Landesverteidigung als globalisierbare Strategie
Die autonome Landesverteidigung ist eigentlich ein pazifistisches Konzept. Und ein realistisches. Es ist zu Unrecht in Verruf geraten. Höchste Zeit, es neu zu lancieren.
Wer die Welt beherrschen will, wird sich als Eroberer stets nach neuen Koalitionspartnern umsehen und dem Mythos der Stärke durch Grösse huldigen. Wer hingegen sein eigenes Land verteidigen will, tut gut daran, die grösstmögliche Sicher-heit konsequent auf die eigenständigen Bedürfnisse und Möglichkeiten der kleinen und kleinsten territorialen Gemein-schaften abzustützen.
Die Wissenschaft der Kriegskunst hat sich traditionellerweise stets gleichzeitig mit Angriff und Verteidigung befasst und dabei in erster Linie territorial unabhängige und polyvalent einsetzbare Kampforganisationen und -instrumente entwickelt. Wer einem Land Gewaltanwendung von aussen ersparen will, versucht mit guten Gründen, mögliche Geg-ner bereits ausserhalb der eigenen Grenzen zu bekämpfen. Die Grenzen zwischen Angriff und Präventivverteidigung werden so verwischt. Die Landesverteidigung als Kampf im eigenen Land ist, so gesehen, bloss ein Notbehelf. Doch wird zuwenig beachtet, dass das Prinzip auch friedenspolitische Dimensionen hat, dann zumal, wenn man es globalisie-ren könnte.
Leider haben die durchaus bemerkenswerten Versuche der Schweiz, eine rein defensive Strategie des Kleinstaats zu entwerfen und zu verwirklichen, intern und extern zuwenig zum Weiterdenken angeregt. Die Politik der «Sicherheit durch Kooperation» – die bewaffnete Auslandeinsätze nicht ausschliesst – und das offene Eingeständnis, den verfas-sungsmässigen Auftrag der Landesverteidigung nur noch bedingt ohne Bündnispartner erfüllen zu können, sind vor dem Hintergrund einer umfassenden Verteidigungsstrategie durchaus unüberlegte und gefährliche Experimente.
Warum? Eigentlich ist die Konzentration der militärischen Sicherheitsproduktion auf die konsequente Nichteinmi-schung und die Behauptung des eigenen Territoriums ein gemässigt pazifistisches Projekt, das ideologisch «zwischen allen Stühlen» sitzt. Wer auf jede noch so gutgemeinte und als Verteidigung getarnte Offensive verzichtet, strebt nicht nach Grösse, Zentralität und Vernetzung. Er wählt vielmehr eine konsequente Politik der Eigenständigkeit, des Non-Zentralismus und der Gesamtverteidigung kleiner und kleinster Territorien als Ausgangspunkt der Selbstbehaup-tung.
Dies ist nicht Ausdruck einer rein konservativen und den Sonderfall Schweiz strapazierenden Igelmentalität. Im Ge-genteil. Wenn ich auf Auslandreisen Vorträge zum Thema Föderalismus, Subsidiarität und Minderheitenschutz halte, werde ich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass als sicherheitspolitisches Pendant für kleinere und mittlere Nationalstaaten eine Strategie der konsequent (und kontrollierbar!) auf Angriffsfähigkeit verzichtenden, eigenständigen Territorialverteidigung entwickelt werden müsste. Da dies organisatorisch sehr anspruchsvoll ist, massgeschneiderte Lösungen voraussetzt und keine milliardenschweren Investitionen in sowohl angriffs- als auch verteidigungsfähige Su-perwaffensysteme erfordert, machen die massgeblichen globalen Sicherheitsexperten und -verkäufer darumherum einen grossen Bogen. Angriffsfähige Grossmachtarmeen sind als Kunden interessanter als territorial gebundene Guerillakämp-fer, von denen allerdings bezüglich Kräfteeinsatz und -ökonomie viel zu lernen wäre.
Für eine wirksame Landesverteidigung braucht es die Identität von Bevölkerung und Armee. Eigentlich sollte jedes Dorf und jede Stadt mit den eigenen Leuten und auf der Basis der bereits vorhandenen materiellen und personellen Infrastruktur die gemeinsame Sicherheitsproduktion gewährleisten. Was im Fall von Naturkatastrophen unmittelbar einleuchtet, ist im Fall der multiplen Kulturkatastrophe namens Krieg sinngemäss und stufengerecht umzusetzen. Stichworte dazu: Milizprinzip, Bürger in Uniform, Dezentralisierung der Verteidigungsgewalt, keine Berufsarmee als Instrument der politischen Machthaber. Die nationale militärische Landes-verteidigung müsste nur die materielle und organisatorische Infrastruktur, die lagegerechte Mobilisierung, den jeweiligen Ausbildungs-, Ausrüstungs- und Marsch-bereitschaftsgrad der Truppen und des defensiven Hindernis- und Zerstörungswesens sowie des Zivilschutzes festlegen. Und sie müsste die Koordination bzw. Kommunikation sicherstellen und eine mobile Reserve für allenfalls notwendige konzentrierte Gegenangriffe im eigenen Land bereithalten.
