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Lasst mich rein und ich mache euch reich

Offene Grenzen sind nicht nur wirtschaftlich vorteilhaft für Einheimische und Einwanderer, sondern auch moralisch gerecht. Negative Nebenwirkungen können ohne Einschränkung der Freiheit bewältigt werden.

Lasst mich rein und ich mache euch reich
Migranten an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, 2019. Bild: iStock.

Read the English version here.

Ich wurde 1973 in der Sowjetunion geboren. Das Leben der meisten Bewohner dieses totalitären Staates war von Armut und Unterdrückung geprägt. Mehrere meiner Verwandten waren Opfer der repressiven Politik der Regierung geworden. Darüber hinaus spürten sie als Juden oft die Last des institutionalisierten Antisemitismus des Regimes. Ich wurde von all dem befreit, weil meine Eltern und ich 1979 die UdSSR in Richtung USA verlassen konnten. Ich bin daher in einer weitaus besseren Lage als meine Altersgenossen, die in Russland geblieben sind. Aber praktisch der gesamte Unterschied zwischen meinem Leben und ihrem ist das Ergebnis des Unterschieds zwischen amerikanischen und russischen Institutionen, nicht mein Verdienst. Wäre ich in Russland geblieben, lebte ich wahrscheinlich immer noch in Armut und wäre vielleicht Opfer von Wladimir Putins repressiver Politik oder in seinen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine verwickelt worden. Mein Leben ist nur eines von vielen, die sich durch Migration zum Besseren gewendet haben. Mehr Menschen sollten die gleiche Chance haben.

Die Idee der Migration mit «offenen Grenzen» mag unglaublich radikal erscheinen. Die meisten Menschen halten es für selbstverständlich, dass Regierungen das Recht haben, die Einwanderung zu beschränken. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass eine Politik der «offenen Grenzen» eine natürliche Folge der liberalen demokratischen Ideale von Freiheit und Gleichheit ist. Darüber hinaus hat die Einwanderung enorme positive Auswirkungen sowohl für die Einheimischen als auch für die Einwanderer selbst. Migrationsbewegungen können negative Begleiterscheinungen haben. Die meisten davon lassen sich jedoch durch Lösungen bewältigen, die keine Migrationsbeschränkungen erfordern.

Heutzutage verabscheuen praktisch alle das System des mittelalterlichen Feudalismus, in dem sich Adlige frei bewegen konnten, Leibeigene jedoch nur mit Erlaubnis ihres Herrn umziehen durften. Wir verurteilen in ähnlicher Weise die rassische und ethnische Segregation, wie sie durch die Apartheid in Südafrika auferlegt wurde, oder die Segregation der Schwarzen in vielen Teilen der Vereinigten Staaten während eines Grossteils ihrer Geschichte. Wir betrachten Rasse, ethnische Zugehörigkeit und die Geburt als Leibeigener als willkürliche Merkmale, über die Menschen keine Kontrolle haben. Daher sollten sie keine Grundlage für die Einschränkung der Freiheit von Menschen sein und nicht bestimmen, wo sie leben und arbeiten dürfen.

Einwanderungsbeschränkungen verursachen eine ähnliche Art von Ungerechtigkeit. Auch sie schränken die Freiheit von Menschen ein, basierend darauf, wer ihre Eltern waren oder wo sie geboren wurden. Wer Sohn oder Tochter eines US-Bürgers ist oder in den USA geboren wurde, kann dort frei leben und arbeiten. Alle anderen dürfen dies nur mit Genehmigung des Staats, die in den meisten Fällen verweigert wird. Die meisten europäischen Nationen haben ähnliche Richtlinien.

Massiver Produktivitätsgewinn

Viele Einwanderungsbeschränkungen wurden und werden ausdrücklich mit rassistischen und ethnischen Begründungen gerechtfertigt. Historische Beispiele sind die Diskriminierung asiatischer Einwanderer in Amerika und die «White Australia»-Politik. Heute zielen rechtsnationalistische Migrationsgegner in Europa und den USA oft ausdrücklich auf die Ausgrenzung nichtweisser Migranten aus Asien und Afrika ab.

