Langsamer Abschied vom Sonderfall
Lukas Leuzinger, fotografiert von Daniel Jung.

Langsamer Abschied vom Sonderfall

Die Schweizer Volksrechte sind die radikalste Form der Demokratie und haben uns das langweiligste Regierungssystem der Welt beschert. Das auf Konsens ausgerichtete Modell stösst jedoch an Grenzen.

Football is a gentleman’s game played by hooligans. Rugby is a hooligan’s game played by gentlemen», pflegen die Engländer zu sagen. In Abwandlung davon könnte man sagen: Die repräsentative Demokratie der meisten europäischen Staaten ist ein Spiel für Gentlemen, das von Hooligans gespielt wird, und die halbdirekte Demokratie in der Schweiz ist ein Spiel für Hooligans, das von Gentlemen gespielt wird.

Die schweizerischen Volksrechte sind die radikalste Form der Demokratie. Am Abstimmungssonntag entscheidet die Mehrheit über Sein oder Nichtsein, ohne Schattierungen oder Kompromisse. Die Eliten der schweizerischen Politik haben Strategien entwickelt, um dem Schwert der direkten Demokratie seine Schärfe zu nehmen. Referendumsfähige Interessengruppen werden frühzeitig ein­bezogen. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen verhandeln nicht nur über Gesamtarbeitsverträge, sondern reden auch bei Gesetzesvorhaben mit. Die Vorlage zur Reform der beruflichen Vorsorge etwa basiert auf ­einem Kompromiss der Sozialpartner. Im Bundesrat sitzen alle grossen Parteien. Die schweizerische Demokratie ist ein System des institutionalisierten Misstrauens. Weil man dem Gegner nicht traut – der einem jederzeit Referenden und Volksinitiativen zwischen die Beine werfen kann –, lässt man ihn eben mitspielen. Nicht aus Grosszügigkeit, sondern aus Einsicht in die Realität der Machtverhältnisse.

Das Parteiensystem taut auf

Die institutionalisierte Machtteilung hat der Schweiz Stabilität gebracht. Doch sie stösst an Grenzen. Ein Grund liegt im Parteiensystem. Der Einbezug von Interessengruppen basiert darauf, dass diese die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bündeln und vertreten. Lange war die Zuordnung zu diesen Gruppen relativ klar. Konservative Katholiken wählten CVP, konservative Protestanten BGB, das liberale Bürgertum FDP und die Arbeiter SP. So klar war die Zuordnung – nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen westlichen Demokratien –, dass Politikwissenschafter ab den 1960er-Jahren von einem «eingefrorenen Parteiensystem» sprachen.1 Wahlen brachten meist nur marginale Verschiebungen der Parteistärken, und bei Abstimmungen folgten die Wähler relativ geschlossen den Parteiparolen. Um an der Urne zu gewinnen, reichte es in der Regel, drei von vier Bundesratsparteien im Boot zu haben. Oft standen sogar alle Regierungsparteien auf der gleichen Seite – etwas, das heute Seltenheitswert hat.

Die Folge war eine Politik, die ziemlich berechenbar und ziemlich langweilig war. Dies im Gegensatz zu anderen Ländern wie Grossbritannien, wo stets Tories oder Labour vier Jahre lang die Politik bestimmten, oder Frankreich, wo sich Sozialisten und Konservative an der Macht abwechselten.

Doch die Art und Weise, wie Bürger wählen, hat sich verändert. Welche Wahlentscheidung jemand trifft, hängt heute weniger vom eigenen soziodemografischen Hintergrund ab. Die wenigsten Menschen bleiben stets einer Partei treu. Vielmehr wählen sie die Partei, welche die besten Antworten auf die Themen gibt, die sie gerade beschäftigen. Die soziale Herkunft, die Religion oder der Wohnort spielen zwar bei Abstimmungen und Wahlen eine Rolle, es bilden sich auch neue Blasen, aber eher themenspezifisch.

Das ist zunächst einmal positiv. Es bedeutet aber auch, dass sich Parteien stärker um Wähler bemühen müssen. Sie brauchen ein klares Profil, müssen ihre Themen pflegen und Vorschläge bringen, die sie von den anderen abheben. Nicht zufällig haben Parteien in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Volksinitiativen lanciert – wozu eigentlich wenig Anlass bestünde, wenn man im Parlament und sogar in der Regierung sitzt. Das belebt die Politik, passt allerdings nicht besonders gut zu einem politischen System, das auf Konsens ausgerichtet ist.

Fundamentalopposition statt Lösungen

Weil sich die meisten Bürger nicht langfristig an eine Partei binden wollen, werden Bewegungen und Pop-up-Organi­sationen wichtiger, die ein bestimmtes Thema pushen und Leute kurzzeitig mobilisieren, ohne sich in die Niederungen der institutionalisierten Politik mit ihren Sachzwängen und dem Feilschen um Kompromisse zu begeben. Die jungen Klimastreikenden fielen durch eingängige Forderungen und spektakuläre Aktionen auf. Doch als es um konkrete Vorschläge zur Reduktion des CO2-Ausstosses ging, verzettelten und zerstritten sich die…