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Lasst euch nicht abrichten!

Macht uns die Digitalisierung des Wissens nicht neugierig, sondern blöde? Macht zu viel Wachstum schliesslich krank? Wird China unsere Welt revolutionieren? Und hängt des Schweizers Moral ab von seinem Kontostand? Adolf Muschg stellt die richtigen Fragen zur richtigen Zeit. Das grosse Streitgespräch.

Lasst euch nicht abrichten!
Adolf Muschg, photographiert von Philipp Baer.

Herr Muschg, im kommenden Jahr werden Sie 80 Jahre alt. Wir haben uns nach Ihrem Interviewmarathon in den vergangenen Monaten gefragt: Hat der Schriftsteller Adolf Muschg, im Nebenberuf gerne das gute Gewissen dieses Landes, überhaupt noch Zeit zu schreiben?

Jedes Buch könnte das letzte sein – das war natürlich immer so, aber jetzt macht man sich’s bewusst. Umso mehr bleibt es dabei: «Kein Tag ohne eine Zeile», wie der alte Plinius empfohlen hat. Für diese eine Zeile arbeite ich ziemlich hart, gegenwärtig von früh morgens bis Mittag, dann ab nachmittags um vier wieder bis tief in die Nacht. Der Stoff drängt immer, und jetzt auch die Zeit.

Zwei Durchgänge literarischen Schaffens pro Tag, welcher ist produktiver?

Oft gibt’s mir der Herr – oder wer immer – im Schlaf, dann muss ich die Morgenstunden nutzen, um es festzuhalten. Im Alter wird der Vormittag zur Zeit des Schriftstellers – das war schon bei grösseren so, Goethe oder Thomas Mann. Aber ich widerstehe der Versuchung nicht immer, es auch am Nachmittag nochmals «wissen zu wollen» wie in jüngeren Jahren. Dann stelle ich fest, meist zu spät, dass ich mich verrannt habe und nur Streichmaterial für den nächsten Tag produziere. Aber in meinem Metier weiss man nie, wozu etwas gut ist. Das gilt auch für selbstgebaute Hindernisse, sogar für die Verzweiflung am Schreiben.

Klingt nach einem abgeschiedenen Leben und nach einer Art Schreib­ritus, der nur dann und wann aufgebrochen wird. Ist es grosses Glück?

Nennen wir die Dinge beim Namen: Es ist eine Sucht, wie die Pfeife. Ich geniesse sie nicht zum Schreiben, ich brauche sie nur. Sie zu stopfen und anzuzünden, wieder auszuklopfen (Muschg klopft seine Pfeife aus), sorgt für bestimmte Zäsuren, nimmt Druck weg, baut zugleich Spannung auf. Laster oder Ritual? Bei meiner Arbeit kann ich das nicht unterscheiden. Sie ist, von Satz zu Satz, ein zu weites Feld. Da ist Pfeiferauchen so etwas wie eine identitätssichernde Massnahme. Der Rauch zeigt an: hier ist noch jemand zuhause. Ich fange auch sonst an, Rituale mehr zu schätzen.

Das hört sich ein wenig altväterisch an.

Rituale dienen zur Orientierung, sie schaffen Pausen der Gelassenheit, es sind kleine Ausnahmezustände im Ablauf der Zeit und artikulieren sie, wenn Sie wollen. Heute laboriert jeder zweite am Gefühl der Beschleunigung, der 24-Stunden-Tag ist zu kurz, ohne Multitasking ist es nicht zu schaffen – aber mit ihm auch nicht. Die drängende Zeit ist zugleich die leere. Wer keine Zeit hat, muss sie sich auch noch vertreiben, als hätte er eigentlich zu viel davon. Wenn man nicht bei sich ist, wird einem insgeheim alles zu viel. Rituale sind Angebote, aus dem Hamsterrad von Krampf und Zeitvertreib auszusteigen und ein wenig bei sich zu sein – um dann vielleicht festzustellen: Da ist ja gar nichts los! Dann will das Vakuum gleich wieder gefüllt sein, mit Betriebsamkeit. Weihnachten, Silvester, Beerdigungen – das sind Rituale, die man zugleich braucht und fürchtet. In Auszeiten könnte die Sinnfrage aufkommen – und muss mit einem Exzess von Aktivität wieder zugedeckt werden. Das krasseste Ritual, das Zürich veranstaltet, ist die Street Parade. Immerhin.

Ein Datum, an dem es dem zwinglianischen Dampfkochtopf Zürich den Deckel lupft! Wir sind nun noch weit von den Themen entfernt, die wir heute eigentlich durchdenken wollten. Sie sind einfach ein guter Geschichtenerzähler und halten uns auf Distanz…

Sie hören halt gern alten Männern zu! Und als solcher sage ich Ihnen: Themen muss man sich nicht setzen oder stellen, sie sind vor uns da und warten nur auf die passende Gelegenheit, abgeholt zu werden. Wissen Sie, wo ich mich für unsere Begegnung eingestimmt habe? Bei Konfuzius, einem «Nationaldenker» Chinas. Asiatische Weisen sind es gewohnt, den Erfahrungen ihrer Altvordern Sorge zu tragen. Wenn sie mit ihren Schriften zusammenstossen, und es klingt hohl, so vermuten sie den Defekt zuerst in ihrem eigenen Kopf. Das ist nur einer der Kulturunterschiede, die den alten Osten vom neuen Westen trennen.

Das ist doch schon die richtige Richtung. Sie sind oft in Asien: Für viele Europäer ist China, mitsamt seiner bewegenden Geschichte, bis heute nicht fassbar. Einige entwickeln auch eine diffuse Angst. Woran liegt das?

Vielleicht am Kurzzeitgedächtnis, dem wir verfallen sind. Wir lassen die Zeitrechnung, die für uns gilt, im 18. Jahrhundert anfangen, wenn’s hoch kommt, also in der «Aufklärung». Praktisch behandeln wir aber schon die Nachricht von gestern als olle Kamelle. Dabei ist der Mensch entwicklungsgeschichtlich eine so junge Kreation, dass er sich – wie es Goethe verlangt hat – wenigstens von dreitausend Jahren müsste Rechenschaft geben können, wenn er nicht «im Dunkeln unerfahren» von «Tag zu Tage leben» will. Die digitale Revolution steuert auf geschichtslose Verhältnisse zu; die sogenannte Wissensgesellschaft hat ihr Wissen aus Schule und Alltag ausgelagert an die Suchmaschine. In China hat man die eigene Geschichte immer wieder selbst zerstört, aber ihre Essenz, die Tradition, ist man dabei nicht losgeworden, das heisst: die kulturelle Erinnerung an Muster und ihre Verbindlichkeit. «Keiner der Wege der Könige», wie Konfuzius die chinesischen Gründungsfiguren nennt, «ist verschüttet.» Konfuzius ist ja zeitlich etwa gleich weit von uns entfernt wie Buddha oder Sophokles: aber im Gegensatz zu unseren Ressourcen der Erinnerung sind die chinesischen immer noch alltagsmächtig. Während sie bei uns nur noch im Theater stattfinden und wir im Westen Muster fortwährend zu überholen glauben, erleben Chinesen vielmehr, dass sie von ihnen wieder eingeholt werden. Und dass sie – Widersprüche eingeschlossen – immer noch in Kraft sind. Ich glaube, mit Recht. Dass sich der Mensch in dreitausend Jahren fundamental ändert, ist eine Illusion.

