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Lange, bernsteinfarbene Beine…

Es ist beileibe nicht einfach, Zsuzsanna Gahses neuen Roman literarisch einzuordnen. Das Buch ist ebenso Kranken- wie Liebesgeschichte, ein Lehrstück über die Macht der Erinnerung und nicht zuletzt eine Reflexion über das Erzählen selbst. Doch der Reihe nach. Alles beginnt mit einer ganz alltäglichen Begebenheit. Die Ich-Erzählerin, eine Frau um die fünfzig, besucht einen befreundeten […]

Es ist beileibe nicht einfach, Zsuzsanna Gahses neuen Roman literarisch einzuordnen. Das Buch ist ebenso Kranken- wie Liebesgeschichte, ein Lehrstück über die Macht der Erinnerung und nicht zuletzt eine Reflexion über das Erzählen selbst. Doch der Reihe nach. Alles beginnt mit einer ganz alltäglichen Begebenheit. Die Ich-Erzählerin, eine Frau um die fünfzig, besucht einen befreundeten Goldschmied im Krankenhaus, um Ideen für künftige Schmuckprojekte zu notieren. Noch ehe sich die beiden richtig begrüsst haben, macht sich die Erzählerin auf die Suche nach einer Vase für die mitgebrachten Blumen. Im Flur wird sie vom plötzlich einfallenden Sonnenlicht geblendet und sieht sekundenlang die leuchtende Silhouette eines Mannes – ein paar Schuhe, zwei lange, bernsteinfarbene Beine, Rücken und Kopf. Für die Erzählerin ist dennoch sofort klar, dass es sich um Roman handelt, ihren «Lebensmenschen», mit dem eine wechselvolle Geschichte sie verbindet. Die Erscheinung löst bei der Erzählerin eine Flut von Erinnerungen aus, die ungeordnet und gegen ihren Willen über sie hereinbrechen. Aus den Erinnerungssplittern wird nach und nach deutlich, dass beide einen Teil ihrer Schul- und Studienzeit miteinander verbracht haben, sich anschliessend fünfzehn Jahre lang aus den Augen verloren und nach einem zufälligen Wiedersehen zwei Jahre lang eine Affäre hatten. Zu der Zeit war Roman bereits mit einer Slowenin verheiratet, hatte Haus und Tochter und führte ein gutbürgerliches, um nicht zu sagen spiessiges Leben. Geradezu hämisch erinnert sich die Erzählerin an die Spitzendecken auf den Sessellehnen in Romans Wohnung, «die aussahen, als hätte man ihnen Präservative übergestülpt».

Im Laufe des Krankenhaustags kommt es noch zu mehreren Begegnungen mit Roman, der sich der Erzählerin immer wieder zu entziehen scheint und von dem sie nie mehr zu sehen bekommt als flüchtige, sonnengelbe Schemen. Ihre vergeblichen Nachstellungen vergleicht sie selbstironisch mit der Jagd auf den Gott Pan, der in seiner Mittagsruhe nicht gestört werden will. Zuletzt bleibt fraglich, ob die Lichtgestalt im Flur tatsächlich Roman war, zumal die Erzählerin alles daransetzt, ihre Glaubwürdigkeit beim Leser zu erschüttern. So lässt sie neben dem einstigen Geliebten noch eine Reihe weiterer Bekannter auftauchen, unter anderem ihre Freundin Hanna, die eigentlich auf Reisen in Griechenland sein müsste und nun ein Symposion vorbereitet, dessen Teilnehmer in Trainingshosen und Strandlatschen anreisen. Ungewöhnlich ist auch, dass die Patienten alle gemeinsam einen alten Schlager summen, der ausgerechnet «Yellow Bird» heisst und sich nahtlos in die Assoziationskette von Honig, Sonne und Bernstein einfügt. Zugleich stiften diese Motivkomplexe den eigentlichen Erzählzusammenhang zwischen den sporadischen, oft widersprüchlichen Beobachtungen der Erzählerin.

Wie auch in ihren anderen Büchern, zeigt Zsuzsanna Gahse in «Oh, Roman» wenig Interesse an einer linearen, einem artigen Nacheinander folgenden Erzählweise. Ihre kurzen, häufig nur wenige Sätze umfassenden Absätze schaffen vielmehr einen Erzählraum, den der Leser nicht auf einer geraden Linie von A nach B durchschreiten kann, sondern nach Belieben in verschiedene Richtungen erkunden und für sich entdecken soll. «Ordnungen mit früher und nachher sind nicht nötig», heisst es an einer Stelle selbstbewusst. Wer sich als Leser darauf einlässt, der Prosa Zsuzsanna Gahses in ihren überraschenden Wendungen, Variationen und Sprüngen zu folgen, darf sich auf ganz neue ästhetische Erfahrungen freuen: «Sichtbar wird ein verschlungener Raum, gewunden und schön wie ein Hirn.» Erst recht, wenn es wie Bernstein leuchtet.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Zsuzsanna Gahse: «Oh, Roman». Wien: Edition Korrespondenzen, 2007.

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