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Leichenhaufen liegen auf den Höhen…

Henry Dunant, zitiert aus seinem Erlebnisbericht «Eine Erinnerung an Solferino»,
hrsg. vom Österreichischen Roten Kreuz, ins Deutsche übertragen von
Richard Tüngel, Neuauflage nach einer Originalausgabe von 1862, Wien 1997, S. 9ff.

«Durch ein Zusammentreffen besonderer Umstände hatte ich, als einfacher Tourist und diesem grossem Kampf völlig fernstehend, die einmalige Gelegenheit, den erschütternden Szenen beiwohnen zu können, die ich hier aufzeichnen will. Ich werde auf diesen Seiten nur meine persönlichen Eindrücke wiedergeben. Man darf hier weder genaue Einzelheiten noch strategische Aufschlüsse erwarten; die muss man in anderen Büchern suchen.

An jenem denkwürdigen 24. Juni [1859] standen sich mehr als dreihunderttausend Menschen gegenüber. Die Schlachtlinie hatte eine Ausdehnung von fünf Meilen, und es wurde fünfzehn Stunden lang gekämpft. Die österreichische Armee, die während der ganzen Nacht des 23. Juni die Mühsale eines schwierigen Marsches hatte ertragen müssen, war seit der Morgendämmerung heftigen Angriffen der verbündeten Armeen ausgesetzt. Sie litt unter der starken Hitze und ebenso unter Hunger und Durst, da die Truppen mit Ausnahme einer doppelten Ration Schnaps während des ganzen Freitags kaum irgendwelche Nahrung erhalten hatten. Die französischen Truppen, die seit Beginn der Dämmerung auf dem Marsch waren, hatten nichts anderes zu sich genommen als ihren Morgenkaffee. (…)

Französische Regimenter greifen in Schützenlinien die österreichischen Massen an, die immer neue Verstärkungen erhalten, immer zahlreicher und immer drohender werden und die, Mauern aus Eisen gleich, dem vorstürmenden Gegner Widerstand leisten.

Divisionen legen die Tornister ab, um den Feind besser mit dem Bajonett angreifen zu können. Ist ein Bataillon zurückgeworfen, wird es sofort durch ein neues ersetzt. Um jeden Hügel, jede Erhebung, jeden Felsvorsprung wird hartnäckig gekämpft. Leichenhaufen liegen auf den Höhen und in den Hohlwegen.

Es ist ein Kampf Mann gegen Mann, ein entsetzlicher, schrecklicher Kampf. Österreicher und Alliierte Soldaten treten sich gegenseitig unter die Füsse, machen einander mit Kolbenschlägen nieder, zerschmettern dem Gegner den Schädel, schlitzen ihm mit Säbel oder Bajonett den Bauch auf. Es gibt kein Pardon. Es ist ein allgemeines Schlachten, ein Kampf wilder, wütender, blutdürstiger Tiere. Selbst die Verwundeten verteidigen sich bis zum letzten Augenblick. Wer keine Waffen hat, packt den Gegner und zerfleischt ihm die Gurgel mit den Zähnen.

An anderer Stelle wütet ein ähnlicher Kampf. Er wird noch schrecklicher durch das Nahen einer Reiterschwadron, die im Galopp anstürmt. Die Pferde zertreten mit ihren beschlagenen Hufen Tote und Verwundete. Einem armen Blessierten wird die Kinnlade fortgerissen, einem anderen der Kopf eingeschlagen, einem dritten, den man hätte retten können, die Brust eingedrückt. In das Wiehern der Pferde mischen sich Verwünschungen, Wutschreie, Schmerz- und Verzweiflungsrufe. Den Reitern folgt in gestrecktem Lauf bespannte Artillerie. Sie bahnt sich ihren Weg über Tote und Verwundete, die auf dem Boden liegen. Gehirn spritzt aus den zerplatzenden Köpfen, Glieder werden gebrochen und zermalmt, Körper werden zu formlosen Massen. Die Erde wird buchstäblich mit Blut getränkt. Und die Ebene ist übersät mit unkenntlichen Resten von Menschen.»

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