«Länger arbeiten bringt mehr als Einwanderung»
Westliche Länder sind schlecht auf den demografischen Wandel vorbereitet, warnt Bevölkerungsforscherin Jennifer Sciubba. Dennoch zieht sie es vor, in einer älteren Gesellschaft zu leben.
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Jennifer Sciubba, haben wir zu viele oder zu wenige Menschen auf dem Planeten?
Ich denke nicht, dass diese Frage auf globaler Ebene beantwortet werden kann. Man muss den lokalen Kontext betrachten. Zwei Länder können sehr ähnliche demografische Profile haben, aber sehr unterschiedliche wirtschaftliche, soziale oder politische Ergebnisse. Ich glaube nicht, dass die Erde insgesamt überbevölkert ist, vor allem, da das Bevölkerungswachstum bereits zurückgegangen ist.
Warum sind die Geburtenraten in Industrieländern heute so niedrig?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Es gibt verschiedene Stufen von niedrig. Zum Beispiel haben eine Handvoll Länder Fertilitätsraten über 1,5 Kindern pro Frau, aber immer noch unter dem Wert von 2,1, der langfristig nötig ist, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Es gibt auch eine zunehmende Anzahl von Ländern mit «superniedriger» Fruchtbarkeit, wie Südkorea oder Singapur. Die Dynamik ist in diesem Kontext etwas anders. Generell kann man sagen, dass es wirtschaftliche und kulturelle Gründe gibt. Die wirtschaftlichen Gründe sind einfach zu identifizieren: Es ist teuer, Kinder zu bekommen, grosszuziehen und auszubilden. Wohnraum ist kostspielig. Das Angebot ist zu tief. Kinderbetreuung ist teuer. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in vielen Ländern hoch, was es für sie schwierig macht, Jobs zu finden. Zusätzlich gibt es in den USA ein erhebliches Problem mit Schulden durch das Studium.
Was ist mit kulturellen Faktoren?
Es gibt einen Sinneswandel. Jüngere Menschen sehen heutzutage das Kinderkriegen nicht mehr als so wertvoll an wie Menschen in der Vergangenheit. Sie haben Mühe zu verstehen, wie ihr Leben mit Kindern besser sein könnte. Dadurch haben sie einen anderen Blick auf die Kosten. Das frustriert Politiker. Sie sagen den Leuten: «Nun, ihr habt geklagt, Kinder seien zu teuer, also geben wir euch mehr Geld dafür.» Aber die Fertilitätsraten zu erhöhen, scheitert oft, weil es nie nur um eine Sache geht. Wenn wir die Länder mit extrem niedrigen Fertilitätsraten betrachten, insbesondere in Asien, stellen wir fest, dass es in Wirklichkeit um Geschlechterpolitik geht. In dieser Region sind patriarchalische Normen in Gesetzen und Praktiken verankert, was dazu führt, dass Menschen die Ehe ablehnen, was wiederum ein entscheidender Schritt vor dem Kinderkriegen ist. Ich werde in Asien oft von Menschen gefragt: «Wenn es wirklich um Geschlechterverhältnisse geht, warum ist dann Finnlands Fertilitätsrate nicht höher?» Nun, sie ist immer noch um ein halbes Kind höher als jene Südkoreas, was viel ist. Das zeigt die Komplexität, dass es nie nur um ein oder zwei Faktoren geht; es ist eine ganze Liste von Faktoren.
Wenn ich mir meine Generation und jüngere Generationen anschaue, bekomme ich den Eindruck, dass wir heute so viele Möglichkeiten haben und so viel Angst, etwas zu verpassen, dass wir es verpassen, Kinder zu bekommen.
Das ist ein Teil der Erklärung. Wir sollten in dieser Diskussion auch die Technologie thematisieren. Wir brauchen mehr Forschung dazu, aber anekdotisch und logisch betrachtet ist die Sache klar. Viele Menschen zeigen in den sozialen Medien eher die negativen als die positiven Seiten. Wenn Sie ein zweijähriges Kind haben und auf Facebook über Ihren Morgen sprechen, werden Sie möglicherweise nicht schreiben: «Das war der beste Morgen meines Lebens.» Aber das bedeutet nicht, dass Sie es bereuen, Kinder zu haben. Es ist immer noch wertvoll, aber das kommt nicht so rüber.
