Leave the Party – ökonomische Ideen zum Vergessen
An manchen Ideen hängen wir wie an liebgewonnenen Dingen. Nostalgie hat aber in der Wissenschaft nichts zu suchen.
Vor kurzem erzählte mir ein Freund folgende Begebenheit: Überraschend war er zum fünfzigsten Geburtstag eines Schulfreundes eingeladen worden. Er hatte diesen in den letzten Jahren nur noch sporadisch gesehen und wusste kaum etwas über dessen Lebensumstände – ausser dass er Kinder hatte und nicht sonderlich glücklich verheiratet war. Dennoch nahm er die Einladung umstandslos an. Aus Nostalgie und dem Gefühl einer gewissen sozialen Verpflichtung heraus.
An besagter Feier sass mein Freund an einem langen Holztisch in Langenbruck, mit Leuten, die er nicht kannte. Eben hatte er einen Nüsslisalat mit in Öl schwimmenden Croûtons gegessen, da zeigten die Kinder eine Bilderschau ihres Vaters in diversen peinlichen Posen aus vergangenen Jahren. Nach dem Auftritt der Kinder gab es Bœuf bourguignon. Es erinnerte ihn an Gulasch im Skilager in Saanenmöser in der 3. Primarschulklasse. Auch der Pinot noir half ihm nicht über die Sozialagonie hinweg.
Hätte mein Freund vor der Einladung das Buch «The Undoing Project» von Michael Lewis gelesen, ihm wäre die Pein womöglich erspart geblieben. Lewis erzählt darin die Doppelbiographie des kongenialen Paares Amos Tversky und Daniel Kahneman. Die zwei Verhaltenspsychologen haben pionierhaft herausgearbeitet, wo die Irrationalitäten unseres Seins sitzen. Für meinen Freund besonders hilfreich gewesen wären die Stellen, an denen Lewis die Lebensregeln Tverskys beschreibt. Sie zielen nämlich darauf ab, Sozialpein möglichst zu minimieren: «Falls irgendetwas von dir verlangt wird – Teilnahme an einer Party, Halten einer Rede, den Finger zu heben –, sag niemals sofort zu, auch wenn du sicher bist, dass du es tun willst. Es ist überraschend, wie viele der Einladungen du am nächsten Tag ablehnst», wird Tversky zitiert. Da lag der erste Fehler meines Freundes: die spontane Zusage. Ähnlich ging Tversky mit langweiligen Sitzungen oder eben grotesken Geburtstagsfeiern um – er stand auf und verliess den Raum, wenn es zu schlimm wurde. Sein Ratschlag: «Fang an zu laufen und du wirst selbst überrascht sein, wie kreativ du bist und wie schnell du die Worte für eine Entschuldigung findest», zitiert ihn Lewis. Der zweite Fehler meines Freundes: zu bleiben.
Die Concorde-Falle
Nicht jeder kann sich ein derartiges Verhalten erlauben und nicht alle Sozialkonstellationen lassen es auch zu. Bei einem quälend-langweiligen Rendezvous aufzustehen und zu gehen, wäre möglicherweise konsequent, aber brüskierend. Und einem blitzgescheit-charmanten Wissenschafter wie Tversky lässt man es eher durchgehen, wenn er mit einer fadenscheinigen Entschuldigung eine Geburtstagsfeier verlässt. Doch wieso folgen wir der Tversky-Anregung des «Verlass die Party sofort, wenn sie dich langweilt!» auch sonst so selten?
Eine Erklärung könnte das vom Spieltheoretiker László Mérö als «Concorde-Falle» bezeichnete Dilemma sein, das sich bei vielen Grossprojekten beobachten lässt (zuletzt beim Berliner Flughafenprojekt): In die Entwicklung des Überschallflugzeugs Concorde investierten die britische und die französische Regierung derart viel, dass ein Ausstieg von allen Beteiligten nach einer gewissen Zeit als nicht mehr gangbar erachtet wurde – obschon die Kosten durch alle Decken gingen. Zusätzlich erklärten die beiden Regierungen das Flugzeug zu einem Prestigeobjekt, so dass ein Scheitern auch zu einer staatlichen Blamage geworden wäre. Die Concorde ging 1976 an den Start, setzte sich aber als Linienflugzeug nie durch; am 24. Oktober 2003 absolvierte sie ihren letzten Flug. Die falsche Logik hinter dem finanziellen Wahnsinnsprojekt: man hat bereits so viel investiert, dass man der Meinung ist, das Projekt müsse fortgesetzt werden. Dass dabei die Kosten munter weiter steigen, wird ignoriert.