Stimmt. Aber ist es nicht so, dass Sie China idealisieren? Die Widersprüche existieren dort in Form eines dramatischen Stadt-Land-, Wohlstands- und Machtgefälles – und manifestierten sich auch im politischen System. Und von den Widersprüchen zwischen den grossen Kulturen der Welt, der westlichen und der östlichen, haben wir dann noch gar nicht gesprochen…

Ja, aber es gibt auch auffällige Gemeinsamkeiten. Die griechische Kultur hat nicht weniger als die chinesische das «Lernen» ins Zen­trum gesetzt. Das hat auch noch Humboldt getan und etwa im Schulwesen scharf zwischen «Bildung» und «Abrichtung» unterschieden. Letztere besteht darin, dass man sich Werkzeug immer besser aneignen lernt. Mit «Bildung» – in welcher der Mensch sich selbst zum Gegenstand zweckfreier Erkenntnis erhebt – hat das nichts zu tun.

Wir spüren einen Schatten von Kulturkritik heraufziehen. Darauf haben wir gewartet. Darum – können Sie diesen Punkt näher ausführen, damit wir einhaken können?

Fast alles, was die digitale Revolution als «Ausbildung» und «Fortbildung» verlangt, gehört ins Kapitel «Abrichtung»: Wir lernen immer besser, mit elektronischem Werkzeug umzugehen, und wissen immer weniger, wozu. Nehmen wir den veränderten Umgang mit Raum und Zeit, den das Netz ermöglicht: schwindelerregend. Ein Klick, und jeder ist mit jedem überall und jederzeit verbunden. Aber was passiert, wenn die Teilnehmer «sozialer Netze» die virtuelle Sphäre verlassen? Begegnen sie einander real, so fehlt ihnen gerade die Erfahrung, die sie übersprungen haben. Um die Begegnung nicht zur Ent-Täuschung zu machen oder diese sinnvoll zu bearbeiten, hätten sie gerade jene soziale Kultur nötig, von der sie der PC dispensiert hat – oft auf Nimmerwiedersehen. Es gibt Gratisangebote, Verkehrserleichterungen, mit denen wir uns selbst bestehlen und um das Beste bringen. Jedes Kind kann sich heute Pornos herunterladen – und damit jede Ahnung, was Liebe bedeuten kann, schon im Keim ersticken. Daumen rauf, Daumen runter – das ist eine analphabetische Reaktion auf komplexe Verhältnisse, und zwischen Menschen gibt es keine anderen; da sind Vereinfachungen schrecklich, auch wenn sie bequem sind. Der Rechner hat die Zivilisation alles andere als einfacher gemacht, er nährt nur die Illusion, es sei ihr durch reduziertes Bewusstsein und rudimentäre Reaktionen beizukommen. Der Handyverkehr, den ich im Zug beobachte, erinnert mich an Lorenz’ Kommunikation der Graugänse: Wiwiwiwi? Gagagaga! Wirrwirr. (lacht) Eigentlich ist das gar nicht lustig.

Sie bewerten aus bildungsbürgerlicher Warte Seiteneffekte und allseits beklagte Nachteile der Internetkommunikation – dass heute jeder mit jedem überhaupt kommunizieren kann, ist aber doch erst mal eine grosse Errungenschaft. Und nur eine von vielen in diesem Bereich. Woher kommt also die düstere Grundstimmung? 

Das «Bildungsbürgerliche» haben Sie geschenkt. Es geht mir um eine Kernkompetenz der Zivilisation: ihr Erinnerungsvermögen. Auch ich finde bequem, dass ich zum Nachschlagen dessen, was ich gerade nicht weiss, kein Lexikon mehr brauche: Wikipedia genügt. Alles Wissen der Welt ist augenblicklich abrufbar, nur sagt es mir nicht, was ich damit anfangen soll. Um es einzuordnen, seine Herkunft, seinen Rang zu bestimmen, brauche ich eine Kompetenz, die ich immer noch persönlich erwerben muss. Ohne diesen Kontext bleibt die sogenannte Information stumm und irrelevant. Um Ihnen jetzt doch mit einer bildungsbürgerlichen Erinnerung zu dienen: Wenn von einem mittelalterlichen Text verschiedene Versionen überliefert sind, gilt die «Lectio difficilior», die «schwerer zu lesende», als die originale. Das trifft für mich auf das «Lesen» überhaupt zu, auch das Lesen von Menschen und Verhaltensweisen. Und läuft den Rezepten der «Kommunikationsgesellschaft» diametral entgegen.

Konkreter?

Viele junge Menschen, die ich kennenlerne, wissen heute nicht mehr, dass die Inhalte, die online über Google oder Wikipedia abrufbar sind, nicht fertig, nicht abgeschlossen sind. Sie greifen darauf zurück, wenn sie sie brauchen – dann vergessen sie sie wieder, sie denken aber gar nicht mehr daran, die Dinge selbst zu ändern. Das ist die neue Form des digitalen Defätismus, als gäbe es hier eine Art «Ende der Geschichte». Das sorgt für einen fundamentalen Bewusstseinswandel: Die Lernbahnen im Kopf, sie existieren nicht mehr. Das Abrufen und blosse Kommentieren korrumpiert die Diskurs- und Lernmotivation. Das ist fatal…

…aber nicht neu! Die Klagen über den depravierten Zustand der Gesellschaft, der Jugend im speziellen, über die Technisierung und Infantilisierung: sie gehören zum klassischen Kanon der Kulturkritiker – und den singen sie in jedem Jahrzehnt in schrillerer Tonlage, gern akademisch imprägniert.

