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Lassen wir ihm das Geheimnis!

Ja, so ist es wohl: «Die Welt ist ein grosses Geheimnis! Wehe, wir decken es auf!». Der Satz steht im Debüt des 25jährigen Berners Christian Zehnder. Der schmale Band, die Erzählung «Gustavs Traum», hat es in sich – «es», das Geheimnis. Und man sollte nicht versuchen, es zu lüften. Denn dann wird es zum Rätsel […]

Ja, so ist es wohl: «Die Welt ist ein grosses Geheimnis! Wehe, wir decken es auf!». Der Satz steht im Debüt des 25jährigen Berners Christian Zehnder. Der schmale Band, die Erzählung «Gustavs Traum», hat es in sich – «es», das Geheimnis. Und man sollte nicht versuchen, es zu lüften. Denn dann wird es zum Rätsel degradiert. Christian Zehnders Erstling ist aber mehr als ein blosses, simples Ratespiel.

Obschon sich nicht nur die Familie, die stetig durch die Erzählung wandert – der Vater Gustav, die Mutter Veronika, und Dominik, der Sohn – in einer (transzendentalen) Obdachlosigkeit befindet. Dem Leser, der Leserin ergeht es genauso. Denn es ist nicht klar, warum, und weshalb schon wieder, die drei von einem Stadttor zum andern laufen, weswegen sie keine eigenen vier Wände bewohnen und das Kind nicht weiss, in welches Haus es gehört, weshalb sie Sätze sagen wie «Die Schönheit deiner Seele wird uns retten» oder «Wir feiern das Geheimnis der Freude». Solche Fragen würden sich dann stellen, wenn die äussere Handlung von zentraler Wichtigkeit wäre; diese aber hat einen geringen Anteil. Christian Zehnders Buch feiert eine übersetzte, eine übersetzende Sprache, eine, die sich von aussen nach innen bewegt. Und eine, die der Ästhetik huldigt, dem Schönen, dem Sanften. Und dem Recht der Kunst – dem Recht der Phantasie.

«Gustavs Traum» ist ein Text auf Zehenspitzen. Was er vielerorts ausspricht, liest sich suggestiv, fast flüsternd entlang der Grenze von Schlaf und Wachsein. Als Dominik zur Welt kommt, in der Werkstatt des Vaters, heisst es: «Der Hebamme war es, als hätte sie ein Kind zum ersten Mal nicht in banger, sondern melancholischer Atmosphäre zur Welt gebracht. Über dem Bett in der Ecke hingen Bilder von Mondlandschaften und Morgendämmerungen, von Waldrändern im Schatten. Über allem lag ein Schleier, ähnlich dem Dunst vor den Himmeln der Gemälde, und Veronika konnte weder weinen noch sprechen.» Wer so schreibt, befreit seine Sprache vom (Alltags-)Geschwätz, und – enorm wohltuend – seine Prosa von der Funktion eines (kurzzeitig) erfolgreichen Tagestrend-Durchlauferhitzers. Er setzt sich ein für Unverwechselbarkeit, für die eigene Klangfarbe, für Rhythmus und Melodie.

Nach Gustavs Tod kommen zwei neue Figuren ins Spiel, Juliane und Paul. Es ist von Tieren die Rede, von Pauls Esel, von Lämmern, von Glockenklang, von einer Herberge. Und wenn man liest: «So begab es sich…», und wenn auf der letzten Seite von einer Barke die Rede ist, die die paar Menschen und den Esel vor dem Regen rettet… – ja, dann ist der Gedanke an uralte Geschichten nicht mehr weit… Und die Gefahr eines Zuordnungversuchs nah. Aber eben: gute Literatur ist ein grosses Geheimnis. Wehe, wir decken es auf.

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

Christian Zehnder: «Gustavs Traum». Zürich: Ammann

2008.

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