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Leere Kirchen? Zu kleine Kirchen!

Immer mehr Menschen suchen ihre Religiosität abseits von Institutionen. Das führt zu einer Umnutzung kirchlicher Räume – und füllt diese.

 

Verkehrte Welt! Da lässt einerseits der Reformator Ulrich Zwingli vor 500 Jahren das Grossmünster von Altären, Schwalbenorgeln, lateinischen Chorgesängen leeren. Nichts soll die vertikale Achse zwischen Gott, der Menschen Recht spricht, und dem Beter, der um Recht bittet, unterbrechen. Die leere Kirche – Voraussetzung für eine Welt, die angesichts von Tod und Mordschlag in der Welt nicht verstummen darf. Der leere Raum – notwendig für die prophetische Kapuzinerpredigt über Lug und Trug, Missbrauch und Prunk in der Kirche. Der leere Chorraum – Hörsaal der Studierenden in Theologie und Humanismus, Brutstätte der ersten schweizerhochdeutschen Gesamtausgabe der Bibel, gedruckt vom Freund Zwinglis, Christoffel Froschauer. Das leere Grab der Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius – Schulzimmer für den Religions- und Konfirmandenunterricht mit uraltem Taufstein. Die ins Leere gebaute Kanzel mit den Hörenden unten um den von ihnen gewählten Sprechenden oben – zentralperspektivischer Resonanzraum der Verkündigung, in der sich unverfügbar und flüchtig das Wort von Gott im hörenden Ohr ereignet und im offenen Herzen einnistet. Der Staat entschied sich, unsicher, wie es ausgehen soll, – ach Gott – für diese leergefegte Kirche.

Und da strömen anderseits heutzutage Hunderttausende Menschen in das volle Grossmünster, voll von teuren Handys, voll von Vogelperspektiven vom Karlsturm, voller Stimmen, oszillierend zwischen innen und aussen. Die volle Kirche – Ergebnis einer Welt, die Menschen Burn-out macht, Leere ohne Saft und Kraft. Der volle Raum – notwendig für den seelsorgerlichen Zuspruch im Gemurmel der Leute: Ich höre dich, ich sehe dich, ich nehme dich wahr! Der mit den durch das Giacometti-Fenster gebrochenen Lichtstrahlen gefüllte Chorraum – Meditationsraum für Menschen mit christlichem, muslimischem, jüdischem, hinduistischem und buddhistischem Glauben genauso wie für bekennende Atheisten. Das mit Kerzen volle Taufbecken in der 12-Boten-Kapelle, dem Grabesort der Stadtheiligen – Beichtort für Christen aller Konfessionen. Spontane Gruppenbildungen vor den Fenstern, in der Krypta, beim Gebetsbuch, in der Kirchenbank, vor dem Kiosk – Kanzelorte multiperspektivischer Verkündigung, in der unverfügbar und flüchtig ein vibrierender Draht zwischen oben und unten entsteht, aussen und innen, sakral und profan. Die Menschen entscheiden sich, unsicher, was das soll, – mein Gott – für diese zu kleinen Kirchen!

Verkehrte Welt!

Im Augenblick erleben wir in Westeuropa eine dramatische Verschiebung der Nutzung von Kirchenräumen: weg vom kirchlich veranstalteten Gottesdienst am Sonntag hin zu individuell organisierten Besuchen an den Werktagen. Ist dies ein Indikator dafür, dass Menschen das, was sie als religiöse Praxis, spirituelle Erfahrung und frommes Gemüt bezeichnen, nicht mehr an die Institution der juristischen Grösse «Kirche» als öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaft binden? Ein Indiz dafür, dass das Interesse an der «Kirche» als Glaubensgemeinschaft Jesu Christi, die sich um das Wort Gottes und das Brot Jesu Christi versammelt, abnimmt? Die veröffentlichten Zahlen der Konfessionslosen weisen darauf hin, dass immer mehr Menschen ihre nicht mehr an die Konfession gebundene Religiosität selber beschreiben und selber im sakral empfundenen Kirchenraum, in der Synagoge, in Moscheen oder Tempeln erspüren, entdecken und erfahren wollen. Die «leeren Kirchen», in der Altstadt und im Quartier, verwandeln sich vor unser aller Augen zu begehrten Forschungslaboren postsäkularer Religiosität, die zwischen der Erinnerung an den Raum, in dem gebetet und gepredigt, gesungen und musiziert, geklagt und geweint, gelacht und geschwiegen wird, und der gegenwärtigen Erfahrung heisse Drähte in der Seele zu spannen vermag.