(lacht) …Sie geben mir ein damit zusammenhängendes, gutes Stichwort. Schauen Sie sich nur einmal unser Bildungswesen an, das mal als Antidot gegen die Infantilisierung der Gesellschaft gedacht war. Stichwort Bologna: nach Humboldtschen Begriffen wäre auch alles, was sich hinter dieser vermeintlich neuen und ökonomisch sinnvollen Universitätsreform verbirgt, «Abrichtung» gewesen – nicht Bildung. Das Wort kommt übrigens von Humboldt selbst. Inzwischen haben es doch die meisten unserer Hochschulen fertiggebracht, sich vom Verdacht, sie brächten der Gesellschaft keinen handfesten Nutzen, freizureformieren. «Bologna» ist das Geschäftsmodell einer mittelwestlichen Universität, die ihre Effizienz an der Verkäuflichkeit ihrer Produkte, sprich: ihrer Absolventen, misst. Im Gegensatz dazu sind die wirklichen Spitzenuniversitäten wie Harvard oder Yale «akademisch» geblieben. Es ist heute mehr «Humboldt» an ihnen als an der von ihm gegründeten und nach ihm benannten Berliner Universität. Kürzlich habe ich dort einen Vortrag über «Bildung» halten dürfen und begnügte mich damit, an den Eigensinn des Studiums, seine «Zweckfreiheit» zu erinnern, wie sie Humboldt verstanden hat. Für ihn war sie geradezu die Bedingung der Nützlichkeit des Studiums für die Gesellschaft.

Klingt gut. Wir bitten um Illustration!

Wenn Sie mit Herz und Seele Byzantinistik oder eine polynesische Sprache studieren, die Sie als preussischer Beamter nie brauchen werden, haben Sie an der Universität doch das Entscheidende gelernt: nämlich wie man lernt, wie man an einer Sache – gleichgültig, welcher – dranbleibt und ihr gerecht wird. Diese Art Studium aktiviert die Synapsen in Ihrem Kopf, sie kultiviert Ihre Neugier, bildet Ihre Fähigkeit zum Interesse und damit Ihren Charakter. Und nicht zuletzt Ihren Geschmack an der Freiheit: Danach werden Sie sich auch als Bürger nicht mehr alles bieten lassen. Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir, hiess das in der klassischen Philosophie – und wird von Schulmeistern immer verkehrt zitiert, weil sie nicht mehr wissen, dass «Schule» ursprünglich Musse, also die Freiheit bedeutet, sich über die Notdurft des «Lebens» zu erheben.

Wir verstehen, was Sie meinen. Als Philosoph bzw. Germanist müssen wir aber sagen: Sie romantisieren. Man kann auch unter ganz anderen legitimen Gesichtspunkten ein Universitätsstudium anstreben. Eines später potentiell guten Jobs wegen etwa. Und Nützlichkeit ist nicht per se des Teufels. Ganz im Gegenteil. Könnte es sein, dass Sie hier ein paar Vorurteile konservieren?

Ich möchte mir nur mein Urteilsvermögen nicht nehmen lassen. Der alte Goethe sagte: «Nicht allen Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun; viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art von Glückseligkeit.» Wovon er ja kein Verächter war; aber im Studium, das seinen Namen verdient, dürfte es etwas mehr sein. Wie geht es denn heute an der Universität zu? Sie hat ihre Tore weit geöffnet, um das vermeintliche Interesse der Gesellschaft zu bedienen, und ihr Angebot nach deren Erwartungen getrimmt. Den Preis für ihre Verschulung zahlt sie mit ihrer Substanz; die Studierenden – jedenfalls bis zum Bachelor – studieren nicht, sondern haken ihr Pensum ab und sammeln die nötigen Punkte, immer unter Druck. «Was brauche ich?» wird zur Frage, die man nicht mehr an sich selbst stellt, sondern an den Lehrplan; die Ökonomie, die er verlangt, steuert das Interesse und macht, was einmal akademische Freiheit hiess, unerschwinglich. Leistung, die nicht messbar ist, gilt nicht als solche. Die Studenten lernen sich selbst als Produkte verstehen, die schon an der Universität ihre Marktchance testen müssen. Heute braucht es Glück – oder auch: das nötige Unglück –, sich im Studium seinen Eigensinn zu bewahren. Dabei war es eigentlich dazu bestimmt, ihn zu wecken und zu entwickeln – und hat Fehlanzeigen in Kauf genommen. Diesen Preis ist die Gesellschaft nicht mehr zu zahlen bereit. Sie erwartet Berechenbarkeit, wie bei allem, so auch von der Universität. Nach dem Verständnis Humboldts bringt sie sich damit um ihre besten Früchte. Vor einigen Jahren gab es einmal eine Untersuchung über die Herkunft des Topmanagements englischer Firmen – wissen Sie, welches Studium dort überproportional vertreten war?

Wenn Sie so fragen: Betriebswirtschaftslehre wird es nicht gewesen sein. Vielleicht Psychologie?

Geschichte! Nun kann man fragen: Wieso soll jemand, der sich mit dem Mittelalter beschäftigt hat, deshalb besser Klopapier verkaufen können? Vielleicht, weil sein Kopf darauf trainiert ist, kreative Phantasie zu entwickeln. Er denkt in Zusammenhängen, stellt Beziehungen her, auf die man nicht kommt, wenn man nur die Entwicklung der Zinsrate studiert hat und sie in einer PowerPoint-Präsentation darstellen kann. Ich zitiere Lichtenberg: «Wer nur die Chemie versteht, der versteht auch sie nicht recht.»

Das lassen wir gern so stehen, und auf die angebliche Ökonomisierung kommen wir später noch zu sprechen. Doch zuerst: Wo finden wir sie denn noch, die von Ihnen beschworene Freiheit in der Zweckfreiheit?

Ich glaube und befürchte: nur noch in der Kunst. Ich kann für literarische Arbeit keinen guten Zweck geltend machen. Und doch gelingt es immer wieder, etwas von dem Sinn, den sie für mich hat, zu transportieren. Und der gute Sinn, den andere darin finden, ist dann ihr eigener, ihr persönliches Werk.

Zugestanden, aber «Künstler», das ist auch ein Beruf. Daran ist prinzipiell auch nichts auszusetzen, sondern es ist für den Künstler ein grossartiges Privileg: Ich schaffe etwas, andere würdigen es – und sie bezahlen mich sogar dafür.

Aber sie «brauchen» es nicht wie irgendein anderes Produkt. Was sie honorieren und, wenn es hoch kommt, würdigen, ist sein Widerstand gegen den Markt, das Inkalkulable, seine Sperrigkeit gegen jede Erwartung, auch gegen Moral und Korrektheit. Künstler sollten sich also am Kunstmarkt nicht verdingen. Denn damit wäre dann alles, was einmal von der antiken Akademie bis heute so gut funktioniert hat, abgestellt.

Einspruch: Der Markt gibt vielen guten Künstler ja gerade die nötige Unabhängigkeit. Aber auch sonst: Ihre Diagnose stimmt in ihrer Totalität nicht. Sie haben eben selbst die «Akzeptanz der Nichtabgeschlossenheit» erwähnt. Sie ist bis heute Leitlinie der wissenschaftlichen Forschung.

