Langsamer Abschied vom Sonderfall
Die Schweizer Volksrechte sind die radikalste Form der Demokratie und haben uns das langweiligste Regierungssystem der Welt beschert. Das auf Konsens ausgerichtete Modell stösst jedoch an Grenzen.
Football is a gentleman’s game played by hooligans. Rugby is a hooligan’s game played by gentlemen», pflegen die Engländer zu sagen. In Abwandlung davon könnte man sagen: Die repräsentative Demokratie der meisten europäischen Staaten ist ein Spiel für Gentlemen, das von Hooligans gespielt wird, und die halbdirekte Demokratie in der Schweiz ist ein Spiel für Hooligans, das von Gentlemen gespielt wird.
Die schweizerischen Volksrechte sind die radikalste Form der Demokratie. Am Abstimmungssonntag entscheidet die Mehrheit über Sein oder Nichtsein, ohne Schattierungen oder Kompromisse. Die Eliten der schweizerischen Politik haben Strategien entwickelt, um dem Schwert der direkten Demokratie seine Schärfe zu nehmen. Referendumsfähige Interessengruppen werden frühzeitig einbezogen. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen verhandeln nicht nur über Gesamtarbeitsverträge, sondern reden auch bei Gesetzesvorhaben mit. Die Vorlage zur Reform der beruflichen Vorsorge etwa basiert auf einem Kompromiss der Sozialpartner. Im Bundesrat sitzen alle grossen Parteien. Die schweizerische Demokratie ist ein System des institutionalisierten Misstrauens. Weil man dem Gegner nicht traut – der einem jederzeit Referenden und Volksinitiativen zwischen die Beine werfen kann –, lässt man ihn eben mitspielen. Nicht aus Grosszügigkeit, sondern aus Einsicht in die Realität der Machtverhältnisse.
Das Parteiensystem taut auf
Die institutionalisierte Machtteilung hat der Schweiz Stabilität gebracht. Doch sie stösst an Grenzen. Ein Grund liegt im Parteiensystem. Der Einbezug von Interessengruppen basiert darauf, dass diese die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bündeln und vertreten. Lange war die Zuordnung zu diesen Gruppen relativ klar. Konservative Katholiken wählten CVP, konservative Protestanten BGB, das liberale Bürgertum FDP und die Arbeiter SP. So klar war die Zuordnung – nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen westlichen Demokratien –, dass Politikwissenschafter ab den 1960er-Jahren von einem «eingefrorenen Parteiensystem» sprachen.1 Wahlen brachten meist nur marginale Verschiebungen der Parteistärken, und bei Abstimmungen folgten die Wähler relativ geschlossen den Parteiparolen. Um an der Urne zu gewinnen, reichte es in der Regel, drei von vier Bundesratsparteien im Boot zu haben. Oft standen sogar alle Regierungsparteien auf der gleichen Seite – etwas, das heute Seltenheitswert hat.
Die Folge war eine Politik, die ziemlich berechenbar und ziemlich langweilig war. Dies im Gegensatz zu anderen Ländern wie Grossbritannien, wo stets Tories oder Labour vier Jahre lang die Politik bestimmten, oder Frankreich, wo sich Sozialisten und Konservative an der Macht abwechselten.
Doch die Art und Weise, wie Bürger wählen, hat sich verändert. Welche Wahlentscheidung jemand trifft, hängt heute weniger vom eigenen soziodemografischen Hintergrund ab. Die wenigsten Menschen bleiben stets einer Partei treu. Vielmehr wählen sie die Partei, welche die besten Antworten auf die Themen gibt, die sie gerade beschäftigen. Die soziale Herkunft, die Religion oder der Wohnort spielen zwar bei Abstimmungen und Wahlen eine Rolle, es bilden sich auch neue Blasen, aber eher themenspezifisch.
Das ist zunächst einmal positiv. Es bedeutet aber auch, dass sich Parteien stärker um Wähler bemühen müssen. Sie brauchen ein klares Profil, müssen ihre Themen pflegen und Vorschläge bringen, die sie von den anderen abheben. Nicht zufällig haben Parteien in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Volksinitiativen lanciert – wozu eigentlich wenig Anlass bestünde, wenn man im Parlament und sogar in der Regierung sitzt. Das belebt die Politik, passt allerdings nicht besonders gut zu einem politischen System, das auf Konsens ausgerichtet ist.
Fundamentalopposition statt Lösungen
Weil sich die meisten Bürger nicht langfristig an eine Partei binden wollen, werden Bewegungen und Pop-up-Organisationen wichtiger, die ein bestimmtes Thema pushen und Leute kurzzeitig mobilisieren, ohne sich in die Niederungen der institutionalisierten Politik mit ihren Sachzwängen und dem Feilschen um Kompromisse zu begeben. Die jungen Klimastreikenden fielen durch eingängige Forderungen und spektakuläre Aktionen auf. Doch als es um konkrete Vorschläge zur Reduktion des CO2-Ausstosses ging, verzettelten und zerstritten sich die Aktivisten. Es ist eben einfacher, sich gegen das «System» zu stellen, als konkrete Lösungen zu erarbeiten. Das mussten auch die Coronamassnahmengegner erfahren. Sie übertrafen sich mit immer fundamentalistischeren Positionen, so dass sie letztlich kaum Einfluss auf die Coronapolitik hatten und mit wehenden Fahnen in der Versenkung verschwunden sind.
