Lebendiges Erinnern
Simone Müller: Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts. Zürich: Limmat, 2022.
In den 1930er- und 1940er-Jahren verkauften Schweizer den Nazis Waffen, versteckten ihr Raubgold mitsamt Devisen und schlossen die Grenzen. Zugleich ermöglichte die Eidgenossenschaft jedoch auch vielen Menschen die Flucht oder bot ihnen eine Bleibe. Diese Gemengelage dürfte lange den Blick dafür verstellt haben, dass die Schweiz nicht nur ein Aufnahmeland für Verfolgte des Nationalsozialismus war, sondern manchen von diesen nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch zur neuen Heimat wurde.
Simone Müllers im Limmat-Verlag erschienener Porträtband «Bevor Erinnerung Geschichte wird» widmet sich den Biografien jener, die in jungen Jahren notgedrungen in die Schweiz kamen und geblieben sind. Persönliche Treffen, wohl gewählte Aufnahmen der Fotografin Annette Boutellier, bei den Zeitzeugen eingesehenes Material und Kenntnisse des aktuellen Forschungsstands verschaffen den hier versammelten Lebenswegen von 14 Jüdinnen und Juden und einer Zeugin Jehovas eine ungeheure Plastizität. Aus zehn verschiedenen Herkunftsländern stammend, erlebten sie als Kinder oder Jugendliche den Terror des Nationalsozialismus. Lange galt ihr Zeugnis alleine deshalb als nicht objektivierbar oder dokumentierungswürdig.
Diesen Irrtum widerlegen Müllers zugängliche Porträts. Sie vermitteln der Nachwelt, was es bedeutet, den zivilisatorischen Zusammenbruch erlebt zu haben, den NS-Deutschland und seine Kollaborateure in Europa herbeigeführt hatten. Sachlich wie emotional verdeutlichen sie zudem, warum nach wie vor die Pflicht besteht, jene Ära aufzuarbeiten und den bisweilen heute noch wirksamen Versatzstücken ihrer leitenden Ideologien entgegenzuwirken.
Die Stärke des Bandes liegt jedoch vor allem darin, ein lebendiges Stück Schweizer Historie des 20. Jahrhunderts zugänglich gemacht zu haben. «Bevor Erinnerung Geschichte wird» ist deshalb nicht nur Fachexperten zu empfehlen, sondern allen, denen es bislang an einem empathischen Zugang zu diesem Kapitel der jüngeren eidgenössischen Vergangenheit gefehlt hat.