Theoretisch ja. Aber in der Praxis ist das Ziel der Forschung – jedenfalls der geförderten – immer mehr das fertige Produkt, das natürlich «verbessert» wird und einem Bedürfnis entspricht – ich sage lieber: eine Nachfrage befriedigt, die es als gute Investition ausweist. Dann macht Wissenschaft Sinn, makes sense, und muss nicht mehr fragen, welchen: der monetäre Profit ist Ausweis genug. Wirklich sinnvolles Wissen über den Menschen müsste ihn aber auch lehren, was er lassen muss – etwa aus ökologischen Gründen oder solchen der Selbstbestimmung, damit wir nicht – wie es im «Faust» heisst – «am Ende von den Kreaturen abhängen, die wir machen». So herrlich weit haben uns die Werkzeuge der Datenverarbeitung längst gebracht! Wer sagt uns, dass wir alles müssen, was wir können? (Nimmt Konfuzius vom Tisch, wedelt mit dem Buch) Die fernöstliche Weisheit rät uns: Wir dürfen es auch lassen. Lebenskunst ist ja nicht, immer mehr zu können und zu haben, sondern uns aus immer weniger immer mehr zu machen. Das gilt vor allem für unsere kostbarste Ressource, die Zeit.

Nach so viel Zorn und Kritik klingt das nach einem Silberstreif am Horizont: Sie erwarten Rettung aus Fernost?

Es ist die älteste Kultur der Welt, und das Programm des rechten Masses ist ihr immer noch eingeschrieben, auch wenn es gegenwärtig so aussieht, dass sie «ganz viel von allem» wolle: Ich traue den Chinesen eine rabiate Korrektur ihres autoritär gesteuerten Kapitalismus zu, denn grenzenlose Expansion war noch nie eine chinesische Spezialität. Auch auf unserer Seite der Welt war sie ein Kennzeichen der Barbarei: «Nicht zu viel» stand über dem Orakel von Delphi, aber auch: «Erkenne dich selbst!» und «Werde, der du bist!». Das war das Programm des abendländischen Individuums, das nicht nur seine Selbstbestimmung annehmen, sondern auch ihre Grenzen erfahren sollte. Was im Westen im Zeichen der Freiheit gesucht, im Osten im Zeichen sozialer Harmonie gefunden werden soll, läuft von zwei Seiten auf eines hinaus: das rechte Mass. Es ist das Kriterium, das den Unterschied von Kultur und Barbarei bezeichnet – es gibt auch eine Barbarei des technologischen Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums. Dagegen ist eine echte Kulturrevolution fällig…

Oha, Kulturrevolution! Schon der Begriff bereitet uns Unbehagen. Denn pardon, auch das «Rote Büchlein» hat bei Ihnen persönlich und bei einigen Ihrer Kollegen damals ziemlich viel Sympathie erfahren, wenn wir uns recht erinnern.

Das war blind und naiv – und es ist lange her. Was am «Roten Büchlein» bemerkenswert bleibt, ist der Glaube an eine heilige Schrift – sein Gegenstück ist heute der fundamentalistische Islam oder die Evangelikalen in der christlichen Konsumgesellschaft. Das sind die Besessenen eines Defizits; sie fordern Bindung und Verbindlichkeit zurück, die der Religion in der Verbrauchergesellschaft abhanden gekommen sind. In Maos Kulturrevolution war Konfuzius ein verfemter Autor, für die nächste wird sein Gleichgewichtssinn vorbildlich sein. Einer seiner Sätze lautet: Man kann auf zwei Arten unglücklich sein: indem man das Ziel nicht erreicht – oder indem man über das Ziel hinausschiesst. Vergessen Sie nicht: die Geschichte Chinas ist viel länger als unsere, und das Aufbegehren des Volkes gegen pflichtvergessene Regimes hat Tradition.

Sie sehen China vor einer Revolution?

Ja, ich halte für möglich, dass die Chinesen ausführen, was beim sogenannten arabischen Frühling nicht gelang. Die Chinesen, die ich kenne, haben einen feinen, aber nüchternen Sinn für das Tragbare und das Unerträgliche. Das ganz aktuelle griechische Beispiel könnte auch uns darüber belehren, dass «Schulden» etwas sind, wofür der Gläubiger genauso haftet wie der Schuldner, und dass «Wachstum» – wie bei einer Krebsdiagnose – gleichbedeutend sein kann mit einem Todesurteil.

Moment! Ist es nicht genau umgekehrt – Wachstum ist der einzige Weg aus der Krise für das überschuldete Griechenland? Das Pro­blem ist doch: wer so lange über seine Verhältnisse gelebt hat, der muss erst mal seine Schulden zurückzahlen. Der hat kein Geld für Investitionen. Der schrumpft also erst mal. Und nachdem er durch das Tal der Tränen gegangen ist, kann er wieder wachsen.

Als Teil der Währungsunion glaubten die Griechen, sie könnten reich werden, indem sie den starken Euro für sich arbeiten lassen. Sie behandelten ihn wie die Golfstaaten das Erdöl, als wäre er eine unerschöpfliche Quelle. Damit lieferten sie sich den globalen Finanzmärkten und ihren Ratingagenturen aus, und als dort die Rechnung nicht mehr stimmte, landete sie im griechischen Haushalt – und war vollständig unbezahlbar. Und wird es immer mehr, je enger die Griechen ihre Gürtel schnallen. Es ist eine neue Form von Schuldknechtschaft.

Ja, sicher, Wachstum auf Pump – das kann dauerhaft nicht funktionieren. Aber mit Verlaub: Das weiss doch jedes Milchmädchen. Darum geht es nicht. Es geht um jenes gesunde Wachstum, das den Bürgern mehr Wohlstand bringt. Daran herumzunörgeln – das ist wahrlich ein Luxusphänomen.

Aber der Pump war doch gewollt und erwünscht, und Industrieländer wie Deutschland haben davon profitiert. Und ihrem Export kommt jetzt sogar die Schwäche des Euro zugute, für die sie sogenannte Krisenländer verantwortlich machen. Statt einer Solidargemeinschaft erleben wir ein Unequal Treaty, in dem die Gewinner die Verlierer zur Kasse kommandieren.

Wenn «Solidarität» heisst, dass die einen gegen ihren Willen für die anderen zahlen müssen, haben Sie recht – sonst nicht. Nochmal: Die Griechen haben von Transferzahlungen und einem starken Euro profitiert – und nun zahlen sie den Preis dafür.

