralisch alles ist, was dem Sieg des Kommunismus dient», dann sind auch die Mittel moralisch gerechtfertigt, die zu diesem Siege führen. Es stellt sich dann freilich die Frage, warum gerade diese Anordnungen Lenins den eigenhändigen Vermerk «geheim» tragen.
«Kommunistische Scheisse»
Mir persönlich erschloss sich ein bis dahin unbekannter Lenin vor langer Zeit, beim Lesen des 54. Bandes seiner gesammelten Werke, jenes Bandes, der die Briefe und Aufzeichnungen von November 1921 bis März 1923 umfasst. Zum Druck vorbereitet gegen Ende des Chruschtschowschen Tauwetters, war dieser Band 1965 in einer Auflage von 187 000 Exemplaren erschienen, offensichtlich aber von niemandem ausser den Redaktoren und Autoren der offiziellen Rezension ganz gelesen worden. Die kommunistische Ideologie war in den letzten Jahrzehnten des Bestehens der Sowjetmacht im Grunde genommen tot, Lenin wurde in der UdSSR nur noch auszugsweise gelesen.
Hier aber erschloss sich dem aufmerksamen Leser unvermittelt ein nicht ikonenhaft überhöhter Lenin. Es zeigte sich, dass der Mann sich mit etwas beschäftigt hatte, das in der damaligen offiziellen Sprache als «Verunglimpfung der sowjetischen Wirklichkeit» bezeichnet wurde. «Unzulänglichkeiten zu kritisieren», so hatte man uns eingeschärft, «ist möglich und nötig; nicht erlaubt ist es, zu verallgemeinern und das Ganze schlecht zu machen!» Genau das aber tat Lenin. Dazu einige Beispiele. Aus einem Brief an A. D. Zjurupa, seinen Stellvertreter im Rat der Arbeit und Verteidigung, vom 18. Februar 1922: «Die Handelsabteilung der Staatsbank hat überhaupt nichts mit ‹Handel› zu tun, sondern ist genauso bürokratisch wie alles übrige in der [Föderativen Sowjetrepublik]». Aus Notizen für den Sekretär des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees (AZEK), A. S. Enukidse, vom 13. Februar gleichen Jahres: «…es gibt eine Art von Schlamperei im Präsidium des AZEK und seiner Arbeit (…) wie überhaupt in unserer ‹Oblomow›-Republik». Aus einem Brief an den stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Sowjets für Volkswirtschaft, P. A. Bogdanow, vom 23. Dezember 1921: «…die geheim-parteilich-zekistisch-blödsinnige Eindämmung der widerlichen Angelegenheit, den widerlichen Bürokratismus betreffend (…) Dafür sollte man uns alle an stinkenden Stricken aufhängen.» Aus Notizen für I. W. Stalin vom 15. April 1922: «…der Band von 733 Seiten ist mit jener unverschämten, echt sowjetischen Schludrigkeit publiziert, auf die Gefängnis stehen sollte». Aus einem Brief an den Volkskommissar für Finanzen, G. Ja. Sokolnikow: «Die Kommunisten sind Bürokraten geworden.» An den Vorstandsvorsitzenden der Staatsbank, A. L. Schejnman, vom 28. Februar 1922: «…angeblich Handels-, aber in Wirklichkeit bürokratisch-kommunistische Handels- und Industrie-Dörfer à la Potemkin». Einer nach dem anderen purzeln sie so aus seiner Feder, die «kommunistischen Dummköpfe», die «kommunistischen Puppen», das «kommunistische Gesindel», die «kommunistische Scheisse».
