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Leistung statt Lotterie

Der Arbeitsmarkt sollte die Migration steuern, nicht der Staat. Das schafft Wohlstand und Chancengleichheit und verhindert viel menschliches Leid.

Fortschritt ist kein linearer Prozess. Wir neigen dazu, die vorherrschende Ordnung der Welt als das Resultat einer stetigen Entwicklung zu betrachten, die uns langsam, aber sicher weiterbringt. Entsprechend muss der Status quo aufgeklärter sein als alles, was zuvor war – er spiegelt den neusten Wissensstand. Doch Geschichte verläuft nicht geradlinig. Es gibt Ideen, die heute als zu progressiv bekämpft werden, zu früheren Zeiten aber als völlig selbstverständlich galten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Migrationspolitik der Schweiz, konkreter: die Personenfreizügigkeit.

Die Schweiz pflegte das heute umstrittene Regime bereits in ähnlicher Form mit der Gründung des Bundesstaates (1848) – wer eine Arbeit hatte, durfte sich niederlassen. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) setzte diesem liberalen, bis dahin selbstverständlichen Einwanderungsregime ein Ende. Fortan und für die nächsten knapp hundert Jahre sollte die Steuerung der Migration – die bislang zu hochqualifizierter Zuwanderung und wirtschaftlicher Prosperität geführt hatte – nicht mehr über den Arbeitsmarkt, sondern durch den Staat und die 1917 geschaffene Fremdenpolizei geregelt werden. Die Schweiz führte zuerst die Fremdarbeiterpolitik und dann die Kontingentierung ein. Diese planwirtschaftlichen Instrumente trugen statt zum Fortschritt zur Strukturerhaltung bei, denn sie fokussierten auf die Einwanderung niedrigqualifizierter und damit günstiger Arbeitskräfte. Erst mit der Abschaffung der Kontingente für EU/EFTA-Bürger im Zuge des Personenfreizügigkeitsabkommens 2007 kehrte die Schweiz teilweise zu ihrer liberalen Tradition zurück, die Migration über den Arbeitsmarkt zu steuern. Das Ganze entpuppte sich mit dem Ja zur Initiative gegen die Masseneinwanderung im Jahr 2014 allerdings als Strohfeuer. Damit steht die Öffnung des Arbeitsmarktes erneut zur Diskussion. Ab Anfang nächsten Jahres sollen Unternehmen freie Stellen bei den Behörden melden und Inländer bei der Besetzung Vorrang erhalten.

Damit machen wir wieder einen Schritt zurück – meines Erachtens in die falsche Richtung. Das Regime der Personenfreizügigkeit sollte nicht abgeschafft, sondern vielmehr gar eine Ausdehnung auf die heutigen Drittstaaten in Betracht gezogen werden. Personenfreizügigkeit schafft Chancengleichheit und – über unterschiedliche Kanäle – Wohlstand. Der Reihe nach.

Humankapital als Produktionsfaktor

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten viele europäische Länder den Pass oder die Passpflicht ein, die Schweiz im Jahr 1915. Seither sind diese kleinen Büchlein beziehungsweise die damit verbundene Herkunft zu einem der besten Indikatoren für die spätere Position eines Individuums in der globalen Einkommensverteilung geworden. Mit anderen Worten: mit welchem Pass wir zur Welt kommen, entscheidet über einen grossen Teil unseres finanziellen Schicksals. Der frühere Weltbankökonom Branko Milanovic hat 2011 berechnet, dass bei Geburt 60 Prozent des künftigen Einkommens alleine durch das Herkunftsland einer Person erklärt werden können. Berücksichtigt man zusätzlich weitere Charakteristika, die bereits bei der Geburt gegeben sind, wie etwa Einkommen der Eltern, Geschlecht oder Hautfarbe, bleibt für den einzelnen Menschen nur noch ein minimaler Spielraum, um sein Einkommen (im weltweiten Vergleich) aus eigener Kraft substanziell zu verbessern.