Aber auch rassisch neutrale Einwanderungsbeschränkungen weisen ähnliche Mängel auf. Wie Rasse und Ethnizität sind Abstammung und Geburtsort moralisch willkürliche Merkmale, auf die Menschen keinen Einfluss haben. Sie sollten nicht darüber bestimmen, wo man leben und arbeiten darf. Die mittelalterliche Leibeigenschaft war ebenfalls rassisch neutral. Die meisten Leibeigenen gehörten derselben Rasse und ethnischen Gruppe an wie die Adligen. Das machte das System nicht weniger ungerecht.

Die Ungerechtigkeit ist besonders gross, wenn wir bedenken, dass Einwanderungsbeschränkungen Menschen oft zu ­einem Leben in Armut und Unterdrückung verdammen. Man denke an Migranten, die unterdrückerischen Regimen wie ­denen in China, Kuba, Russland und Venezuela nicht entkommen können, oder an Syrer und Jemeniten, die vor Krieg und Massenmord fliehen.

Migranten sind nicht die einzigen Opfer von Einwanderungsbeschränkungen. Auch die gebürtigen Einwohner der Aufnahmeländer leiden darunter. Ökonomen schätzen, dass sich das weltweite Bruttoinlandsprodukt verdoppeln würde, wenn Einwanderungsbeschränkungen weltweit abgeschafft würden. Das liegt daran, dass Millionen von Menschen in Ländern gefangen sind, in denen sie kaum oder gar keine Chance haben, der Armut zu entkommen, egal wie talentiert sie sein mögen. Wenn sie die Möglichkeit hätten, in freiere und wohlhabendere Gesellschaften wie die USA oder Europa zu ziehen, könnten sie wesentlich produktiver werden. Viele der Vorteile dieses Produktivitätsgewinns würden sowohl den Einheimischen als auch den Einwanderern zugutekommen.

Daten aus den USA und Europa zeigen auch, dass Migranten überproportional zu Innovation und Unternehmertum beitragen. Im Durchschnitt ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie neue Unternehmen gründen und neue Technologien entwickeln, höher als bei Einheimischen. Davon profitieren natürlich auch die Einheimischen. So spielten beispielsweise Einwanderer und Kinder von Einwanderern aus armen Ländern eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der ersten beiden erfolgreichen Covid-19-Impfstoffe (Pfizer und Moderna). Dadurch retteten sie Millionen von Menschenleben (darunter auch viele in Amerika und Europa geborene Amerikaner und Europäer). Indem sie Menschen fernhalten, die ähnliche Durchbrüche erzielen würden, wenn sie die Chance dazu hätten, führen Einwanderungsbeschränkungen zu massivem, unnötigem Leid, Tod und Krankheit.

Wem «gehört» ein Land?

Ein gängiger Einwand gegen das Recht auf Migration ist, dass die einheimische Bevölkerung innerhalb eines Hoheitsgebiets ein Recht auf Selbstbestimmung habe, das sie dazu berechtige, Migranten fernzuhalten. Die vielleicht häufigste Rechtfertigung für die Befugnis, die Einwanderung zu beschränken, basiert auf den Rechten bestimmter ethnischer oder kultureller Gruppen. So heisst es, Frankreich sei das rechtmässige Eigentum der Franzosen, Deutschland der Deutschen und so weiter.

Wie bereits erwähnt ist eine solche ethnische Diskriminierung aus den gleichen Gründen ungerecht wie die innerstaatliche rassische und ethnische Segregation: Beide schränken die Freiheit und die Möglichkeiten aufgrund moralisch willkürlicher Merkmale ein, auf die Menschen keinen Einfluss haben.