Stimmt das? Ist dies nicht schön herbeigeschrieben? Spiegelt sich darin nicht die verkehrte Pfarrersicht von dreissig Amtsjahren? Ist das Zürcher Grossmünster in dieser Hinsicht ein Sonderfall, nicht zu vergleichen mit all den anderen Kirchen, die keine Postkartenmotive (mehr) sind? Zu kleine Kirchen – Fake News mit Heiligenschein?

Wer besucht die Kirche – und warum?

Soeben erschienen die Resultate der soziologisch-theologischen Studien der empirischen Forschung in 12 Citykirchen in Europa, die einzig der Frage nachgehen: Warum geht jemand dahin? In Nürnberg, Hannover, Dresden, Bern, Basel und anderen Städten füllten Besucher entsprechende Fragebögen aus. Im Berliner Dom und im Zürcher Grossmünster waren gar Sozialforscher vor Ort, um nachzuspüren, was der Kirchenraum mit seinen Spuren und symbolischem Kapital als durchbeteter Raum und gebauter Text des biblischen Glaubens und der Aufsuchende miteinander erschaffen1. Zwei Ergebnisse lassen aufhorchen:

Einerseits sind die individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen an den Kirchenraum sehr gross. 68 Prozent der Befragten erwarten auf jeden Fall einen Raum für das Gebet, für die Stille oder für die persönliche Besinnung. Auch zur erwarteten Verkündigung der christlichen Botschaft bekennen sich 55 Prozent. Im gesellschaftlichen Bereich erwarten 66 Prozent der Befragten vom Kirchenraum, dass er für «Werte eintritt, die für das Zusammenleben wichtig» sind, 62 Prozent fordern sogar explizit, dass Citykirchen sich gegen Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit stark machen. Und schliesslich schreiben im sozialen Bereich 57 Prozent der an der Untersuchung Teilnehmenden den Kirchenräumen in der Altstadt zu, dass sie sich zusammen mit den Verantwortlichen um die Not der Menschen kümmern.

Anderseits kommen die meist anonymen Kirchenbesucher ans Licht und legen ihre Motivationen für die Kirche offen. Neben den erwarteten Besucherprofilen – der oberflächliche, der historisch und ästhetisch interessierte, der kirchlich verankerte, der religiös gebildete und der praktisch spirituelle Typ – führt die Studie ein spezielles Motiv an:

«Eine Frau aus der Schweiz. Sie sei heute hier, weil ihre Tochter in einer Zürcher Klinik operiert werde. Sie würde einfach so durch die Stadt laufen, bis ihre Tochter wieder auf dem Zimmer ist. Sie sei so durch die Innenstadt gelaufen und dann mehr oder weniger zufällig ins Grossmünster gekommen. Sie habe sich im Vorhinein nicht informiert und wisse auch nichts über die Kirche. Während des Gesprächs fiel ihr ein, dass dies doch die Kirche sei, wo für viele prominente Menschen eine Trauerfeier stattfindet. Sie sei einfach reingegangen und habe sich ein bisschen umgeschaut. Sie habe auch überlegt, ob sie sich hinsetzen soll, es aber dann nicht gemacht (lacht). Sie dachte sich, dass die Gottesdienste hier sehr schön sein müssen, es sei sehr schön und warm hier in der Kirche. Es habe etwas sehr Ruhiges hier und die Kirche sei so hoch. Auf Nachfrage kann die Frau keine Gründe für ihren Besuch des Grossmünsters angeben und beschreibt ihren Besuch als ungeplant und zufällig.»