Besagte Geburtstagsfeier war für meinen Freund eine Concorde-Falle im Kleinen: Er hatte die Reise nach Langenbruck auf sich genommen, zuvor ein Geschenk gekauft, den Nüsslisalat gegessen, also blieb er. Die wenigsten von uns sind vor der Concorde-Falle gefeit: Wir pflegen Beziehungen, derer wir überdrüssig geworden sind, oder lesen Bücher zu Ende, die uns langweilen.
Vergleichbares lässt sich auch über die Hartnäckigkeit, mit der wir liebgewonnene Theorien und Ideen verfolgen, sagen. Wir hängen an ihnen, weil wir bereits sehr viel Zeit in sie investiert haben oder sie uns als Erklärungsansatz eine gewisse Zeit nützlich waren, auch wenn sie längst obsolet geworden sind. Wir richten uns in unseren Lebensideologien ein und übergehen ihnen widersprechende Evidenz aus Forschung oder Alltag. Nicht nur Individuen, auch ganze Gruppen sind davon betroffen. Die Ökonomik, meine Profession, scheint hier keine Ausnahme zu sein, wobei es zu unterscheiden gilt zwischen den Theorien, die der Ökonomik von aussen zugeschrieben werden, und jenen Theorien, die innerhalb des Fachs gelten.
Die Öffentlichkeit hat teilweise krude Vorstellungen davon, was in der Ökonomik erforscht wird. Es fängt bei der Wortbezeichnung an: Ökonomik ist die Wissenschaft, die Ökonomie die gesamte Wirtschaft. Die Ökonomik ist negativ konnotiert, gilt als langweilig und habe mit dem sogenannten richtigen Leben wenig zu tun, lauten gängige Vorwürfe. Den Ökonomen wird vorgeworfen, ihre Prognosen taugten nichts, von den Menschen in ihrem Sozialverhalten hätten sie keine Ahnung, sie dächten in Kategorien, die niemanden interessierten – z.B. in Zinssätzen, Deflation, Staatsanleihen, Risikopapieren etc. Ökonomen seien gar «Antihumanisten», war kürzlich im Hinblick auf die Auseinandersetzung zwischen Griechenland und seinen internationalen Geldgebern (und ihren ökonomischen Beratern) zu lesen. Hier wird die folgenschwere Vermengung von sehr unterschiedlichen Kategorien bei der populären Bewertung der Ökonomik besonders deutlich: nicht selten wird dabei versucht, wirtschaftliche Transaktionen, «den Kapitalismus», sowie die Funktion von Ökonomen gleichzeitig zu diskreditieren.
Viele Ökonominnen und Ökonomen beschäftigen sich aber mit durchaus realen Gegenwartsproblemen, so auch an meinem Institut, der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Um einige Beispiele für unsere Forschungsfelder zu nennen: Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, Auswirkungen der Unternehmenssteuerreform, Auswirkungen der Globalisierung auf die Einkommensverteilung, Abschätzung der Preisentwicklung in der Schweiz, Wirkungsschätzung von Unsicherheit auf Unternehmen, Medieneinfluss auf Unternehmen. Alles relevante Fragen, die man selbstverständlich auch mit dem eigenen Bauchgefühl (Daniel Kahneman nennt das «System 1») beantworten darf, bei denen aber etwas Analyse («System 2») alles andere als schadet.
Ökonomische Ideen für den Mülleimer
So viel zur Aussenwelt. Wie steht es um die Innenwelt? Auch unter Ökonomen schwirren liebgewonnene Konzepte umher, die entweder theoretisch obsolet oder empirisch widerlegt wurden. Hierzu drei Beispiele. Fangen wir bei den Begrifflichkeiten an, und zwar mit einem stark aufgeladenen Terminus: dem Kapitalismus. Für viele Probleme, die uns etwas angehen – z.B. wie viel Wohlstand und soziale Mobilität eine Gesellschaft ermöglicht –, ist die Frage, ob sich etwas de jure in privatem Besitz (als einfache Einteilung in ein kapitalistisches oder nichtkapitalistisches System) befindet oder nicht, irrelevant. Viel wichtiger ist die Diskussion der Strukturen, wie und auf welche – privaten oder staatlichen – Anreize Menschen reagieren, was ihnen eine Integration in den Arbeitsmarkt erleichtert und wie die Ausgestaltung der damit verbundenen Institutionen aussehen sollte.
