Leistungsprinzip im
Wahlprospekt,
Günstlingswirtschaft in der Praxis
Die FDP steht für Freiheit, Leistung und Wettbewerb. Parteiintern sieht es jedoch anders aus: Es entscheiden Beziehungen, Identitätspolitik und das Diktat der Zentrale.
Vor drei Jahren äusserten sich 13 Jungfreisinnige im «Schweizer Monat» unter dem Titel «Hallo, Dienstmann!» zur Situation in der FDP.1 Die Streitschrift eruierte fehlenden Meinungswettbewerb und fehlendes Leistungsprinzip als die grössten Defizite der Partei.
Drei Jahre später stelle ich fest, dass sich daran nichts gebessert hat, sich im Gegenteil die Probleme noch weiter zugespitzt haben. Und das Schlimmste: Den Wählern scheint es nicht verborgen geblieben zu sein. Hatte die FDP in der Sotomo-Wahlumfrage von Oktober 2018 noch einen Wähleranteil von 17,7 Prozent, waren es in der Neuauflage im Oktober 2021 nur noch 13,6 Prozent.2 Mit diesem Verlust von knapp einem Viertel der Wähler steht die Partei hauchdünn vor der Mitte (13,3 Prozent) und den Grünen (13,2 Prozent). Bleibt das so, wird die FDP 2023 auch noch ihren zweitletzten Bundesratssitz verlieren.
Top-down-Partei FDP
Im Artikel von Dezember 2018 wurde bemängelt, dass Führungsgremien der FDP oftmals nicht die Meinung der Basis abholten, sondern mit eigener Meinung vorpreschten, dabei aber einen frei ausgetragenen kontradiktorischen Diskurs scheuten. In der Tat wurden in letzter Zeit etliche umstrittene nationale und kantonale Vorlagen an Delegiertenversammlungen nicht ergebnisoffen diskutiert. In Zürich wird sehr selten ein Referent der Gegenposition eingeladen. So wurde etwa das durchaus umstrittene Energiegesetz, über das am 28. November abgestimmt wurde, nur von einer Befürworterin vorgestellt. Es gab auch Parteiparolen, die von der Parteiführung direkt und ohne jegliche Einbezugnahme der Basis festgelegt wurden. Zum Beispiel auf nationaler Ebene das Jagdgesetz oder zunächst das Gesetz zu den polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT). Letzteres wurde erst nach einem Streit zwischen Jungfreisinnigen und FDP an einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung diskutiert.
Wer, wie ich, Kritik an dieser Praxis übt, erhält private Nachrichten von leitenden Mitarbeitern des Generalsekretariats mit Aussagen wie: «(…) bleib einfach bei den Fakten, bevor du dich völlig unglaubwürdig machst und dich selbst begräbst.» Jungfreisinnige werden nach intern ausgesprochener Kritik gerne auch mal von FDP-Vertretern wahlweise als Lügner oder Libertäre bezeichnet. Gang und gäbe ist auch, dass man auf Kritik oder Fragen keinerlei Antworten erhält.
Entscheidungen werden oftmals in Konferenzen der Parteiführung beschlossen. Die Traktanden erfährt man als Vorstand einer kommunalen Sektion nicht, und als normales Mitglied schon gar nicht. Hört man aus Zufall trotzdem, welche wichtigen Entscheidungen an der nächsten Konferenz gefällt werden sollen, erhält man auch auf mehrfache Nachfrage keine Antwort zur Position der Parteileitung. Wird eine Entscheidung dennoch vor den Delegierten diskutiert, kommt es öfters vor, dass Nationalräte und Parteivorstände erheblichen Druck auf Delegierte ausüben. Wer nicht so abstimmen will, wie das die Parteiführung gerne hätte, oder gar unangenehme Anträge stellt, sieht seinen weiteren Aufstieg in der Partei in Frage gestellt.
Die FDP wird voll und ganz von der Parteiführung und dem Generalsekretariat geleitet. Unter diesen Personen wird entschieden, welche Vorlagen vor die Delegierten kommen und welche Referenten diese in einer allfälligen kontradiktorischen Auseinandersetzung vertreten werden. Die Leitung stellt Arbeitsgruppen zusammen, welche zuhanden der Parteileitung Positionspapiere schreiben. Mit dem Aufgebot von nationalen Parlamentariern werden diese Positionspapiere dann bei den Delegierten beliebt gemacht. Was die Auswahlkriterien für diese Arbeitsgruppen sind, ist völlig intransparent. Oftmals wird auch nicht parteiweit zur Mitarbeit aufgerufen; die meisten hören zum ersten Mal von Arbeitsgruppen, wenn diese bereits zusammengestellt worden sind. Wer in der Arbeitsgruppe einsass, welche die Klimapolitik der FDP Schweiz ausarbeitete, weiss ich bis heute nicht.