Warum kann niedrige Fertilität ein Problem sein?
Unsere Wirtschaftssysteme sind darauf ausgelegt, einen unendlichen Nachschub an jüngeren Arbeitskräften zu integrieren, welche die älteren Menschen zahlenmässig übertreffen. Das ist ein Problem, weil sich die Umstände geändert haben, aber unsere Systeme nicht. Die Gesellschaften, die als erste und am besten ihre Systeme anpassen können, werden bei diesen demografischen Verschiebungen am besten abschneiden. Deshalb finde ich es schade, dass 90 Prozent der Gespräche, die ich führe, sich nur darum drehen, wie man die Umstände ändern kann. Wir sollten die Tatsache akzeptieren, dass die Veränderung bereits stattgefunden hat und wir uns anpassen müssen. Unser Massstab für wirtschaftlichen Erfolg ist eine wachsende Wirtschaft – selbst wenn die Bevölkerung rapide schrumpft. In Europa und den USA haben wir Sozialsysteme etabliert, in denen jüngere Arbeitnehmer ältere Arbeitnehmer finanziell unterstützen. Wenn die Bevölkerung älter wird, kann das zu einem Problem werden.
«Die Gesellschaften, die als erste und am besten ihre Systeme anpassen können, werden bei diesen demografischen Verschiebungen am besten abschneiden.»
Im März hat die Schweiz für eine Erhöhung der Renten gestimmt und gleichzeitig eine Erhöhung des Rentenalters abgelehnt. Halten Sie das angesichts unserer demografischen Situation für einen guten Schritt?
Nein. Als ich vor 20 Jahren als Politikwissenschafterin begann, mich mit der Demografie auseinanderzusetzen, wollte ich wissen, ob sich die Grösse demografischer Gruppen in politische Macht übersetzen lässt. Ich fragte mich, ob wir am Ende in einer Art Gerontokratie landen würden, wo die Gesetzgebung ältere Menschen begünstigen würde. Da viele Länder mit hohem Einkommen Demokratien sind und älter werden, ist es politisch sehr schwierig, jene Änderung durchzusetzen, die ein resilientes System erfordert. Demokratien sind sehr schlecht darin, langfristig zu planen, weil Politiker sich an Wahlzyklen orientieren. Demografische Verschiebungen bedürfen einer sehr langfristigen Planung.
Na ja, Chinas langfristige Planung war auch nicht so grossartig…
Sie wussten aber, was auf sie zukommt. Als die chinesische Regierung vor 40 Jahren ihre Einkindpolitik einführte, sagte sie im Grunde: Wenn das funktioniert, werden wir eine alternde Bevölkerung haben. Es war nicht so, dass sie es versäumt hätte, dafür zu planen. Ihr Fehler war, dass sie davon ausging, sie könne den demografischen Trend umkehren. Sie dachte, sie hätte die Kontrolle wie ein Puppenspieler und könnte den Fertilitätsregler nach Belieben verschieben.
Sie sagen also, dass es um Institutionen geht und wie wir sie an demografische Veränderungen anpassen. Das Problem würde somit verschwinden, wenn wir einfach länger arbeiten würden?
Vielleicht nicht verschwinden, aber es würde sich zumindest abschwächen. Wir vergessen übrigens oft, dass es auch Probleme mit schnell wachsenden Bevölkerungen gibt – wir neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären, als ob alles reibungslos verlaufen wäre. Aber natürlich läuft es in den wenigen Ländern der Welt, die immer noch eine sehr hohe Fertilitätsrate haben, alles andere als reibungslos. Ich denke schon, dass die Menschen länger arbeiten müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Und es ist weitaus effektiver als die Einwanderung. Es gibt so viel mehr ältere Menschen, die zur Verfügung stehen, um zu arbeiten. Ein bis fünf Jahre länger zu arbeiten, steigert in einem grossen Land die Zahl der Arbeitskräfte um Millionen.