Die Griechen zahlen für ein politisches Defizit der EU. Die Union hat der Währungsunion keine europäische Wirtschaftspolitik folgen lassen – in der Erwartung, diese ergebe sich von selbst, gewissermassen mit der Kraft des Faktischen. Aber die Tatsachen, die der globalisierte Finanzmarkt schaffte, waren ganz andere – und sie hätten, wenn die Gemeinschaft ihren Namen verdiente, einen Lastenausgleich verlangt –, wie er im vereinigten Deutschland zwischen den alten und den neuen Bundesländern zustande gekommen ist, wenn auch mit Ach und Krach. Entweder hätte man Griechenland in die Eurozone nicht aufnehmen oder dem Land dann die Rücksicht auf seine Verhältnisse nicht schuldig bleiben dürfen. Stattdessen hat man es erst ausgenommen und dann die «Rettungsschirme» genannten Daumenschrauben angesetzt. Wir haben viel Glück, wenn diese Art der Sanierung nicht eine soziale Explosion auslöst und in den schuldig genannten Ländern Verhältnisse schafft wie bei den Verlierern des Ersten Weltkriegs – mit den bekannten Folgen. Auch im günstigen Fall geht viel Kredit für die Glaubwürdigkeit der europäischen Sache verloren – die «Erfolge» der sogenannten Troika sind teuer bezahlt.

Die entschuldigende Infantilisierung der griechischen Akteure in diesem Prozess kann kaum die Lösung des Problems sein. Abnehmer der EU-Produkte waren entweder der griechische Staat, griechische Banken oder wirtschaftende Individuen. Zu einer Marktwirtschaft gehört neben dem Risiko untrennbar die Haftung für das eigene Geschäften. Banken und Individuen haften auch in Griechenland selbst für ihre Einkäufe, die sie aus freien Stücken getätigt haben. Beim Staat ist das etwas heikler: Wenn er schlecht wirtschaftet, zahlen am Ende alle Bürger dieses Staates, die grosse Haftungsgemeinschaft also. Hier dreht sich die Sache aber nun um: Weil der griechische Staat pleite ist, haftet einfach die EU, sprich: Deutschland. Das ist doch absurd.

Noch etwas absurder ist, dass von den sogenannten Rettungsaktionen weniger die Griechen als die Banken profitieren; sollen sie nicht ebenso für ihre spekulativen Einsätze haften? Stattdessen nehmen sie die Gewinne mit und vergemeinschaften die Verluste.

Stimmt. Die Banken sind aber auch nicht das marktwirtschaftliche Casino-Paradebeispiel, als das sie stets herhalten sollen. Banken profitieren von dem unglaublichen Privileg, dass sie unter der Deckung des Staates im «Too-big-to-fail»-Modus machen können, was sie wollen. Auch hier ist die Haftung, ein Prinzip der funktionierenden Marktwirtschaft, einfach ausgehebelt.

Sie profitieren davon, dass die politische Organisation auf der ganzen Welt zu schwach, zu lokal oder ideologisch gar nicht willens ist, eine globalisierte Finanzwirtschaft einzufangen, wenn sie zügellos galoppiert.

Bankenbashing ist zwar gerade en vogue, aber hier sind wir uns halbwegs einig: Banken verfügen über Privilegien. Nur sind die politisch gewollt. Zentralbanken wie Geschäftsbanken können Geld aus dem Nichts schöpfen…

Und haben immer gute Gründe dafür. «Bunte Zauberblätter» nennt Goethe die Schöpfung von Papiergeld schon in seinem «Faust II», der 1832 posthum erschien.

Wir erinnern uns: Mephisto wirft in Goethes Monumentalwerk durch das Gelddrucken die Nachfrage- und Scheingeldökonomie des Kaisers an, der ja eigentlich pleite ist…

…Saus und Braus ist die kurzzeitige Folge, bis plötzlich einer fragt, womit das Geld denn eigentlich gedeckt sei. «Mit den ungehobenen Schätzen» des Landes, ist die Antwort. Und dann ist der Teufel los – der Krieg beginnt. Und die Gewalt nimmt kein Ende mit dem sogenannten Zivilisationswerk, dessen sich Faust am Ende rühmt. Es wird mit dem Opfer von Göttern und Menschen bezahlt – von der Natur zu schweigen, die menschliche Natur eingeschlossen –, die Artefakte nehmen überhand. «Faust II» ist eine prophetische Bilanz der sozialen und kulturellen Kosten, welche die industrielle Revolution kosten wird und welche die Jünger des Fortschritts nicht in der Rechnung hatten und haben. Die ersparte Arbeit führte nicht zur Freiheit, sondern in die Arbeitslosigkeit – auch für die wenigen, die sie geniessen. Auch sie sind mit dem Gebrauch, den sie von ihren Privilegien machen, der Zivilgesellschaft abhanden gekommen, die wir nötiger hätten als je. Stattdessen haben wir einen neuen Absolutismus der Ökonomie, mit anarchischem Einschlag. Wachstum hat jedes lebendige Gebilde nötig: kennt es seine Grenzen nicht, wird es bösartig, da mögen die Beteiligten noch so guten Willens sein.

Wir kontern: das ist eine Art Luxushaltung aus der Warte derer, die in sogenannt «funktionierenden Demokratien» leben. In Griechenland weiss jeder Bürger, dass die politische Klasse des Landes die am stärksten korrumpierte ist. Kein Grieche käme je aus freien Stücken auf die Idee, Politikern das Management der Krise anzuvertrauen.

Wem denn sonst? Als ich 2009 auf Lesereise in Griechenland war, habe ich keinen Menschen getroffen, der gegen die politische Kaste des Landes nicht im höchsten Grade kritisch war – aber auch selbstkritisch waren nicht wenige. Das ist der Stoff, aus dem politische Kultur entsteht. Auch bei uns haben wir keinen andern und bessern, aber man kann ihm Sorge tragen – oder eben nicht. Es genügt nicht, in Athen den Gerichtsvollzieher vorbeizuschicken; «Brüssel» muss Zeichen setzen, dass es seiner Gemeinschaftsverpflichtung bewusst ist.

Tolle Idee. Dort sassen ja auch jene, die die offensichtlich getürkten Zahlen der griechischen Wirtschaft schon im Euro-Beitrittsjahr so kompetent gesichtet und ausgewertet haben. Entschuldigen Sie unseren Sarkasmus, aber wir glauben: Sie wollen den Bock zum Gärtner machen.

