Nacht des Monats
mit Lara Stoll
Film und Musik sind derzeit die Glücklichmacher der Slam-Poetin Lara Stoll.
Lara sieht nicht gut aus. Ihr Gesicht ist ungleichmässig gerötet, ihre Nase rotzgefüllt. In ihren Augen verästeln sich Blutäderchen fast wie Flussdeltas. Auf dem linken Unterarm befindet sich eine kleine Entzündung, Werk einer Stechmücke, das ihr keine Ruhe lässt. Sie nagt mit ihren Zähnen daran, subkutan bildet sich ein kleiner Bluterguss. Kratzen geht nicht, denn der Zeigefinger ihres rechten Armes steckt im Abfluss der Badewanne fest – seit 50 Stunden ist sie in ihrem Badezimmer gefangen. Deziliterweise Shampoo als Schmiermittel hat nichts geholfen, den Finger – wenn überhaupt – noch weiter reingeschoben. In der Wohnung über ihr ertönt tieffrequent eine Bohrmaschine. Lara schreit aus vollem Leib um Hilfe. Niemand hört sie. Das Bohrgeräusch ebbt kurz ab, ertönt gleich darauf wieder, beginnt zu hallen, mit tiefem, vollem Bass, wird bedrohlich wie der Laut in Steven Spielbergs Verfilmung von Orwells «Krieg der Welten», wenn die Tripods der Marsianer angreifen. Eine Rettung ist nicht in Sicht.
Ich treffe Lara Stoll, 31, bekannt geworden als Slam Poetin, im Kreis 4 in Zürich. Sie sitzt auf den Treppenstufen vor einem kleinen Gebäude zwischen Zweier- und Badenerstrasse, das aussieht wie ein altes WC-Häuschen. Dort hatte sie gerade Proben für «Stefanie Stauffacher», ihr aktuelles Musikprojekt. Ja, Lara singt! Wobei «singen»: es ist eher Slam Poetry über düsterer elektronischer Musik – nichts, womit jemand, der die Frage nach seinem Musikgeschmack mit «Ja, halt so bitz, was im Radio lauft» beantwortet, jemals in Berührung käme – aber für Genrevertraute durchaus reizvoll. Auch als Schauspielerin ist sie aktiv, von 2011 bis 2015 absolvierte sie an der ZHdK ein Filmstudium; ihr erster Spielfilm – «Das Höllentor von Zürich», eine Zero-Budget-Produktion, Kammerspiel, Lara gefangen im Badezimmer, gedreht von ihrem (nunmehr Ex-)Freund Cyrill Oberholzer – lief im Sommer in einigen Kinos. «Ich brauche diesen kreativen Output, damit ich nicht depressiv werde. Es gab Zeiten, wo ich nur Slam Poetry gemacht habe und mich kreativ zu wenig ausleben konnte. Da ging es mir nicht gut.»
Mit unseren Velos an der Hand schlendern wir langsam – wegen unerwartet frühem Probenende müssen wir etwas Zeit totschlagen – in Richtung Kasernenareal. Lara hat im «Italia» reserviert, ihrem Lieblingsrestaurant, einen Purzelbaum von ihrem Zuhause entfernt. Dutzenden Optionen zum Trotz entscheiden wir uns beide für den Heilbutt.
Lara gibt im «Höllentor» körperlich wie psychisch viel von ihr preis, ist oft unvorteilhaft abgelichtet. Ist das okay für sie? «Nun, wenn ich das von Anfang an gewusst hätte, also… doch, ich hätte es wohl trotzdem gemacht. Für Kunst bin ich bereit, fast alles zu tun. Aber ja, als ich mir den ersten Rohschnitt anschaute, war ich etwas schockiert. Cyrill kam ja auch nur so nahe an mich ran, weil wir damals noch ein Paar waren. Ich fühlte mich anfangs offen gesagt ein wenig benutzt. Mit einer anderen Person hätte er diesen Film nicht einfach so drehen können.» Vor allem dass sie das Werk noch nicht ihren Eltern zeigen konnte, bedauert Lara.
Und doch sind Film und Musik derzeit Laras Glücklichmacher. Mit Slam Poetry verdiene sie dagegen ihr Geld. Ihren ersten Slam hatte sie schon mit 18, spontan, kurz nachdem sie zum ersten Mal als Zuschauerin eine solche Veranstaltung besucht hatte. «Ich hätte mir besser noch ein paar Slams mehr angeschaut, denn ich war schlecht, wurde Zweitletzte, völlig zu Recht», lacht sie. «Ich machte einen zweiten, einen dritten Slam, auch die nicht gut, wollte aber nicht aufhören – weil man so nicht aufhört.» Irgendwann sei dann der Knoten geplatzt. Erst seit einigen Jahren wisse sie allerdings mit Sicherheit, was beim Publikum funktioniere und was nicht. «Das ist entspannend, denn eigentlich bin ich zu sensibel für die oft harschen Reaktionen eines undurchschaubaren Publikums. Andererseits war es genau diese Unberechenbarkeit, die mich damals an Slam Poetry faszinierte.» Ihre Auftrittsangst hat Lara trotzdem noch nicht ganz überwunden. Sie beschränkt sich deshalb auf ein bis zwei Einsätze pro Woche. Und die Zukunft? «Wenn es so weitergeht wie bisher, bin ich zufrieden: Slam-Poetry-Auftritte für den Lebensunterhalt; Film und Musik zur Selbstverwirklichung: das passt!» Und ja, sie sieht glücklich damit aus. Und gut.