Nach dem Strafgesetzbuch der Föderativen Sow-jetrepublik fiel dies alles unter die Artikel 70 und 191/1 («Verleumderische Behauptungen, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung in Misskredit bringen»), nach denen bekanntlich Dissidente verurteilt wurden. Natürlich, ein Anwalt hätte mildernde Umstände angeführt: frühere Verdienste etwa; überdies war das Geschriebene unter dem Siegel der Vertraulichkeit und während einer Krankheit zu Papier gebracht worden. Schwerlich aber hätte ein sow-jetisches Gericht diese Ausreden berücksichtigt, und wenn, dann hätte es statt Gefängnis die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt angeordnet.Übrigens: «Pessimismus und Resignation bezüglich der sozialistischen Zukunft der Sowjetunion» – so zu lesen in der letzten Ausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie (20. Auflage 1996, Band 13, S. 285) – gibt es bei Lenin nicht. Vielmehr habe er «den Bürokratismus wie ein Wolf ausgenagt» und Gefängnis für Bürokratismus, organisatorische Unfähigkeit und Untätigkeit gefordert – und Erschiessen für Unterschlagung wie auch Bestechung. Offensichtlich kann oder will Lenin nicht verstehen, dass die Krebsgeschwulst des Bürokratismus durchaus nicht von Pannen im «genetischen Apparat» des Systems erzeugt wird, sondern zu dessen eigenstem Wesen gehört, indem Markt und Demokratie – als Voraussetzungen für die Selbstentwicklung der Gesellschaft – durch äussere, aus dem Zentrum erfolgende Lenkung der gesellschaftlichen Prozesse ersetzt werden.
Andere Autoren finden den «unbekannten Lenin» in seinen letzten Artikeln, die gelegentlich als sein «Vermächtnis» bezeichnet werden. Beispiele dieser Lesart sind die umfangreiche Skizze von Ju. M. Burtin «Ein anderer Sozialismus» (im Almanach «Rote Hügel», Moskau 1999) und das unabhängig von ihm entstandene Büchlein von Ju. M. Ivanov «Ein Fremder unter den Seinen: Die letzten Jahre im Leben Lenins» (Moskau 2002).
Den Kern dieser alternativen Lesart kann man folgendermassen wiedergeben: Der Übergang vom «Kriegskommunismus» zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) war von Lenin unter dem Druck harter wirtschaftlicher und politischer Notwendigkeit veranlasst worden. Die Volkswirtschaft des Landes war schlichtweg zusammengebrochen, und die Bauernschaft lehnte sich massenhaft gegen die Bolschewiki auf. Unter diesen Umständen drängte sich die NÖP als Ausweg geradezu auf. Durch Handelsfreiheit und die Zulassung von Privatunternehmertum konnte die landwirtschaftliche Produktion in gleicher Weise überleben wie die industrielle; die Nachfrage der Städte nach Nahrungsmitteln wurde ebenso befriedigt wie jene des Dorfes nach industriellen Gütern; ein «Bündnis» zwischen Stadt und Land wurde möglich.
Lenin erfasste den Bankrott des «Kriegskommunismus» nicht sofort und nicht als erster. Ju. M. Larin und L. D. Trotzki hatten schon Anfang 1920 vorgeschlagen, die Getreideablieferungspflicht durch eine festgesetzte Steuer zu ersetzen. Lenin aber «brauchte» zuerst den Aufstand der Matrosen in Kronstadt und die «Antonowschtschina» (die Erhebung unter dem Partisanenführer Antonow im Gouvernement Tambow), um dann solche Massnahmen zu veranlassen. Immerhin, in der Folge sollte er seine ganze Autorität einsetzen, um die Partei von der Unumgänglichkeit einer Kursänderung zu überzeugen – jene Partei, deren Mitglieder die NÖP grossmehrheitlich als Sündenfall betrachteten. In den Jahren 1921 und 1922 erfolgte der allmähliche Ausbau der NÖP auf allen Gebieten der volkswirtschaftlichen Verwaltung.
Im Verlauf dieses Prozesses, so Burtin und Ivanov, wurde die Taktik zur Strategie, und in seinen letzten Werken kam Lenin, eigenen Worten zufolge, «zu einer grundlegenden Änderung der Sicht von uns allen auf den Sozialismus». Zum ersten Mal ertönte unter den Kommunisten der Aufruf, die orthodox-marxistische Ablehnung des Marktes zu überdenken und ihn wie auch das «private Handelsinteresse», die Privatproduktion und das Privatkapital als Merkmale des ökonomischen Mechanismus im Sozialismus anzuerkennen. Freilich unter zwei unerlässlichen Voraussetzungen: Erhaltung der Macht der kommunistischen Partei («Diktatur des Proletariats») und des staatlichen Eigentums an Boden und Schwerindustrie.