Diese Tatsache muss jeden liberal und meritokratisch denkenden Menschen stören. Schliesslich hat es niemand in der Hand, seine Nationalität vor der Geburt zu wählen. Es handelt sich quasi um eine Lotterie, bei der es unvermeidlich Gewinner und Verlierer gibt. Eine «Gewinnerin» oder ein «Gewinner» – Inhaber beispielsweise eines Schweizer Passes – wird in seinem Erwachsenenleben mit grösster Wahrscheinlichkeit mehr als die allermeisten Menschen auf der Welt verdienen. Selbst wenn sie zum einkommensschwächsten Teil der Bevölkerung gehört, verdient diese Person kaufkraftbereinigt immer noch mehr, als das Durchschnittseinkommen der obersten 10 Prozent im Kosovo beträgt.

Entsprechend verdient ein «Lucky Loser», also etwa jemand, der in Indien zum obersten Dezil der Einkommensverteilung gehört, durchschnittlich nur rund 15 Prozent des Schweizer Medianlohns1. Der junge Mann oder die junge Frau werden selbst bei herausragender Leistung fast chancenlos sein, in der weltweiten Einkommensverteilung weiter nach oben zu klettern. Es sei denn, sie haben die Möglichkeit zu migrieren – und ihre Leistungsfähigkeit durch freien Zugang zu einem ausländischen Arbeitsmarkt unter Beweis zu stellen. Es ist verständlich, dass der Gedanke von Leistung statt Lotterie bei vielen, die ein glückliches Los gezogen haben, wenig Sympathien geniesst. Aus Sicht der Chancengleichheit wäre ein solches System aber klar zu befürworten.

Diese Chancengleichheit hat auch noch einen weiteren Aspekt, wenn man nämlich Arbeit oder Humankapital als Produktionsfaktor betrachtet. Während Kapital, Güter oder Informationen heute international sehr mobil sind, bleibt dies dem Humankapital mit wenigen Ausnahmen vorenthalten. Auch in diesem Wettbewerb der Produktionsfaktoren also herrschen unfaire Bedingungen. Dadurch wird verhindert, dass Personen, die in ihr Humankapital investieren, den grösstmöglichen Gewinn daraus ziehen können. Es führt zu einer ineffizienten Verteilung der Produktionsfaktoren in der Weltwirtschaft – Stichwort «Fachkräftemangel» – und zu verzerrten Humankapitalinvestitionen. Auch hier könnte der freie Personenverkehr oder, um in der Terminologie zu bleiben, die internationale Allokation des Humankapitals über den Markt zu Chancengleichheit, fairem Wettbewerb und effizienteren Investitionsentscheiden führen. So zeigt sich, dass bereits das Wissen um die Möglichkeit zu migrieren den individuellen Entscheid über die Investition in Bildung positiv beeinflusst und so auch mehr Humankapital in den Herkunftsländern schafft.

Wohlstand dank, nicht trotz Freizügigkeit

Das Plädoyer für freien Personenverkehr auf Grundlage der Chancengleichheit nimmt eine sehr grundsätzliche und globale Sicht der Dinge ein. Doch mögliche Wohlstandseffekte der Freizügigkeit lassen sich sowohl global als auch national betrachten. Der visionäre Charakter einer Welt, in der sich jeder frei bewegen kann, bringt es mit sich, dass Schätzungen zu globalen Wohlstandseffekten mit vielen Unsicherheiten behaftet sind. Eine Literaturübersicht zum Thema2 zeigt denn auch, dass die Prognosen mit Zuwächsen zwischen 50 und 150 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts stark variieren. Eine grundsätzlich positive Wirkung aber stellen alle zitierten Studien fest, verbunden mit substanziellen Wanderungsbewegungen aus armen in reiche Länder. Aber bereits eine moderate Liberalisierung der Arbeitsmobilität und geringe Migrationsbewegungen sollen den Schätzungen zufolge Wohlstandsgewinne abwerfen, die jene einer Öffnung der Güter- und der Kapitalmärkte übersteigen.

In eine ähnliche Richtung deuten auch die Wohlstandseffekte im Zusammenhang mit der Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber den EU/EFTA-Staaten, deren Erforschung deutlich weniger spekulativ ist. Sie werden gleich an mehreren Stellen sichtbar. Migration verändert die Zusammensetzung der Bevölkerung hinsichtlich der Fähigkeiten- und Altersstruktur und beeinflusst die Konsumnachfrage, die Anzahl Unternehmen und das Güter- und Dienstleistungsangebot. Insgesamt wirken sich diese Verschiebungen über vier Kanäle auf den Wohlstand im Zuwanderungsland aus. Es sind dies Arbeitsmarkt-, Produktivitäts-, Fiskal- und Marktgrösseneffekte. Auf all diesen Ebenen hat die Schweiz dank der Personenfreizügigkeit gewonnen.