Ein weiteres Problem bei der Begründung von Einschränkungen durch Selbstbestimmung besteht darin, zu bestimmen, welche Gruppe das «Recht» hat, welches Gebiet zu kontrollieren. Vielleicht entstehen solche Rechte, wenn eine Gruppe zuvor unbewohntes Gebiet erobert und es dann entwickelt hat, ohne andere gewaltsam zu vertreiben. Aber wenn dem so ist, kann praktisch keine Regierung ein solches Recht für sich beanspruchen, da fast alle das Ergebnis wiederholter Eroberungen und Zwang sind und die meisten über Gebiete herrschen, die von mehreren ethnischen Gruppen besetzt sind, nicht nur von einer. Wer sind die wahren einheimischen «Eigentümer» Grossbritanniens? Die Normannen, die das Gebiet nach 1066 von den Angelsachsen eroberten? Die Angelsachsen, die zuvor verschiedene dort lebende Stämme bezwungen hatten? Es gibt keine gute Antwort.

Zusätzlich zu den Gruppenrechten, die Staaten das Recht einräumen, Migranten auszuschliessen, gibt es auch Theorien, die den Nationalstaat mit einem Privathaus oder einem Club vergleichen. Wenn ein Hausbesitzer das Recht hat, Aussenstehende von seinem Grundstück fernzuhalten, so die Argumentation, soll auch eine nationale Regierung die Macht haben, Mi­granten auszuschliessen.

Die Analogie zum Haus weist jedoch schwerwiegende Mängel auf. Sie appelliert an die Eigentumsrechte. Tatsächlich untergräbt sie aber das Privateigentum. Einwanderungsbeschränkungen schützen keineswegs die Eigentumsrechte, sondern ­heben die Rechte von Eigentümern auf, die ihr Eigentum an Mi­granten vermieten, mit ihnen in Kontakt treten oder sie auf ­ihrem Land beschäftigen möchten.

Wenn man die Hausanalogie ernst nimmt, hat sie sowohl für Einheimische als auch für Migranten totalitäre Auswirkungen. Wenn ein Staat die gleichen Befugnisse über Land hat wie ein Hausbesitzer über sein Haus, dann erhält er weitreichende Befugnisse, Reden und Religionen zu unterdrücken, die den Herrschern missfallen. Ein Hausbesitzer hat beispielsweise das Recht, vorzuschreiben, dass in seinem Haus nur muslimische Gebete erlaubt sind oder dass innerhalb seiner Mauern nur linke politische Reden toleriert werden.

Ähnliche Probleme treten bei Versuchen auf, Migrationsbeschränkungen auf der Grundlage der vermeintlichen Rechte demokratischer Mehrheiten zu rechtfertigen. Wenn es solchen Mehrheiten jedoch nicht gestattet ist, die interne Bewegungsfreiheit aufgrund von Abstammung und Geburtsort einzuschränken, warum sollte es ihnen dann erlaubt sein, ähnliche Beschränkungen für die internationale Migration aufzuerlegen? Wenn die Antwort ihre vermeintlichen Eigentumsrechte an Land sind, dann muss erklärt werden, wie sie diese Rechte erworben haben (angesichts der Eroberungsgeschichte, die hinter der Bildung fast aller Staaten steht). Ausserdem kann man gegen einen solchen Anspruch auf umfassende kollektive Eigentumsrechte dieselben Einwände vorbringen wie bei der Hausanalogie.

Naheliegende Lösungen

Selbst wenn es kein allgemeines Recht auf Ausschluss gibt, sind Regierungen vielleicht dennoch berechtigt, die Migration einzuschränken, um bestimmte negative Nebeneffekte zu verhindern, wie zum Beispiel die Überlastung des Wohlfahrtsstaates, die Zunahme von Kriminalität und Terrorismus und die Untergrabung der politischen Institutionen eines Landes durch neue Bürger, die für eine schädliche Politik stimmen. Solche Pro­bleme sollten wir in drei Schritten angehen.

Erstens sollten wir uns fragen, ob das Problem überhaupt existiert. Viele der Standardargumente gegen offene Grenzen sind deutlich übertrieben. Wenn es von Anfang an kaum oder gar kein Problem gibt, besteht keine Notwendigkeit, Migranten auszuschliessen, um es zu «lösen». Zum Beispiel zeigt die Evidenz aus den USA und den meisten anderen OECD-Ländern, dass die meisten Migranten tatsächlich mehr zum öffentlichen Haushalt beitragen, als sie in Anspruch nehmen. Gemäss Daten des Congressional Budget Office der USA wird die seit 2021 gestiegene Migration das Defizit des Bundeshaushalts in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich um etwa eine Billion Dollar senken.