Die Strategie des eigenständigen Kleinstaates ist etwas völlig anderes als die Strategie von Imperien. Man darf sich darum nicht von Experten aus diesen Grossmächten beraten lassen. Solche Berater neigen verständlicherweise dazu, kleinere Länder im eigenen Machtinteresse zu instrumentalisieren.
Mit reinem Strukturkonservatismus und Nostalgie ist allerdings weder die Milizarmee zu retten noch eine nachhaltig praktizierbare sicherheitspolitische Konzeption (die ihrem Wesen nach eine Gesamtverteidigungskonzeption sein sollte) zu formulieren. Was es braucht, sind kluge Köpfe, die in der Lage sind, ein Denken in grundsätzlichen sicherheitspoli-tischen Bereitschaftsgraden zu entwickeln, das die gemeinsame Sicherheitsproduktion im Sinn der Landesverteidigung und des Katastrophenschutzes gewährleistet, ohne die öffentlichen Finanzen zu strapazieren. Die Armee ist nur ein Teilbereich der Gesamtverteidigung und darf nicht als immer autonomeres, multifunktional instrumentalisierbares Subsystem des Staatsapparats gedeutet werden, sondern als jenes letzte Mittel, das im Fall der Bedrohung durch Gewalt als Gegengewalt taugen muss.
Die Armee wird heute (wie in potentiell interventions- bzw. angriffsfreudigen Ländern) wieder viel mehr isoliert als ein Instrument des Staates betrachtet, indem die allenfalls blutige «Drecksarbeit» durch eine selektionierte Spezialgruppe im Dienst des Gemeinwohls verrichtet wird, die man relativ hemmungslos auch auf dem internationalen militärischen Interventionsmarkt anbieten kann. Dies widerspricht diametral dem republikanischen Gedanken der Konzentration auf eine Selbstverteidigung aller durch alle. Der Schweizer Germanist und Stratege Karl Schmid wird zwar heute geehrt und gefeiert, aber die sicherheits- und friedenspolitische Originalität und Aktualität seiner umfassenden, ethisch fundierten Verteidigungs- und Sicherheitsdoktrin und die Übertragbarkeit auf andere kleinere Staaten (vor allem auch auf Ent-wicklungsländer oder kleine Länder mit grossen Nachbarn) droht in Vergessenheit zu geraten. Ebenso wie der Beitrag dieser Doktrin zum Weltfrieden, der damit verbunden wäre.
Wer Sicherheit kollektiv und durch Bündnisse schaffen will, verrechnet sich; das heisst, er liefert sich dem jeweils mächtigsten Bündnispartner bzw. der tonangebenden Mehrheit auf Gedeih und Verderb aus. Damit verliert er die Handlungsfreiheit. Sicherheit entsteht aus lauter kleinen und kleinsten defensiven Sicherheitsinseln, die sich zwar nach Bedarf ad hoc vernetzen können, aber notfalls auch autonom (und intrinsisch motiviert!) Sicherheit produzieren, Ab-wehr leisten und lokal als Widerstandsnester gegen Aggressoren kämpfen, indem sie ihnen zunächst den Eintritt ver-wehren und nachher den Aufenthalt vermiesen.
Potentielle Angreifer wird es immer geben. Je wohlhabender man ist, desto grösser wird der Appetit möglicher Ag-gressoren. Kein Land kann sich so beliebt machen, dass es weltweit auf die Dauer nur noch «von Freunden umzingelt» wäre. Aber man kann sich als potentielles Aggressionsziel so bewaffnen, vorbereiten und immunisieren, dass Angriffe unwahrscheinlicher werden und dass sie, wenn sie trotzdem stattfinden, unschädlicher ausfallen.
Angesichts grundsätzlich offener aussenpolitischer Optionen im Zielvieleck Neutralität, Solidarität, Disponibilität und Universalität muss von mehreren möglichen Szenarien der kollektiven Sicherheitsproduktion ausgegangen werden. Dabei wird sich zeigen, dass jede autonome Verteidigung grundsätzlich in einen grösseren Defensivrahmen integrierbar ist. Eine umgekehrt primär auf Kooperation und Intervention angelegte Sicherheitspolitik ist jedoch kaum mehr auto-nomisierbar.
Eine Autonomiekonzeption muss daher allein schon aus entscheidungstheoretischen Gründen Vorrang haben; sie ist polyvalenter bzw. multioptionaler, und sie visiert nicht den wahrscheinlichsten, sondern den gefährlichsten und historisch leider nicht allzu seltenen Fall an: das allseitige Imstichgelassenwerden!