Im Artikel «Über das Genossenschaftswesen», der im Januar 1923 vom halbseitig gelähmten Lenin diktiert wurde, heisst es: unter den genannten Bedingungen «…ist für uns das schlichte Wachsen des Genossenschaftswesens gleichbedeutend (…) mit dem Wachstum des Sozialismus»; denn «in unserer Ordnung unterscheiden sich Genossenschaftsbetriebe nicht von sozialistischen Betrieben». In der Tat, so kann jemand über wirtschaftlich selbständige Betriebe nur dann sprechen, wenn sich der oben genannte Wandel im Bewusstsein schon vollzogen hat. Lenin stand, nach der Einschätzung von Burtin und Ivanov, auf der Schwelle zur Anerkennung dessen, was heute «markwirtschaftlicher Sozialismus» genannt wird.
Jetzt ist die NÖP für ihn nicht mehr «Abweichung» vom Sozialismus, ja nicht einmal eine «Stufe» auf dem Weg zu ihm. Gemäss den grundlegenden ökonomischen Charakteristika steht sie vielmehr «innerhalb» des Sozialismus, sie stellt dessen Anfang dar, vom «vollen» Sozialismus trennen sie die Fehler der Administration und das niedrige kulturelle Niveau der Bevölkerung, das Kooperation behindert. Deshalb lässt Lenin die Überwindung der kulturellen und technischen Rückständigkeit (wie man heute sagen würde: die Modernisierung) zur Hauptaufgabe aufrücken. Der Übergang von der NÖP zum Sozialismus ist fliessend.
Vom Revolutionär zum Reformer
Das ist natürlich ein «anderer Sozialismus» – nicht der Staatssozialismus von Marx und nicht der genossenschaftliche Selbstverwaltungssozialismus von Bakunin. Burtin identifiziert die NÖP als den ersten realen, in grossem Massstab unternommenen Versuch der Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus in der Geschichte. Seine und Ivanovs Antwort auf die Frage «Was wäre gewesen, hätte Lenin länger gelebt?» lautet so: «Verhältnisse etwa wie im heutigen China». Das heisst: ein totalitäres kommunistisches Regime, die Schwerindustrie im wesentlichen in den Händen des Staates, die Landwirtschaft genossenschaftlich organisiert unter Beibehaltung der Selbständigkeit der bäuerlichen Anwesen. Der Unterschied liegt in einem sehr viel breiteren Einsatz marktwirtschaftlicher Mittel in China: in der Zulassung von Privateigentum am Boden, in der Existenz bedeutender nichtstaatlicher Unternehmen in der Industrie – und natürlich im viel massiveren Zufluss ausländischen Kapitals.
Auf der Grundlage des Gesagten formuliert Burtin die These von den «drei Lenins»: Da ist einmal der Lenin des Oktobers, dann der Lenin des Übergangs zur NÖP und schliesslich der Lenin des «Vermächtnisses» – und es sind drei in vielem verschiedene Persönlichkeiten. Der Lenin des Oktobers ist der Revolutionär, der Theoretiker und Praktiker des gesellschaftlichen Umbruchs, der Ideologe des Bürgerkriegs, der Voluntarist und Diktator. Sein Ziel war es, den Kapitalismus «dem Erdboden gleichzumachen» und auf seinen Trümmern eine neue, sozialistische Gesellschaft zu errichten. Der Lenin der NÖP, und mehr noch der Lenin des «Vermächtnisses» fordern ganz im Gegenteil, «den Kapitalismus nicht zu zertrümmern», sondern «ihn wieder zum Leben zu erwecken». In seinen letzten Aufsätzen bezeichnet Lenin sich als «Reformisten», der stufenweise vorgeht. Die Parolen für den Bürgerkrieg wandeln sich zu Motiven für einen Bürgerfrieden. Die Betonung verlagert sich von der Politik auf eine friedliche, organisatorische «Kulturarbeit». In der Politik ist er nach wie vor für unumschränkte Diktatur, in der Ökonomie aber nimmt er Rücksicht auf die gewohnte Ordnung der Dinge, auf die Interessen des einfachen, fern vom Kommunismus lebenden Alltagsmenschen.