1. Eine Vielzahl von Studien hat sich mit den Arbeitsmarkteffekten auseinandergesetzt, also mit den Auswirkungen der Zuwanderung auf die Löhne und die Beschäftigung. Solche Effekte werden vor allem durch Unterschiede in den soziodemographischen Merkmalen von Alteingesessenen und Zugezogenen erzielt. Die Untersuchungen finden keine Anzeichen für eine negative Auswirkung auf die allgemeine Lohnentwicklung. Profitiert haben jedoch nicht alle im gleichen Masse von der Personenfreizügigkeit: So gibt es bei den hochqualifizierten und bei den tiefqualifizierten ausländischen Arbeitskräften Hinweise für ein gedämpftes Lohnwachstum, während gerade niedrigqualifizierte Schweizerinnen und Schweizer dank steigenden Reallöhnen profitiert haben. Verdrängungseffekte – etwa eine höhere Arbeitslosigkeit oder eine tiefere Erwerbsquote – sind bislang für Niedrigqualifizierte keine festgestellt worden, bei Mittel- und Hochqualifizierten sind diese Verdrängungseffekte sehr gering. Mit anderen Worten: der Arbeitsmarkt hat die Zuwanderer sofort geschluckt, weil er sie ja benötigt, und dies bei steigenden Löhnen und ohne breite negative Nebenwirkungen für die bislang Ansässigen. Der Grund für diese positiven Arbeitsmarkteffekte ist das mit der Personenfreizügigkeit stark angestiegene Qualifikationsniveau der Zugewanderten und deren Komplementarität zu den bereits ansässigen Arbeitnehmenden hinsichtlich ihrer Qualifikationen. Die oft geäusserte Befürchtung, wonach die Schweizer Löhne durch die Einwanderung gedrückt und Personen vom Arbeitsmarkt verdrängt würden, hat sich somit statistisch nicht bestätigt.

2. Produktivitätseffekte treten ein, wenn die Zuwanderer ein deutlich anderes Produktivitätsniveau aufweisen als die Ansässigen oder die neue Qualifikationsstruktur die Arbeitsnachfrage besser spiegelt. Es deutet einiges darauf hin, dass genau dies in der Schweiz geschehen ist. Insbesondere bei High-Tech-Firmen und Unternehmen, die zuvor Rekrutierungsschwierigkeiten bzw. bereits einen hohen Ausländeranteil hatten, hat die Personenfreizügigkeit zu mehr Produktivität geführt. Dies hängt mit der erwähnten Komplementarität der Zugewanderten zusammen. Durch ihren ergänzenden Charakter bilden die Zuwanderer und die inländischen Arbeitskräfte ein Ganzes, das grösser ist als die Summe seiner Teile. Ausserdem konnten durch die Abschaffung von Inländervorrang und Kontingentierung die Einstellungsentscheide wieder dort gefällt werden, wo die Informationen über die notwendige Qualifikation und die Komplementarität zur bisherigen Belegschaft vorhanden sind: in den Unternehmen – und nicht in den Migrationsämtern.

3. Bei den Fiskaleffekten der Zuwanderung werden einer Kosten-Nutzen-Analyse gleich die Steuern und Sozialabgaben, die von den Zugewanderten entrichtet werden, dem Konsum von öffentlichen Gütern und Sozialleistungen derselbigen gegenübergestellt. Diese Betrachtung ist eng mit der Frage verbunden, ob Personen in den Sozialstaat einwandern und von diesem netto mehr beziehen, als sie einzahlen. Für die Schweiz scheint die Bilanz der zwischen 2003 und 2009 eingewanderten Personen positiv zu sein; dies gilt im Besonderen für Personen aus dem EU/EFTA-Raum (vgl. auch den Artikel von George Sheldon hier).