Themen poppen auf, Empörungswellen bauen sich auf, politische Akteure versuchen sie zu reiten, bevor sie wieder abebben. Das mag kurzfristig eine erfolgversprechende Strategie sein. Es sind aber nicht die besten Aussichten für das System der direkten Demokratie, das sensibel ist für kurzfristige Stimmungen und das gerade deshalb auf einen gewissen Konsens unter den Parteien angewiesen ist. Die ersten acht AHV-Revisionen waren derart wenig umstritten, dass nie ein Referendum dagegen zustande kam. Demgegenüber ist heute bei jeder Reform einer Sozialversicherung der Widerstand an der Urne so sicher wie das Amen in der Kirche.
«Die schweizerische Demokratie ist sehr gut darin, auf Tendenzen in der Volksseele, auf Bedürfnisse der Bevölkerung zu reagieren.»
Die schweizerische Demokratie ist sehr gut darin, auf Tendenzen in der Volksseele, auf Bedürfnisse der Bevölkerung zu reagieren. Die Konkordanz bindet auch die Parteien an den Rändern in die Verantwortung ein und entschärft so deren destruktives Potenzial. Referenden und Volksinitiativen sind ein effektives Ventil für Unzufriedenheit, die sonst auf die Strasse getragen würde. Mit Gegenvorschlägen können die Anliegen von Initiativen aufgenommen werden, ohne dass radikale Anpassungen vorgenommen werden müssen. Das System kann aber weniger gut mit Kräften umgehen, die mehr Interesse an ideologischer Reinheit als an konkreten Lösungen haben.
Blocher, der Euro-Turbo
Christoph Blocher hat ab den 1990er-Jahren einen neuen, kompromisslosen Politikstil geprägt, mit dem er die direkte Demokratie zu seinem Vorteil zu nutzen wusste. Die Ironie ist, dass nun die schweizerische Demokratie sich zunehmend dem europäischen, repräsentativen Modell angenähert hat: Eine Seite erringt die Mehrheit und setzt ihre Politik durch, bis die andere Seite die Macht übernimmt. Historisch gesehen ist das keine völlig neue Entwicklung; nach der Gründung des Bundesstaats 1848 dauerte es immerhin 43 Jahre, bis mit dem Katholisch-Konservativen Josef Zemp der erste Nichtfreisinnige in den Bundesrat gewählt wurde, und weitere 68 Jahre, bis mit der Zauberformel die Vertretung aller grossen Parteien gemäss ihrer Wählerstärke eingeführt wurde. Als die grüne Welle 2019 einen massiven Linksrutsch im Parlament auslöste, wurden sofort Rufe laut, diese Veränderung müsse sich auch im Bundesrat niederschlagen. Das Tabu der Abwahl von Bundesräten wankt. Gut möglich, dass künftig nach jeder Wahl die Zusammensetzung der Regierung angepasst wird, um die neuen Mehrheitsverhältnisse abzubilden. An Gepflogenheiten oder Zauberformeln wird sich jedenfalls niemand gebunden fühlen, der sich die Rettung des Planeten oder mindestens der Schweiz auf die Fahne geschrieben hat.
Damit würde aber auch die Konkordanz als Gegengewicht zum radikalen Instrument der Volksrechte an Bedeutung verlieren. Das macht die direkte Demokratie zum einen unberechenbarer. Regierungsparteien haben keine Hemmungen, ihre eigenen Bundesräte mit Lügenkampagnen zu bekämpfen, wie die SP bei der Rentenreform, oder die Regierung der Diktatur zu bezichtigen, wie die SVP während der Pandemie.
Die Akteure haben zum andern wenig Anreize, Kompromisse einzugehen und mitzutragen, weil sich damit an der Urne kein Blumentopf und auf Social Media keine Likes gewinnen lassen. Selbst für Regierungsparteien verkauft sich ein Oppositionskurs besser. Das erschwert die nötigen Reformen bei den Unternehmenssteuern, in der Altersvorsorge oder beim Klimaschutz, die ohnehin schon schwierig genug sind.
Der Konsens in der Konsensdemokratie Schweiz wird brüchig. Aber vielleicht liegt darin auch ihre Chance. Gerade in Krisenzeiten hat sich die Stabilität des schweizerischen politischen Systems bewährt. Und gerade Krisen sind eine Gelegenheit, sich zu besinnen und unsinnige Blockadepositionen zu hinterfragen.
Martin Lipset und Stein Rokkan: Party Systems and Voter Alignments. New York: Free Press, 1967. ↩