(1) Leitlinien einer subsidiären und konsensfähigen Kulturpolitik
Neben der privaten ist die öffentliche Kulturförderung in der Schweiz wie auch in Deutschland nach wie vor von grosser Bedeutung. Allerdings ist sie stark reformbedürftig. Eine Rückbesinnung auf den Kernauftrag des Staates in diesem Bereich tut not.
Kultur ist ein grosses Wort. Für Friedrich Schiller bezeichnete es den Kern «deutscher Würde». Durch ihn wurde es zum Fahnenwort einer nationalen Einheit, die nicht über revolutionäre Umstürze zu erlangen war, sondern durch bürgerliche Bildung – durch das Streben nach Charakter und nach künstlerischer wie geistiger Vollkommenheit.
Damit war die politische Debatte beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Schiller erklärte sie beim Austausch «schöner Mitteilungen» zu einem Tabu. Generationen von Kulturschaffenden nach ihm pflegten gegenüber Macht und Politik einen Umgang der Distanz oder Selbstvergessenheit. Deshalb ist «Kultur» immer auch ein gefährliches Wort. Benützt man es, läuft man Gefahr, zuwenig zu denken, weil man zuviel will. «Sprachlos vor lauter Eloquenz» sei der Begriff, kritisierte jüngst wieder der Literaturkritiker Terry Eagleton. Kulturdebatten können endlos werden, weil sie Glaubenskämpfen ähneln.
Das allein schon ist ein Grund, die aktuellen Vorlagen der Kulturpolitik wie das Kulturförderungsgesetz und das Pro Helvetia-Gesetz zu be-grüssen. Sie bergen die Chance einer rechtsstaatlichen Klärung auf diesem Gebiet. So hofft auch die Kulturverwaltung, dass die kulturpolitische Debatte in der Schweiz mehr «Boden unter den Füssen» bekomme, wie der Chef des Bundesamtes für Kultur, Jean-Frédéric Jauslin, kürzlich sagte. Orientierungspunkt ist die Verfassung. Auch sie will viel in der Kultur – aber sie schafft eine gewisse Ordnung, die mindestens ein Nachdenken darüber erlaubt. Die «kulturelle Vielfalt des Landes» ist ein Staatszweck (Art. 2, Bundesverfassung); der Kulturauftrag erstreckt sich von der Sprachenförderung und den Sozialzielen über die Sicherung der Kunstfreiheit und die Kunstförderung bis hin zum Kulturgüterschutz und zum Programmauftrag für Radio und Fernsehen.
Ein Minimum an Aufgabenteilung scheint da angebracht. Nicht jeder kann ja alles machen. Der Föderalismus hat uns ein Prinzip dafür überliefert: die Subsidiarität. Sie gehört nicht nur in der Schweiz mit ihren Kantonen, sondern auch in der EU zu den Losungsworten – immer dann, wenn sich die Zentralbehörden wieder einmal mit zu vielen oder zu grossen Aufgaben übernommen haben. Der Bund tut nur, was Private, Gemeinden, Städte und Kantone nicht selber ebenso gut oder gar besser tun können. Diesem Prinzip entsprechend, sind Städte und Kantone immer noch die Hauptakteure der öffentlichen Kulturförderung in der Schweiz. Vieles spricht dafür, es dabei zu belassen: die demokratische Mitbestimmung – gerade jene der Kunstschaffenden –, der Wettbewerb der Regionen um kulturelle Leistungen, wie auch die integrative Kraft lokaler und regionaler Kulturangebote gehören dazu.
Das ist auch der Tenor der Parteien in der Vernehmlassung zu den neuen Gesetzen. Damit ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten aber erschöpft. Parteien und Kulturverbände streiten sich über die Verbindlichkeit und die behördliche Struktur in der Bundes-Kulturförderung, über Auftrag und Autonomie der Stiftung Pro Helvetia und über die Sozialversicherung für freie Kunstschaffende.
Stehen uns in der Parlamentsberatung nun neue Glaubenskämpfe bevor? Entscheidend ist, ob die Beteiligten es vermeiden, lediglich über ein «Zuviel», beziehungsweise über ein «Zuwenig» an Kultur beim Staat zu streiten. Für die Kritik an einem «Zuviel» an Kulturförderung spräche zwar, dass der Ausbau des Angebots nicht in die Zukunft fortgeschrieben werden kann. «Wir leben in einem Überangebot», stellte jüngst gar Pro Helvetia-Chef Pius Knüsel fest. Wer nach radikaler Reduktion der öffentlichen Mittel ruft, verkennt indes die verfassungsmässige Notwendigkeit der Kulturförderung ebenso wie die Chancen, die sich mit der Bildung subsidiärer mehrjähriger Schwerpunkte bieten werden.