Die grosse Umnutzung, eine «reformierte Tradition»

Genau diese – und ähnliche – Erfahrungen sind der Grund, warum es heute in der Schweiz fast keine geschlossenen Kirchenräume mehr gibt, dass auch am Sonntag leerstehende Kirchen ihr grosses Potenzial in sich tragen, umgenutzt zu werden zu Schutz- und Gasträumen, zum Segensraum für Menschen, die Kirchen aufsuchen und sich wundern, dass sie anders hinausgehen, als sie hereingekommen sind. Klar ist: In der visionären und mitunter frechen Art, in Kirchenarchitektur einzugreifen, sind die Reformierten seit 500 Jahren Meisterinnen und Meister – vor allem in der Schweiz. Katharina von Zimmern hat als oberste Zürcherin den Schlüssel ihres Fraumünsterklosters dem Bürgermeister der Stadt zurückgegeben, dem Frieden und der sozialen Verantwortung der Stadt zuliebe. Ulrich Zwingli liess das Predigerkloster zum Stadtspital umbauen, daran anschliessend die erste Stadtküche für die Armen.

Und heute? Was hindert uns, leere Kirchen so zu nutzen, dass sie voll werden mit erwartungsfrohen Besuchern und spontan Suchenden? Waren Sie schon einmal in der Blinden Kuh in Zürich? In diesem Restaurant erwartet Sie Nahrung spezieller Art: Da ist der Gast, draussen sieht er alles, drinnen ist er blind für alles – es ist stockdunkel. Der Duft von Zürigschnetzlets und Röschti findet seine Nase, er sucht Gabel und Messer, das gefüllte Glas findet nicht gleich zum Mund. Die Serviceangestellten sind draussen blind, hier aber, in der Finsternis, sehen sie. Musik für einen Gast, Musik in seinen Ohren und Wohltat für seinen Magen. Der Besuch in der «Blinden Kuh» ist nicht nur einer, der Magen und Geist gleichermassen nährt, sondern auch der Besuch in einer Kirche, in einer methodistischen mithin. Er lohnt sich, das hat sich längst herumgesprochen, und die Voranmeldung ist bitter nötig – oh Gott, zu kleine Kirche!

Blinde sehen, und Sehende erblinden: Niemand muss hungrig, jedoch fast jeder und jede muss verkleckert vom Tisch gehen. Keiner flucht, aber alle lachen. Diese besondere Sehschule diakonisch-sozialer Umnutzung von Kirchen öffnet die Augen dreifach: Erstens sind Kirchen neben Räumen der Gotteserkenntnis von Verkündigung und Liturgie auch Offenbarungsorte der Selbsterkenntnis von Ruhe und Kontemplation. Zweitens zeugen Kirchen davon, dass die Logik der Ökonomie, die öffentliche Orte der Ruhe wie Parks und GZs privatisiert und kapitalisiert, nicht allein selig macht: Im Geld liegt soziales Kapital, es ist diakonisch zu «waschen» – das weiss jede blinde Kuh. Drittens ist dieses soziale Kapital, eingelagert in den Kirchen seit Jahrtausenden, in Zukunft noch viel mehr freizulegen – in leeren wie in zu kleinen. Nicht nur Frauen aus der Schweiz brauchen es dringend, ungeplant und zufällig, sondern auch Politik und Wirtschaft – denn mit solchen Kirchen lässt sich Staat machen.

  1. Vgl. Hilke Rebenstorf, Christopher Zarnow, Anna Körs und Christoph Sigrist (Hrsg.): Citykirchen und Tourismus. Soziologisch-theologische Studien zwischen Berlin und Zürich. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2018.

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