Unter demokratischer Kultur verstehe ich, dass keiner als Gärtner geboren ist, aber dass man unter lauter Böcken immerhin denjenigen wählen kann, der am ehesten das Zeug dazu besitzt. Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit! Eigentlich müsste auch dem Dümmsten klar sein, dass man einem Boden keine doppelte Ernte abverlangen kann, wenn man ihn zugleich immer mehr austrocknen lässt. Mit ein paar Kreditgüssen, die sogleich verdampfen – mehr Verschuldung, weitere Austrocknung –, ist es nicht getan. Das Übel sanieren heisst seine Wurzel nicht nur im Boden Griechenlands suchen, sondern im eigenen. Die EU ist ein kommunizierendes System, und was den Griechen fehlt, fehlt andern Europäern auch: nur dass es sich dort als Zuviel statt Zuwenig zeigt. Wer nie genug bekommt, hat immer zu viel, aber er hat auch zu wenig: an Empfindlichkeit, Empathie, Solidarität. Er kennt kein Mass, und die Krise müsste die Gelegenheit sein, es kennenzulernen. Wachstum – open end – ist kein Heilmittel, es ist eine Einladung zum Krebs.

Das ist eine Metapher und eine Aberration des Organismus – daraus lässt sich kein Argument gegen wirtschaftliches Wachstum ableiten. Wenn Sie einem armen Brasilianer mit den Grenzen des Wachstums kommen, wird er Sie verständnislos anblicken. Es ist das gute Recht eines jeden, für einen Platz an der Sonne zu kämpfen.

Da bin ich immer weniger sicher. Sie demonstrieren ja gerade, die Brasilianer – gegen die Fussballweltmeisterschaft in ihrem Land? Ganz sicher nicht. Für günstige Agrarkredite? Vielleicht. Den Bestand der Regenwälder? Kaum. Vor allem demonstrieren sie gegen schwachsinnige Prioritäten, zynische Verteilung der Mittel, im Kern demonstrieren sie für ihre Würde, das heisst: eine erträgliche Balance der Kräfte, die ihren Alltag bestimmen. Inzwischen weiss man sogar in Brasilien, dass der Raum auf dieser einzigen Erde knapp wird, die Zeit auch.

Letztlich ist auch Raum eine Ressource, und Marktwirtschaften kennen zur Anzeige von Knappheit einen guten Indikator: den Preis. Wird eine Ressource knapp, steigt der Preis – sofern man ihn nicht künstlich manipuliert. Damit werden dann Energien oder Lebensmittel, die knapp sind, langfristig zu teuer, als dass sie für den Kunden interessant wären, sprich: die Nachfrage danach sinkt. Jedenfalls dann, wenn bessere Alternativen zur Verfügung stehen.

Einspruch, Euer Ehren. Wenn Wasser und Atemluft knapp werden, darf man sie nicht einem Markt überlassen, der sie für viele unerschwinglich macht. Der Markt mag von allem den Preis kennen, über seinen eigenen kann er nicht einmal erschrecken, sonst brauchte nicht jede Sekunde ein Mensch zu verhungern. In Japan kann man lernen, wie man mit ganz wenig Raum auskommt und zivilisiert bleibt. Für US-Amerikaner, auch für Schweizer wären solche Verhältnisse die reine Zumutung. Dabei brauchen wir viel Glück, wenn sie in zwanzig Jahren einfach normal sind. Denn dafür ist ein radikaler Kulturwandel nötig – ich hoffe, wir schaffen ihn ohne Megakatastrophe.

Dieser Katastrophismus, mit dem sich alle politischen Massnahmen rechtfertigen lassen, weckt unsere Skepsis. Doch sind wir ganz Ohr. Wie sieht dieser Kulturwandel aus?

Vielleicht so, dass wir anfangen, viel scheinbar Unentbehrliches einfach nicht mehr zu brauchen, nicht nur aus Überzeugung; mit Vergnügen. Etwa wie viele junge Leute, die ich kenne, auf das Auto verzichten. Das Werkzeug autonomer Beweglichkeit wird ja immer mehr zu ihrem Hindernis, allmählich erübrigt es sich auch als Statussymbol. Die Zahl der Jungen, die nicht einmal mehr einen Führerschein machen, nimmt zu. Irgendwann kommt es so weit, dass einer den andern fragt, was Raucher heute zu hören bekommen: «Was? Du braucht immer noch ein Auto?» Verschreiben, gar diktieren kann man den Verzicht nicht – dass man ohne tägliches Stück Fleisch, vielleicht, Gott behüte, sogar eine Woche ohne Handy auskommen soll, darf man in kein Parteiprogramm schreiben. Aber, wie Schiller sagt, «ihr Geschmack ist keuscher als ihr Herz» – auch Lifestyle lebt von Vorbildern, und darum gibt es heute schon Leute, die keinen Diätplan brauchen, um ihre Konsumfreiheit zu geniessen. Es macht sie unabhängiger von Treibstoff, Steuerberatern, sogar Versicherungen. Meine Frau hat vor Jahren ihr letztes Kleid bei Issey Myake gekauft – «wofür brauche ich schon wieder ein neues?», fragt sie.

Die Ihrerseits kritisierte, von oben verhängte Verbotskultur hat aber gegenwärtig Hochkonjunktur…

…und die Verbote wechseln wie Moden. Auch die Korrektheit hat ihren Markt. Auf den pfeife ich gern. Die Verhaltensregeln, die Stich halten, müssen sich im freien Spiel von Versuch und Irrtum von selbst ergeben.

Dass wir das noch erleben dürfen: Adolf Muschg reanimiert den alten Schumpeter! Da sind wir ganz bei Ihnen: Wenn die Konsumenten lieber ressourcensparende Produkte haben wollen, so werden die sich eben langfristig durchsetzen. Es dauert länger als das Verbot – aber es ist auch «nachhaltiger», wie es heute so schön heisst.

Ach ja. Der Markt lebt ja von der Behauptung, menschliche Bedürfnisse besser befriedigen zu können als jede andere Einrichtung. Das Problem mit menschlichen Grundbedürfnissen ist nur, dass sie unter sich widersprüchlich sind. Marktherrschaft bedeutet in der Religion: die Kirche muss sich gut verkaufen; in der Politik: der Staat muss Politik gut verkaufen – sogar jedes Individuum…

…Sie meinen: die Bürger träten in diesem Falle bloss noch als Religions- oder Politkonsumenten auf?

So ist es ja auch. «Der Wähler als Kunde.» Und der politische Markt produziert dann genau eine solche Regierung, die sich schon lange vor den Wahlen bereits orientiert darüber, was wohl bei den Leuten «gefragt» ist. Sprich: mit welchen «Produkten» oder «Geschenken» die Bürger die eigene Parteipolitik am Wahltag «kaufen» würden. Aber: Ist das erstrebenswert?

Man wählt die, die einem die für die eigene Tasche günstigsten Versprechungen machen, oder die, die zumindest keine grossen Änderungen vornehmen wollen am Status quo. Wir würden das aber nicht Konsumismus nennen, denn letztlich herrscht ja hier weder Kostenwahrheit, noch gibt es eine eindeutige Handelsbeziehung. Irgendwie zahlen alle für alle – man selbst versucht in dem Fall zu schätzen, wie man möglichst wenig zu geben und möglichst viel zu bekommen hat. Übrigens wird auch der «Markt» immer kleiner: die Politiken der Parteien unterscheiden sich kaum noch, und der Anteil der Nichtwähler wird immer grösser.