Eigene Erlebnisse
Auch Delegierte werden oftmals von den Parteileitungen aufgebaut und gescoutet. Kurzum: Es existiert in der FDP eine sehr intransparente Personalpolitik, bei der man Günstlinge aufbaut und diesen möglichst viel Sichtbarkeit in der Partei und in den Medien zuschanzt, währenddessen kritische Stimmen möglichst klein gehalten werden. Es wird ebenfalls zentral entschieden, welche Vorlagen wie stark bearbeitet werden. So wurde festgelegt, immense Mittel in das CO2-Gesetz zu stecken, obwohl die Partei dazu deutlich gespalten war. Gerade das Abstimmungsergebnis zum CO2-Gesetz zeigt, wie gross die Differenz zwischen Parteileitung und Delegierten zur effektiven Basis ist. Symptomatisch ist hier die vom Dietiker FDP-Stadtrat Peter Metzinger («Mr. Campaigning») getroffene Aussage, dass man nichts dafür könne, dass die Basis hier nicht der Parteileitung gefolgt sei. Müsste nicht eigentlich die Parteileitung der Basis zu folgen haben?
Im Frühjahr 2021 lancierte ich ausgehend von der Politik-Newsplattform «Schwiiz brandaktuell» die Petition «Stop Lockdown» – sie vertritt Positionen, die sich mit denen der FDP-Fraktion deckten und decken. Mit der Unterstützung der SVP erreichte die Petition – sehr zum Ärger der FDP-Spitze – über eine Viertelmillion Unterschriften. Es hätte auch zu einem Erfolg der FDP werden können: Als die SVP bei mir anklopfte, ob sie mich unterstützen solle, fragte ich zuerst bei der FDP-Parteipräsidentin und der Generalsekretärin an, ob die Partei die Petition unterstützen wolle, in welcher Form auch immer. Ich erhielt keine Antwort. Später erfuhr ich, dass ich von der Parteileitung bei einigen Kantonalpräsidenten als nicht vertrauenswürdig diskreditiert wurde, da ich, als ich mich ignoriert sah, die Petition mit der SVP aufbaute.
«War es bis anhin in der FDP egal, ob
jemand schwarz oder weiss, jüdisch
oder christlich, männlich oder
weiblich war, wird nun mit dieser
Prämisse gebrochen.»
Sinkende Motivation
Vor drei Jahren prangerten die Jungfreisinnigen das Beispiel von Andri Silberschmidt an, der 2018 trotz nationaler Bekanntheit auf der Wahlkampfliste für den Zürcher Gemeinderat weit hinten platziert wurde. Wie es der Zufall will, kandidiere ich 2022 im selben Wahlkreis für den Gemeinderat; ich wurde auf den gleichen Platz gesetzt wie Andri damals. Andri ist ein politisches Ausnahmetalent, und ich möchte mich in keiner Weise mit ihm vergleichen. Was mich aber konsterniert zurückliess, war die Art und Weise, wie der Listenplatz begründet wurde. Zwar wurden mein Engagement und meine Medienpräsenz gewürdigt, doch es wurde mir bescheinigt, dass es noch ältere Personen mit mehr Seniorität bräuchte sowie mehr junge Frauen. Somit standen Personen auf der Liste vor mir, die auf der Ebene der Kreispartei vor allem durch Abwesenheit und Desinteresse geglänzt hatten. Bei der Zusammenstellung der Liste wurde genau auf die Verteilung der Geschlechter geachtet, dafür wenig auf die bisherige Leistung.
«Jungfreisinnige werden nach intern
ausgesprochener Kritik gerne auch mal von FDP-Vertretern
wahlweise als Lügner oder Libertäre bezeichnet.»
Die FDP begibt sich hier auf eine gefährliche identitätspolitische Schiene. War es bis anhin in der FDP egal, ob jemand schwarz oder weiss, jüdisch oder christlich, männlich oder weiblich war, wird nun mit dieser Prämisse gebrochen. Das erste Problem dabei ist, dass sich die Liste der unterrepräsentierten Gruppen beliebig erweitern lässt. Ist es heute en vogue, möglichst viele junge Frauen auf der Liste zu haben, sind morgen vielleicht Menschen mit einer Behinderung, einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Hautfarbe gefragt. Da der Pool einer Kreispartei aus einer kleinen Anzahl Leute besteht, entfernt man sich so weit vom Leistungsprinzip. Das zweite Problem ist die abnehmende Motivation zum Engagement. «Lohnt» sich das unentgeltliche Mitarbeiten in der Partei nicht mehr, werden dies immer weniger Parteimitglieder auf sich nehmen. Es zeigte sich eine Woche nach Bekanntgabe der Liste, als sich in der Vorstandssitzung gerade noch fünf Personen statt der üblichen 12 bis 15 einfanden. Männer hegen zunehmend den Verdacht, dass sich Engagement in der FDP nicht mehr lohnt. Frauen müssen sich nicht mehr anstrengen, um einen guten Listenplatz zu erhalten, da er ihnen qua Geschlecht sowieso zusteht.