Auch für die Klage über ein «Zuwenig» an Kultur beim Bund gäbe es gute Gründe: die schlechte Koordination der staatlichen Ebenen, die mangelnde Dokumentation und die Mühe der Bürokratie mit neuen Kunstformen zählen dazu. Diese Position des «Zuwenig» würde indes die Tatsache ignorieren, dass Kulturförderung in der Tat nicht jenes Zaubermittel ist, «das sich selbst beliebt macht», um noch einmal Knüsel zu zitieren – der Ausweg aus der «Rechtfertigungsfalle» wäre nicht gefunden. Hingegen sind heute die Fragen zu diskutieren, die eine politische Mehrheit morgen beantwortet haben will.
Bewertung: Welches gesellschaftliche Problem soll mit Kulturförderung eigentlich gelöst werden? Was beispielsweise steht heute in der Schweiz einer lebendigen kulturellen Vielfalt konkret entgegen?
Rechtfertigung: Entsprechen die geforderten Massnahmen der übrigen gesellschaftlichen Ordnung? Sind Nutzen und Kosten gerecht auf die Gesellschaft verteilt? In diesem Lichte sind beispielsweise Abweichungen vom Subsidiaritätsprinzip begründungsbedürftig, nicht dessen Befolgung.
Geltung: Zu zeigen wäre, welche Ressourcen materieller und immaterieller Art, welche Strukturen dazu führen werden, dass die Kulturförderung ihre hochgesteckten Ziele erreichen kann. Deshalb wären Vorzeigeprojekte so wichtig – aber es müssen Vorzeigeprojekte sein, die übergeordneten Kriterien genügen, die also kulturelle Vielfalt gefördert, Identität geschaffen oder kulturellen Dialog nachhaltig ermöglicht haben.
Nachweis: Zu zeigen wäre, inwiefern einzelne Massnahmen die beabsichtigten Wirkungen tatsächlich hervorrufen; inwiefern beispielsweise Kulturprojekte im Ausland tatsächlich zu einem «Dialog» mit diesem Ausland führen können und was von einem solchen Dialog an Wirkungen zu erwarten wäre.
Dies sind Leitfragen für die Konzeption einer konsensfähigen Kulturpolitik. Diese würde jene gesellschaftlichen Probleme systematisch erfassen, die durch Kulturpolitik gelöst werden müssen und auch können (beispielsweise solche rechtlicher, ordnungspolitischer oder sozialer Natur). Sie würde Auszeichnungen vergeben nicht nur an Kulturschaffende, sondern auch an Kulturförderer; an solche nämlich, die hinsichtlich Strukturen, Prozessen und Ergebnissen den Intentionen der Förderung – nicht nur der Geförderten – gerecht zu werden vermochten. Sie hätte eine kulturpolitische Charta gemässigter Kräfte über die Parteigrenzen hinweg zur Grundlage, dem Vorbild der Schweizer Städte für Kulturfragen folgend, die Ähnliches vor Jahren geleistet haben.
Auch über diese Kulturpolitik liesse sich trefflich streiten. Sie wüsste sich aber zu behaupten, indem sie verständliche Begriffe für ihre Leistungen wählen und besetzen würde: «Innovation», «Neugier», «Sinn(lichkeit)», «Kommunikation», «Kunst» und «Freiheit» gehörten vermutlich dazu. Sie wüsste sich zu behaupten, indem sie andere Begriffe in die bürokratische Sphäre verbannen würde: «Defizitdeckung», «Beiträge», «Unterstützung», «Subvention» gehörten dazu. Auch die Landwirtschaft dankt nicht auf jeder Milchpackung «für die Unterstützung» des zuständigen Bundesamtes!» Argumentation statt Anwaltschaft: so könnte, nach der «Kulturpflege» der Nachkriegszeit und der «Kulturdemokratie» der 60er und 70er Jahre, wieder eine Kulturpolitik entstehen, die «Boden unter den Füssen» hat – den Boden des 21. Jahrhunderts.