Halten Sie den Wählerschwund denn für bedenklich?

Nun – wenn man in einer Demokratie lebt, so sollte man von den politischen Partizipationsmöglichkeiten zumindest Gebrauch machen, nicht? Am Ende gehen 30 Prozent der Wahlberechtigten wählen und bestimmen über die ganze Bevölkerung. Das muss doch dem Demokraten in Ihnen ungerecht vorkommen?

Wären Ihnen 90 Prozent Stimmbeteiligung lieber und unverdächtig? Keine Mehrheit ist «Gottes Stimme» – gerade als Demokrat muss ich wissen, dass auch die Demokratie Grenzen hat. Aber sie dürfen ihr nicht vorgeschrieben, sie müssen aushandelbar sein, und zwar nicht ein für alle Mal, sondern bei jeder Sache aufs neue. Und dieser Handel ums Gemeinwohl – nicht nur um den eigenen Vorteil – macht das Stimmvolk erst zu Bürgerinnen und Bürgern. Der Staat ist kein Markt, er gehört nicht dem Meistbietenden. Und er entscheidet über eine Materie, an der nichts käuflich sein darf. Er wacht, ideal betrachtet, über das Mass des Handelns.

Auch das Mass ist Verhandlungssache. Aber es stimmt natürlich: Die Gesellschaft weiss nicht immer, was richtig ist. Demokratie mag ein Stoppschild für manche Barbarei sein, andere lässt man aber auch demokratisch passieren, nicht nur auf Märkten.

Aufklärung ist ein offener Prozess, der Grenzen kennt, aber kein Ende. Auch die Staatsraison muss wissen, dass sie nicht das Mass aller Dinge ist. Auch demokratisch getroffene Entscheidungen neigen dazu, auf Kosten von Nachbarn getroffen zu werden und Fremde auszuschliessen. Die Anziehungskraft einer privilegierten Gesellschaft, wie der schweizerischen, ist gross und ebenso gross ihre Versuchung, ihre Grenzen gegen unwillkommene Zugänge abzuschotten. «Asylanten» reimen sich auf Vaganten und Querulanten. Das gilt auch für die EU: plötzlich gelten Wirtschaftsflüchtlinge nicht als asylwürdig. Gerade hat man wieder ein Boot voll vor Lampedusa untergehen lassen. Europas Antwort auf Afrika ist nicht: mehr Hilfe oder gar mehr Öffnung, sondern bessere Kontrolle, das heisst: mehr Grenzbefestigung.

Sie sagen es: wir selbst machen den Afrikanern das Leben schwer, weil wir sie nach Möglichkeit nicht nur aus unseren Gesellschaften, sondern auch von unserem Markt ausschliessen.

Sie meinen, der Markt rettet Afrika – wenn wir ihn nur lassen? Das tun wir ja schon, zu unseren Gunsten. Das Ergebnis sind Monokulturen und Sklavenarbeit, die nichts kosten dürfen und die Menschen nicht freier, sondern abhängiger machen.

Afrika ist nicht arm. Afrika ist reich. Und könnte viel reicher sein! Wenn wir aber schon für die Produkte der dortigen Nahrungsmittelindustrie die Grenzen dichtmachen oder unsere Produkte so hoch subventionieren, dass afrikanische Produkte gar nie hier im Regal landen können, so haben wir Afrika damit geschadet. Aller Weltrettungsrhetorik zum Trotz.

Sagen Sie das mal einem Schweizer Bauern!

Es sind nicht nur die Bauern, die Angst vor Konkurrenz und Neuem haben, sondern auch die Konsumenten. Wir beobachten: der unglaubliche Reichtum der Schweiz sorgt nicht dafür, dass die Menschen sich sicherer fühlen. Im Gegenteil: Abstiegsängste und Bewahrermentalität greifen um sich. Das gilt im Sozialen wie im Politischen. Dabei wären die Voraussetzungen optimal, um die Zivilgesellschaft neu zu entdecken – die Freiwilligkeit des Gebens ins Zentrum zu rücken. Wieso geschieht das nicht?

Ich glaube, wenn man nun das anschaut, worüber wir gesprochen haben oder auch noch gar nicht gesprochen haben: fortschreitende Virtualisierung des Lebens einerseits, anderseits: stetiger Rückgang bezahlter und bezahlbarer Arbeit; immer weitere Öffnung der Schere zwischen den wenigen, die von der Globalisierung profitieren, und den vielen – sie werden immer mehr –, die sie enteignet hat, arm gemacht hat auch an Selbstachtung und die darum bereit sind zur Rückfälligkeit in nationalistische Denkmuster; wenn wir sehen, was «Flexibilisierung» real bedeuten kann: Stellenverlust im weitesten Sinn, Prekarisierung der jungen Generation, die zugleich einem unerhörten Wettbewerbsdruck um eine unsichere Zukunft unterworfen wird, in der sie mit ihrem Einkommen, das sie nicht haben, auch noch die Rente der älteren Generation bezahlen soll – dann fällt Optimismus nicht eben leicht. Eine Zivilgesellschaft gibt es nicht ohne Teilnehmer, die sie wollen können, die glauben gelernt haben, dass sie ihre Mühe wert ist, dass sie sogar Opfer rechtfertigt. Statt weit offen zu sein, wie uns die Zukunft einmal vorkam, ist sie ein Gegenstand der Sorge darüber geworden, ob sie überhaupt stattfindet. Und der Gemeinsinn, der dafür unerlässlich ist, liegt nicht auf der Strasse, auch der Markt hat ihn nicht im Angebot: ganz im Gegenteil, er lebt davon, dass jeder sich selbst der Nächste ist. Wer so reich ist, wie wir aussehen, hält fest, was er zu haben glaubt, und versucht es gegen die Zukunft zu schützen.

Jeder Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen sagt uns aufs neue, dass von der Globalisierung nicht wenige, sondern die meisten Menschen profitieren – und zwar nicht auf Kosten der Armen. Die Armut auf der Welt, sie sinkt rapide – und die Zukunft, sie ist wahrscheinlich nicht halb so düster, wie Sie uns hier weismachen wollen. Trotzdem ist Ihr letzter Satz bemerkenswert: Sie sprechen zwar das Wort nicht aus, aber wir fragen nun direkt danach: Wie hoch ist der Grad der sogenannten «Wohlstandsverwahrlosung» in Europa und in der Schweiz?