Die NÖP, so die Autoren, stellte eine Symbiose von totalitären und marktwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftsführung dar. Dabei war das Wirken marktwirtschaftlicher Regulative begrenzt, der Markt und die Ware-Geld-Beziehungen als Formen der Verbindung zwischen Produzenten wurden im Vergleich zu den planwirtschaftlichen Grundlagen als Erscheinungen niedrigerer Ordnung betrachtet. Das Ausmass der Konvergenz in der NÖP tritt reliefartig hervor, wenn man die Beziehungen zu den Hauptbetroffenen betrachtet – zum Einzelbauern auf der einen Seite, zum Privatunternehmer auf der anderen.
Im ersten Fall liegt eine prinzipielle Veränderung vor. Aus dem Vokabular des späten Lenin verschwinden die Begriffe «Kleinbauer» (Bednjak) und «Grossbauer» (Kulak); sie werden durch das nicht klassengebundene «Landmann» ersetzt. Das Kennzeichen der Beziehung zu ihm bleibt der «Fleiss»: «der fleissige Bauer als Zentralfigur unseres wirtschaftlichen Aufschwungs». Die Genossenschaft ihrerseits zieht in ihm, Lenins Idee zufolge, einen «gescheiten, lese- und schreibkundigen Krämer» heran. Eine andere Sache ist der Privatunternehmer in der NÖP («Nöpmann»). Hier gibt es für Lenin keinen Weg hinter die zu Beginn der NÖP formulierte Doktrin zurück: zeitweilige Zulassung unter bestimmten Bedingungen, Kampf und schrittweise Verdrängung. In der Praxis ist das der Weg des administrativen und steuerlichen Drucks, denn in marktwirtschaftlicher Konkurrenz zogen die staatlichen Betriebe im Vergleich mit den privaten stets den kürzeren. Den NÖP-Sozialismus definiert Burtin als einen «Zentaur» – totalitär-marktwirtschaftlich, die Konvergenz anstrebend und meidend. Auf dieser zwiespältigen Grundlage stellte sich Lenin auch die Aussenwirtschaftsbeziehungen Sowjetrusslands vor: ein staatliches Aussenhandelsmonopol und daneben das Heranziehen ausländischen Kapitals in Form von Konzessionen und Joint-ventures. Auch in den Beziehungen zwischen der Zentrale und den Sowjetrepubliken wollte er die Marktwirtschaft mit der Kommandoverwaltung verbinden, notfalls in Form einer Konföderation. Nur das Militär und die Aussenpolitik sollten zentralisiert bleiben, für alles andere wären die Republiken zuständig. Hinsichtlich des Überbaus unterschied sich die NÖP allerdings nicht vom «Kriegskommunismus». Ihr ganzes politisches System war ein mono-ideologisches Einparteiensystem, das gesamte politische Regime war diktatorisch und repressiv – wie es von Anfang an der Fall gewesen war.
Welches Vermächtnis?
Die Ideen des späten Lenin – und zwar alle – wurden von seinen Kampfgefährten abgelehnt. Den «dritten Lenin» liess man zunächst im «zweiten» aufgehen, dann im «ersten» – durch Verschweigen, Verdrehen von Tatsachen und Fälschungen. Am Rande sei vermerkt, dass die «Enthüller» Lenins heute ebendiese Prozedur vollziehen, allerdings bei diametral entgegengesetzten Bewertungen seines Gesamtbildes.