Und dann ereignete sich kürzlich noch etwas, das für mich das Fass zum Überlaufen brachte: Die vor mir auf der Wahlkampfliste platzierte junge Frau zog ihre Kandidatur zurück. Dass Personen von einer Wahlkampfliste demissionieren, ist nicht unüblich, weshalb man bei der Zusammenstellung einen Ersatz nominiert. Das war auch in meinem Wahlkreis der Fall. Die Ersatzperson wird dabei auf den letzten Listenplatz gesetzt und alle, die bereits auf der Liste sind, rutschen eine Position nach oben. Nun aber wurde vorgeschlagen, dass alle einen Platz hochrutschen sollen – ausser ich. Mein Name sollte zugunsten einer Frau eine Position nach unten verschoben werden. Ich verfasste bereits mein Parteiaustrittsschreiben. Daraufhin korrigierte der Vorstand den Vorschlag zu meinem Erstaunen. Auch wenn ich auf einen Rücktritt verzichtete, ist meine Stimmungslage nun an einem Tiefpunkt angekommen.
Reformvorschläge
Das ist eine unnötige Posse auf Ebene der Kreispartei, gewiss. Sie zeigt aber auf, dass die vor drei Jahren identifizierten strukturellen Probleme der FDP nicht behoben wurden. Das Leistungsprinzip zählt wenig innerhalb dieser von oben geführten Partei. Natürlich müsste das nicht so sein: Würde man Entscheidungen basisdemokratischer herbeiführen, könnte man ein Mitmachgefühl bei den Mitgliedern fördern. Die Partei würde im Sinne der Basis geführt werden. Gehässigkeiten und Günstlingswirtschaft könnten verhindert werden.
Die Wahlkampflisten könnten beispielsweise durch eine Wahl unter den Mitgliedern zusammengestellt werden. So stellt man sicher, dass Kräfte gefördert werden, die andere Liberale stark mobilisieren können – genau darum geht es ja bei einer Wahl –, und nicht dem Vorstand genehme oder den Parteigranden sympathisch erscheinende Kandidaten. Alle Kandidaten wären so dazu gezwungen, sich einem gesunden Konkurrenzkampf auszusetzen und so selbst zu liefern, was sie sich politisch auf die Fahne schreiben. Auch arrivierte Kräfte müssten wieder näher an die Basis kommen und sich bei den Mitgliedern blicken lassen.
Auch die Bestückung der Arbeitsgruppen könnte von Mitgliedern vorgenommen werden. Ebenfalls sollen die Mitglieder entscheiden, in welchen Themen man sich wie stark engagiert. Die Attitüde der Windfahne, die den Freisinn von heute prägt, könnte so abgebaut werden. Eine Basis ist prinzipientreuer als ein Parteivorstand und auch weniger beeinflussbar von Lobbyorganisationen oder Verbänden.
FDP-Führungskräfte erklären gerne, dass man für etwas ja Präsidenten und Parteileitungen wähle und man diese dann bitte schalten lassen solle. Mir kommt diese Argumentation vor wie das Verteidigen der repräsentativen gegenüber der direkten Demokratie. Klar war es früher nötig, dass man eine Parteileitung und Delegierte bestimmte, weil sich die Mitglieder nicht alle paar Wochen physisch treffen konnten. Heute aber ist es, dem technischen Fortschritt sei Dank, problemlos möglich, die Mitglieder zu befragen und ihre Haltungen in die Entscheidungsfindung einfliessen zu lassen. So wie die Schweiz von der direkten Demokratie profitiert, wird die FDP von einem stärkeren Bottom-up-Ansatz profitieren.
Frischer Schwung der liberalen Basis ist dringend nötig, der historische Verlust des zweiten Bundesratssitzes steht nämlich vor der Tür. «Nie gab es mehr zu tun», lautete einer der erfolgreichen Wahlsprüche der FDP in der deutschen Bundestagswahl. Auch in der Schweizer FDP gibt es viel zu tun, damit die liberale Basis wieder eine Partei hat, die ihr zuhört und sie vertritt. Ich bin gespannt, ob bei den nächsten nationalen Wahlen 2023 eine andere Einschätzung zum Leistungsprinzip und der Führungsweise der Partei gezogen werden kann. Für die FDP wäre es wohl langsam die letzte Chance zur Trendwende.