Der Begriff hat etwas Zynisches. Natürlich bleibt wahr: wir klagen auf hohem Niveau, andere möchten unsere Probleme haben. Aber wirklicher Wohlstand – also nicht nur materieller – schlösse «Verwahrlosung» aus. Diese bedeutet ja, dass wir mit einer Errungenschaft nichts anzufangen wissen, dass sie uns vielmehr belastet. Das Malaise wäre dann das Produkt einer Freiheit, das nicht einem klassischen Zuwenig, sondern einem neuartigen Zuviel an Möglichkeiten entspringt und keine von ihnen verbindlich zu
leben erlaubt. Das ist die Kehrseite der scheinbar unbeschränkten Verfügbarkeit von Zeit und Raum, die uns der Rechner vorspiegelt. Die Person selbst nimmt etwas Virtuelles an; in der Sprache des Marktes: sie muss sich immer wieder «neu erfinden». Das ist eine grenzenlose Überforderung – und angesichts der knapp und unsicher gewordenen Arbeitsplätze eigentlich der reine Hohn. Wer sich für die Erwartung anderer de­signen muss, hört auf zu fragen, wer er wirklich ist, und erfährt immer weniger, was er eigentlich will (und soll). Er verwendet seine ganze Energie darauf, etwas vorzustellen, eine «Marke» zu werden, die Erfolg verspricht. Ist das «Wohlstand»? Die industrielle Revolution, dann der Gewinn aus zwei Weltkriegen, gewiss auch die eigene Tüchtigkeit, hat die Schweiz aus einem der ärmeren Länder Europas zum reichsten gemacht. Aber dabei hat sie ihre Geschichte verloren und durch ein paar Legenden ersetzt und lässt sich bei der Welt ihrerseits durch eine Marke vertreten – Swissness; was bedeutet sie ihren Trägern? Sicherheit. Wovor? Selbst das Bankgeheimnis hat sich in Schall und Rauch aufgelöst. Qualität? Aber welche? Oft scheint mir, wir seien nur noch die Hüter unseres eigenen Klischees, nicht mehr mit dem Ingrimm der Grenzbesetzer, sondern dem Cheese-Lächeln guter Verkäufer. Die Schweizer Geschichte ist hauchdünn und zartbitter wie ein Schoggiblättchen. Fragen Sie einmal einen SVP-Wähler, wie die Schweiz eigentlich zu ihrer Neutralität gekommen ist! Das muss er nicht wissen. Aber «verteidigen» muss er sie.

Alles, was Sie nun aufgezählt haben, kann man unter dem Label «Konservatismus» zusammenfassen. Die Schweiz galt und gilt als eher konservativ – Gretchenfrage: Ist das aus Ihrer Warte insgesamt eher Fluch oder Segen?

Auch diese Wörter sind nicht mehr, was sie waren. Die wahren Konservativen sind heute grün, eine Weile schillerten sie rötlich – ich erinnere mich, wie Erhard Eppler in den vergangenen Siebzigerjahren «Wertkonservative» – seine Sozialdemokraten – von «Strukturkonservativen» – allen andern – unterschied. Ich erinnere mich auch, wie die Leitartikel der NZZ vor Jahrzehnten noch den Ordoliberalismus predigten und den Zürcher 68ern ein strenges «Wehret den Anfängen!» zuriefen. Später waren es aber gerade die Herren über den Finanz- und Wirtschaftsteil, die aus dem Staat Gurkensalat machten. Im Thatcherismus trat der Konservatismus als rabiater Systemveränderer auf – und nach dem Fall der Mauer verbreitete sich, von der Globalisierung beflügelt, die nackte Anarchie des Kapitals. Den Schweizer Konservatismus übersetzte ich mir etwa so: Werte – schon recht, aber die Zahlen müssen stimmen.

Gesetzt den Fall, Sie haben recht: auch das werden die Menschen doch irgendwann satthaben. Wir meinen zu bemerken, dass die jüngeren Menschen sich wieder nach Werten sehnen – dabei aber nicht selten ein völliges Unwissen über das Funktionieren des Wirtschaftens zur Schau stellen. Auch diese Wendung muss doch Sorge bereiten?

Dass es ohne Markt nicht geht, sei unbestritten, sogar: ohne Markt geht nichts. Aber es geht nicht alles mit dem Markt, denn das Nötigste produziert er nicht: das Bewusstsein, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis für den Bürger etwas anderes bedeutet als für den Verbraucher und dass der Wert einer Sache unter zivilisierten Menschen etwas anderes ist als ihr Preis. Kann es sein, dass Sie für den Markt immer noch durchs Feuer gehen wollen? Dann haben Sie offensichtlich ein sehr optimistisches Menschenbild.

Durchaus. Der Mensch ist per se weder gut noch schlecht, weder Wolf noch Schaf. Er tendiert aber eher zum Schaf, wenn wir das so sagen dürfen.

Wunderbar! Nur befürchte ich, dass Ihre Überzeugung keineswegs mehrheitsfähig wäre. Ich teile sie gern, mit einem Vorbehalt: die Herde, die Gruppe, jedes Kollektiv kann aus den friedlichsten Schafen Wölfe machen – einzeln betrachtet, erscheinen sie zuverlässig wieder im Schafspelz. Umgekehrt bringt etwa der Medienkonsum der frömmsten Schafe den Raubtiergeschmack zum Vorschein. Sie mögen sich darüber beschweren, dass die Nachrichten immer nach Blut riechen – aber andere nehmen sie gar nicht zur Kenntnis; die wahren Neuigkeiten sind die schlechten. Der Markt, pfiffig, wie er sein muss, bedient auch hier die Doppelnatur seiner Kundschaft. Blut oder Idylle: es kommt darauf an, sie bei der Stange zu halten. Aufmerksamkeit ist alles. Aber fragen Sie sich doch selbst: wenn Sie eine anspruchsvolle Zeitschrift für eine hoffentlich nicht ganz verschwindende Minderheit machen: was bewegt Sie dazu? Könnten Sie mit Ihrem Markt leben, wenn Sie ganz von ihm leben müssten?

Noch schreiben wir rote Zahlen. Aber ja, wir finden immer mehr ansprochsvolle Leser – sonst würden wir die Zeitschrift ja nicht machen.

Da kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen, Sie haben ja auch beide ein – was die Marktchancen betrifft – hinreichend unpassendes Studium absolviert. Man braucht nicht mit der Zeit zu gehen, wenn diese selbst nicht weiss, wohin sie geht. Vielleicht finden wir, Sie Junge und ich Alter, uns am Schluss noch in einer Weisheit des Konfuzius zusammen: Je weniger Zeit man habe, desto weniger dürfe man auf sie achten. – Ist das keine Freiheitserklärung für eine liberale Zeitschrift?

Ein schöner Schlusssatz. Lieber Herr Muschg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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