4. Die wohl am schwierigsten fassbare und am stärksten unterschätzte Auswirkung der Migration auf den Wohlstand geschieht über sogenannte Marktgrösseneffekte. Wenn neue und mehr Menschen in ein Land ziehen, kann das die Wirtschaft stark ankurbeln. Die Zuwanderung schafft durch mehr Nachfrage neue Arbeitsplätze – das ist in der Schweiz geschehen, wie eine Untersuchung der Konjunkturforschungsstelle der ETH zeigte –, verändert die Konsumnachfrage und erhöht die Zahl der Unternehmen und der verfügbaren Produkte. Dieser letzte Punkt lässt sich anhand eines etwas überspitzten Beispiels illustrieren: In einer Schweizer Stadt hatte früher, wer sich verpflegen wollte, die Wahl zwischen ein paar Restaurants, die alle Bündner Gerstensuppe, Schwartenmagen und eine Berner Rösti auf der Speisekarte hatten. Ab 1950 brachten die italienischen Einwanderer nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Essgewohnheiten mit in die Schweiz. Ein findiger Pizzaiolo aus Neapel eröffnete 1954 in Zürich kurzerhand die erste Pizzeria der Schweiz, die laut einem NZZ-Artikel von 2015 mit der Frage «Kennen Sie Pizza?» auf Kundenfang ging. Zuerst nur von Landsleuten frequentiert, entdeckte nach einigem Zögern auch die Schweizer Kundschaft das neue kulinarische Angebot, das seither – wie so viele andere ausländische Gerichte – aus dem Ernährungsplan der Schweizer nicht mehr wegzudenken ist. Das Beispiel versinnbildlicht die wachsende Produktevielfalt, die durch Handel und gerade auch Migration entsteht und uns einen beträchtlichen Nutzen- und damit Wohlfahrtszuwachs verschafft.

Die Politik an der Realität ausrichten

Wenige Politikfelder sind auf nationaler Ebene so umstritten wie die Migrationspolitik. Dies, obschon uns zehn Jahre Personenfreizügigkeit doch eigentlich gezeigt haben, dass die Schweiz in wirtschaftlicher Sicht davon profitiert. Der dennoch anhaltende Widerstand gegen die Personenfreizügigkeit lässt sich teilweise mit kulturellem Misstrauen erklären. Vor allem aber sind viele Menschen fälschlicherweise davon überzeugt, Migration lasse sich politisch steuern oder gar verhindern. Doch auch das hat uns die Menschheitsgeschichte gelehrt: Menschen werden immer migrieren. Der Wunsch, sein Glück irgendwo anders auf dem Planeten zu versuchen, ist älter und stärker als jedes Staatengebilde. Man wird also selbst mit der restriktivsten Migrationspolitik Einwanderung nicht verhindern können, sondern sie wird lediglich mit viel höheren Kosten, mehr Leid und unnötiger Bürokratie und damit mit weniger positiven Auswirkungen verbunden sein. Statt legale Arbeitskräfte zu beschäftigen, schaffen wir einen Markt für illegale Einwanderung.

Dieser Realität sollte sich die Politik stellen. Wir müssen Arbeitsmigration als das sehen, was sie ist: ein Resultat von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Das gilt für die Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum ebenso wie für den Rest der Welt. Als sehr zu begrüssender Nebeneffekt würde dank legalen Migrationswegen auch das grosse menschliche Leid gemildert, das durch falschen staatlichen Aktionismus entsteht. Die Ressourcen, die heute für weitgedehnte und gefährliche Fluchtwege oder ein Leben im Untergrund verbraucht werden, könnten stattdessen in produktive Energie umgemünzt werden. Das Asylsystem wiederum würde derweil den wirklich Schutzbedürftigen, bei denen nicht die Arbeitsmarktmigration, sondern das Überleben im Vordergrund steht, vorbehalten sein. Und der zur Worthülse verkommenen «Chancengleichheit» könnte wieder neues Leben eingehaucht werden. Lernen wir also von unseren Vorfahren von 1848: Nutzen wir die Migration für die Schweiz und ihre wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Entwicklung – und gehen wir wieder vor statt zurück.


 

1 Die neusten öffentlich verfügbaren Daten stammen aus dem Jahr 2008. Die absoluten Unterschiede haben sich in der Zwischenzeit also verändert, die Grundaussage bleibt die dieselbe.
2 Michael A. Clemens: Economics and Emigration: Trillion-Dollar Bills on the Sidewalk? In: Journal of Economic Perspectives, 25 (3), 2011, S. 83–106. doi:10.1257/jep.25.3.8

 

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