Zweitens: Wenn Migration echte Probleme verursacht, ist es oft möglich, diese durch sinnvolle Lösungen zu bewältigen, ohne Migranten auszuschliessen. Wenn Einwanderer beispielsweise den Wohlfahrtsstaat wirklich überlasten, besteht die naheliegende Lösung darin, ihren Anspruch auf Sozialleistungen einzuschränken, wie es in vielen Ländern bereits der Fall ist. Wenn wir Angst davor haben, dass Einwanderer wählen und für eine schlechte Politik stimmen, können wir den Anspruch auf das Wahlrecht aufschieben. In den USA ist es legalen Einwanderern bereits untersagt, Staatsbürger mit Wahlrecht zu werden, bis fünf Jahre vergangen sind, und sie müssen einen Staatsbürgerkundetest bestehen, bei dem die meisten Amerikaner durchfallen würden. Es gibt ähnliche Lösungen für eine Vielzahl anderer möglicher Probleme.

Drittens schliesslich sollten politische Entscheidungsträger, wenn solche Lösungen nicht ausreichen, in Betracht ziehen, den enormen Wohlstand, der durch die verstärkte Migration geschaffen wird, zu nutzen, um negative Nebenwirkungen zu mildern, die auf andere Weise nicht angegangen werden können. Wenn beispielsweise (entgegen den meisten verfügbaren Untersuchungen) die Einwanderung die Kriminalitätsrate erhöht, können wir einen Teil des von Migranten geschaffenen Wohlstands nutzen, um die Zahl der Polizisten auf den Strassen zu erhöhen; Studien zeigen, dass dies die Kriminalität erheblich reduzieren kann. Tatsächlich könnten die USA, wenn sie die Milliarden Dollar, die derzeit für die Durchsetzung von Einwanderungsbeschränkungen aufgewendet werden, einfach umleiten würden, Zehntausende neue Polizisten einstellen. Wenn wir glauben (wiederum im Gegensatz zur überwiegenden Evidenz), dass die Einwanderung die Löhne einer beträchtlichen Anzahl einheimischer Arbeitnehmer senkt, können wir den durch die Migration geschaffenen Wohlstand nutzen, um die Lohnzuschüsse (etwa den Earned Income Tax Credit der USA) für jede Kategorie von Arbeitnehmern zu erhöhen, die möglicherweise zu kurz kommen.

Ich behaupte nicht, dass dieser Ansatz alle denkbaren Pro­bleme lösen kann, die durch Migration verursacht werden können. Aber er kann effektiv auf eine Vielzahl von Problemen angewendet werden, die oft als Rechtfertigung für Migrationsbeschränkungen vorgebracht werden. Angesichts des schweren Schadens und der Ungerechtigkeit, die durch Migrationsbeschränkungen verursacht werden, sollten wir zumindest davon absehen, sie zu verhängen, es sei denn, es gibt überwältigende Beweise dafür, dass sie die einzige Möglichkeit sind, eine ernste Gefahr zu beseitigen, die anders nicht behoben werden kann.

Offene Grenzen erfordern keine völlig uneingeschränkte Bewegungsfreiheit. Einige Einschränkungen können unabhängig davon gerechtfertigt werden, ob es sich bei der betreffenden Person um einen Migranten oder einen Einheimischen handelt. Beispielsweise kann ein Staat Reisende festnehmen, die er terroristischer oder krimineller Handlungen verdächtigt. Die Gerechtigkeit erfordert jedoch, dass solche Einschränkungen Personen nicht aufgrund der Abstammung oder des Geburtsortes diskriminieren sollten. Es leuchtet uns sofort ein, dass es falsch ist, solche Diskriminierungen innerhalb von Ländern zu verhängen. Die gleiche Logik gilt für die internationale Migration.

Dieser Beitrag basiert teilweise auf Material aus dem Buch «Free to Move»

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