Einwanderung wird manchmal als Lösung für unsere demografischen Probleme dargestellt. Sie mag vielleicht ein Teil der Lösung sein, aber sie ist langfristig gesehen sicherlich keine nachhaltige.
Nein, sie bringt auch Probleme mit sich. Und das ist nicht ein Argument für oder gegen Einwanderung. Es bedeutet nur, dass alles Kompromisse mit sich bringt. Jede Gesellschaft muss aushandeln, welche Kompromisse sie einzugehen bereit ist. Ich widerspreche stets dem Argument, dass Japan seine Grenzen für Einwanderung öffnen müsse, um die Alterung zu kompensieren. Die Japaner können sich auch entscheiden, das nicht zu tun – bloss müssen sie mit den Konsequenzen leben.
Jassir Arafat sagte einmal: «Die Gebärmutter der palästinensischen Frau ist unsere stärkste Waffe gegen den Zionismus.» Ist da etwas dran? Kann Fertilität ein Faktor in Konflikten sein?
Was wir über die Beziehung zwischen Fertilität und Konflikt wissen, ist, dass Gesellschaften mit höheren Fertilitätsraten, die schneller wachsende Bevölkerungen haben, ein höheres Risiko für innere Instabilität haben. Zum Beispiel sind Regierungsumstürze viel wahrscheinlicher.
«Länder mit höheren Fertilitätsraten haben ein höheres Risiko für innere Instabilität.»
Heisst das, dass in einer alternden Welt die Stabilität zunimmt?
In der gesamten Menschheitsgeschichte standen verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb von Territorien miteinander in Konflikt. Das war schon immer so. Wir haben versucht, politische Systeme zu schaffen, die es erlauben, Konflikte friedlich beizulegen. Es wird weiterhin Gruppen unterschiedlicher Herkunft geben, die in Konflikt geraten. Die Hoffnung ist, dass dies möglichst innerhalb des demokratischen Systems geschieht. In nichtdemokratischen Ländern, in denen Konflikte nicht friedlich ausgetragen werden können, wird es wohl weiterhin bewaffnete Auseinandersetzungen oder Gewalt geben. Nur weil ein Land älter wird, heisst das nicht, dass es demokratischer wird. Von der Gruppe der gealterten Länder – Länder mit einem Medianalter von 35 oder höher – ist ein Viertel nichtdemokratisch. Diese Nichtdemokratien werden weiterhin Konflikte mit Gewalt austragen.
Gibt es so etwas wie eine ideale Altersstruktur einer Gesellschaft?
Es kommt darauf an, was man erreichen möchte. Wenn man seine wirtschaftlichen und politischen Systeme überhaupt nicht ändern will, dann ist die ideale Altersstruktur eine, die zu diesen passt. Beispielsweise ist für unsere umlagefinanzierten Rentensysteme die ideale Altersstruktur eine jüngere, bei der Menschen in grösserer Zahl in den Arbeitsmarkt eintreten als ihn verlassen. Wenn man eine ökologische Perspektive einnimmt, könnte die ideale Altersstruktur eine ältere Bevölkerung sein, die weniger konsumiert.
Wenn Sie einen Schleier des Nichtwissens hätten und nur die Altersstruktur eines Landes kennen würden, in welchem Land würden Sie dann leben wollen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich weiss, dass eine ältere Altersstruktur wahrscheinlich eine Gesellschaft mit höherem Wohlbefinden bedeutet, was ich bevorzugen würde. Ich möchte auch sehr lange leben, also macht es Sinn, in einer Gesellschaft zu leben, die erfolgreich viele Menschen in ein höheres Alter gebracht hat.
Wie alt möchten Sie werden?
Nun, ich habe sehr schlechte Gene, daher wäre ich derzeit schon froh, wenn ich 70 Jahre alt würde. Aber idealerweise würde ich gerne bis 90 leben, wenn ich gesund sein kann.