Von den Begriffen zu den Daten und zu einer Grösse, die im Zentrum der ökonomischen Debatten steht: das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Einerseits suggeriert die Messung des Bruttoinlandsprodukts, dass die Wirtschaftsleistung eines Landes exakt gemessen werden kann. Doch gemessen werden kann nur das, was einen Preis hat, wie z.B. die pro Jahr verkauften Schweizer Uhren. Ein steigendes (oder sinkendes) BIP sagt zudem wenig darüber hinaus, welche Art von Wachstum wir haben, wie dieses verteilt ist oder welche Sektoren dazu beitragen. So war in den letzten Jahren das Wachstum des BIP in der Schweiz zu einem grossen Teil auf die Zunahme im Handel zurückzuführen. Ohne den Wachstumsbeitrag dieses Wirtschaftsabschnitts mit 0,8 Prozentpunkten wäre beispielsweise im Jahr 2015 ein Nullwachstum ausgewiesen worden. Der Handel ist ein wichtiger Wirtschaftszweig und gehört mit 650 000 Beschäftigten zu den für den Arbeitsmarkt wichtigsten Branchen. Allerdings war das Wachstum im Jahr 2015 im wesentlichen auf eine Untergruppe des Grosshandels, den sogenannten Transithandel, zurückzuführen. Der Transithandel findet physisch nicht in der Schweiz statt, es werden Waren im Ausland gekauft und verkauft, die Gegenparteien befinden sich jeweils im Ausland. Lediglich die Kauf- und Verkaufsentscheide sowie der Einkauf von damit verbundenen Dienstleistungen wie Transporten, Finanzierungen und Versicherungen werden von der Schweiz aus getätigt. Statistisch wird der Zweig aber trotzdem hierzulande erfasst. Die Anzahl Arbeitsplätze in diesem Sektor ist gering und liegt in der Grössenordnung von 0,3 Prozent der gesamten Beschäftigung in der Schweiz. Der Anteil an der Wertschöpfung ist mit knapp 4 Prozent aber ungleich grösser.
Ein drittes Beispiel, das angesichts der laufenden Boni-Diskussion in der Schweiz eine aktuelle Relevanz aufweist, betrifft den Zusammenhang zwischen variabler Bezahlung und Leistung. Die Idee, dass ein CEO aufgrund seines Talents – weil er den entscheidenden kleinen Unterschied macht – so hohe Saläre einstreicht, ist ein Märchen. Das liegt insbesondere am Auswahlprozess der möglichen CEO-Kandidaten, der in einer Firma in Mikroprozessen vor sich geht. Dieser Prozess ist oft verzerrt und weit davon entfernt, Talent perfekt abzubilden. Es geht um Beziehungen, Seilschaften, simpel messbare Ziele. Sicherlich ist nicht jeder zum CEO geboren, aber wer von den 5 bis 10 Prozent fähigen Kandidaten schliesslich zum CEO einer grossen Firma wird, hat viel mit Zufall oder den eben beschriebenen Vorprozessen zu tun. Zudem ist auch die Annahme, dass die Bezahlung von Leistung die Leistung insgesamt erhöhe, strittig. Extrinsische Motivation via Bezahlung kann die intrinsische Motivation verdrängen und einen bestimmten Typus Mensch anziehen, der das Bezahlungssystem, das auf extrinsischen Anreizen basiert, verinnerlicht hat. Entsprechend sollten wir uns von variablen Salären wie Boni verabschieden.
Zuletzt lässt sich anfügen, dass Ökonomen zu viel Gewicht auf absolute Grössen legen. Sie übergehen wider besseres Wissen die Tatsache, dass der Mensch ein relatives Tier ist, das in seinem Tun stark von seinen Mitmenschen und seiner Umwelt geprägt ist. Theorien, die absolute Ansprüche formulieren, etwa dass uns aufgrund der Automatisierung und Digitalisierung in Zukunft die Arbeit ausgehe oder dass das absolute Niveau des Einkommens wichtig sei, haben keinen Platz in einer Wissenschaft, die Sozialbeziehungen untersucht. Zudem täte der Ökonomik eine ideengeschichtliche oder gar philosophische Auseinandersetzung mit ihren Grundlagen nicht schlecht. Was ist das Menschenbild hinter den ökonomischen Theorien? Gibt es überhaupt eine ökonomische Theorie oder müsste man hier nicht auf die Philosophie oder Anthropologie zurückgreifen?
Kurzum: die Ökonomik ist kein gottgegebenes Instrumentarium, sondern eine Sozialwissenschaft, der es gut ansteht, ihre Grundlagen laufend zu überdenken. Das ist kein Zeichen von Schwäche einer Wissenschaft, im Gegenteil: Manchmal sollten auch Ökonomen eine Party rechtzeitig verlassen.