Von Kollisionen rund um sein «Vermächtnis» zeugen unbestreitbare Fakten. Die Artikel «Über die Genossenschaft» und «Über unsere Revolution» wurden auf der Redaktion der «Pravda» fünf Monate lang liegen gelassen, bis sie schliesslich in «verbesserter» Form erschienen. Gegen die Publikation des Artikels «Wie sollen wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren?» wehrten sich sämtliche Politbüromitglieder ausser Trotzki. Um Lenin zu beruhigen, machte W. M. Kujbyschew, der künftige Volkskommissar für die Arbeiter- und Bauerninspektion, den Vorschlag, den Artikel in einem einzigen Exemplar einer «Pravda»-Ausgabe abzudrucken – so könne «der Alte» sich einbilden, dass Millionen ihn läsen. Als man immerhin beschloss, den Artikel zu drucken, wurde eine klare Forderung aus dem Text entfernt: Niemand, auch nicht der Generalsekretär, dürfe die Mitglieder der Zentralen Kontrollkommission (ZKK) der Partei daran hindern, sich mit jeder beliebigen Dokumentation vertraut zu machen, an den Sitzungen des Politbüros teilzunehmen und die «grösstmögliche Korrektheit in allen Angelegenheiten» anzustreben. Lenin hatte vorgeschlagen, die Mitglieder der ZKK aus der Arbeiter- und Bauernschaft zu rekrutieren, weil diese Teile der Bevölkerung noch nicht vom bürokratischen Kastengeist durchdrungen seien. Unmittelbar nach der Publikation tauchte ein geheimes Rundschreiben des Politbüros auf. Es erklärte, der Artikel stelle nichts anderes dar als die Tagebuchaufzeichnungen eines schwer kranken, schlecht informierten Menschen. D. A. Volkogonov behauptet, dass die Kampfgefährten «in ihrem dahinsiechenden Führer schon keine vollwertige Persönlichkeit mehr sahen». Burtin und Ivanov beweisen: Die Ideen des späten Lenin wurden bewusst von seiner Umgebung ferngehalten, weil sie den Ansichten, die sich eingebürgert hatten, ebenso widersprachen wie den Kasteninteressen der Parteibürokratie. Die restlichen, geheimen Teile des «Vermächtnisses» («Brief an den Kongress», «Zur Verleihung gesetzgebender Funktionen an die Staatliche Planungskommission», «Zur Frage der Nationalitäten oder der Autonomisierung») wurden erst 1953 unter Chruschtschow veröffentlicht. Im Zeitraum von 1935 bis 1953 wurde schon deren blosse Erwähnung (als «antisowjetische Agitation» nach Artikel 58/10) mit Lagerhaft geahndet.
N. A. Berdjaew und, A. D. Sacharow behaupteten, Lenins anfänglicher Impuls sei moralisch und humanitär gewesen; erst die Logik des Kampfes um die Verwirklichung der Utopie hätte ihn zu dem gemacht, was er später geworden sei. In seiner Eigenschaft als Führer des Oktobers gab Lenin dem Protest der unteren sozialen Volksschichten gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Erniedrigung ebenso ein Ventil wie ihrem Streben nach einem besseren, gerechteren Leben oder den Gefühlen des Sozialneids, der Rache und der Freude an der Zerstörung. Objektiv gesehen aber verhalf er der Ausbeutung, der Unterdrückung und Gewalt, in einer neuen, grausameren Form wieder zu erstehen. Die Revolution «von Sieg zu Sieg» führend, durch das Blut und die Leiden von Millionen von Menschen hindurch, fand Lenin sich und die Partei am Rande des Abgrunds. In der NÖP sah er einen rettenden Ausweg. Und er revidierte, sich selbst überwindend, auch seine Sicht der künftigen Entwicklung. Wohl kam er nur in Teilen noch dazu – aber auch das bewirkte, dass er sich als «Fremder unter den Seinen» empfand.
Der Artikel wurde von Inge Grieshammer, Aachen, aus dem Russischen übersetzt.