La Romandie n’existe pas
Die Schweiz existiert – und wie! Die Romandie hingegen ist eine reine Erfindung. Zum Glück. Sonst hätte unser föderaler Bundesstaat ein ernsthaftes Problem.
Es gibt vier französischsprachige Kantone – in alphabetischer Reihenfolge Genf, Jura, Neuenburg und Waadt. Zu diesen einsprachigen Kantonen gesellen sich drei zweisprachige Kantone, von denen zwei – Freiburg und Wallis – mehrheitlich französischsprachig und einer – Bern – mehrheitlich deutschsprachig ist.
Was von alldem soll nun in die Romandie-Schublade? Nur die ganz französischsprachigen Kantone, oder auch die zweisprachigen? Und auch deren deutschsprachige Teile – oder doch eher nicht? Jedoch mit welchem Recht schlösse man gewisse Teile eines Kantons aus, wo doch gerade die Zweisprachigkeit grundlegend zu dessen Identität gehört? Und umgekehrt: mit welchem Recht wollte man Deutschsprachige als Romands behandeln?
Man sieht: ein ganz schöner Haufen Fragen – und an diesem lässt sich ablesen, wie wenig die Bezeichnung «Romandie» sich mit dem Reichtum der schweizerischen Identität verträgt, die just aus einer Verzahnung von Kulturen besteht, deren jede eigene Identität umgekehrt wieder von ebendieser Verzahnung mitbestimmt wird.
So wollen wir uns denn vorerst einfach an die Sprache als Kriterium halten – und geben dabei mit der Bezeichnung «Romandie» sogleich Anlass zu einem Minderheitenstreit.
Wenn man «Romandie» zur Bezeichnung einer Gesamtheit französischsprachiger Menschen verwendet, streicht man damit implizit den Grössenunterschied zwischen einer französischsprachigen Minderheit und einer deutschsprachigen Mehrheit heraus (und gleich auch noch zwischen dieser und der italienischsprachigen «Superminderheit»). Nichts ist gefährlicher als das Betonen von Minderheiten. Die Romandie, verstanden als französischsprachiges Teilstück des Landes, wäre dann nichts mehr weiter als ein Gebilde, das sein Überleben der Duldung durch die deutschsprachige Mehrheit verdankt. Das beste Mittel zum Anheizen von Feindseligkeit zwischen Gruppen besteht darin, die einen von ihnen laufend als unterlegen vorzuführen. Das Wunder der Schweiz dagegen besteht genau darin, solches dank den Kantonen vermieden zu haben.
Jeder Kanton, ungeachtet seiner Kultur, seiner Stärken oder seiner Schwächen, ist jedem anderen in allen Teilen gleich. Er ist nicht Teil eines Amalgams, dem diese Stärke oder jene Unzulänglichkeit zugeschrieben würde oder das man entweder seiner Stärken wegen fürchtet oder seiner Mängel wegen verachtet.
Von der Romandie zu sprechen heisst also, das Prinzip der Gleichheit unter den Kantonen zu missachten, das die Stärke und Stabilität der Schweiz ausmacht.
Man braucht natürlich mit den vorstehenden Überlegungen nicht einigzugehen und kann auf der Verwendung des Begriffs «Romandie» beharren. Bloss läuft man dann dabei Gefahr, gleich noch einen weiteren Streit loszutreten – denjenigen der Gebietsgrenzen.
Wenn denn die Romandie eine Spracheinheit sein soll, müssen deren Grenzen genau festgelegt werden – einschliesslich derjenigen der einzelnen Sprachzonen in den zweisprachigen Kantonen. Es ist schlecht vorstellbar, bei diesen andere Massstäbe anzulegen als bei der Abgrenzung der Romandie als eines Ganzen. Wären es folglich nur die Kantonsgrenzen, die so zu verändern wären, dass sie den Kriterien der Romandie entsprächen, und nicht auch innerhalb der Kantone die Regions- und Gemeindegrenzen, damit sie die Bevölkerungsbewegungen entsprechend abbilden? Gute Frage. Im Fernsehen wurde kürzlich ein einschlägiges Beispiel aus Belgien eingehend erörtert, das die Brüsseler Region betrifft – und das einem kalte Schauer über den Rücken jagt. Der belgische Staat steht kurz davor, daran zu zerbrechen. Hüten wir uns doch um alles in der Welt vor solchen Fehlern! Solange es die Romandie nicht gibt, bleiben die Bevölkerungsbewegungen innerhalb eines zweisprachigen Kantons ohne Einfluss auf dessen Geist und werden auch dem Frieden zwischen den Kantonen kaum etwas anhaben können. Lassen wir keine Bildung von Ghettos zu. Und die Romandie hätte es in sich, zu einem territorialen, sprachlichen Ghetto zu werden.
Anders die EU. Sie hat sich dem politisch-wirtschaftlichen Konzept der Regionen verschrieben, Gebilden, hinter denen die Grenzen – jener nationalistische Albtraum – verschwinden sollen. Die EU und unser Land sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Die Kantonsgrenzen sind Garanten des bundesstaatlichen Friedens, genau dadurch, dass sie die Bildung monolithischer Sprachblöcke verhindern. Den Kantonen stehen problemlos jegliche Möglichkeiten offen, untereinander verwaltungstechnische Übereinkünfte abzuschliessen, selbst über die Sprachgrenzen hinweg. Die Romandie ist keine Region im eurotechnischen Sinn und kann es auch gar nicht sein; denn dafür haben die betroffenen Kantone allzuverschiedene kulturelle und wirtschaftliche Interessen. Der Kanton Genf als Stadtkanton hat kaum Gemeinsamkeiten, sei es mit dem Gros-de-Vaud, sei es mit dem Waadtländer oder Walliser Chablais, und nicht einmal mit den Neuenburger Bergen. Im Berner Jura findet sich kaum Übereinstimmendes mit den Walliser Ferienorten, und der Beispiele wären noch viele.
Die «Romandie» ist eine Versimpelung, die schlicht mit keiner irgendwie gearteten schweizerischen Wirklichkeit zur Deckung zu bringen ist.
Kein Französischsprachiger kann im Namen aller Französischsprachigen reden, ebensowenig wie ein Deutschsprachiger im Namen «der» Zürcher, Basler oder Urner. Dagegen kann jeder, im Namen des Landes, seinen Respekt und seine Freundschaft für die anderen ausdrücken und seine Freude über den Reichtum und die Vielgestaltigkeit der kantonalen Geistesarten. Ich habe die Freude gehabt, mit Kollegen der verschiedenen Universitäten des Landes zusammenzuarbeiten; ich habe den Vorzug, dies mit den verschiedensten Kreisen aus den französischsprachigen oder zweisprachigen, oder auch deutschsprachigen, Kantonen weiterhin zu tun, und jede neue Begegnung erfüllt mich mit neuem Enthusiasmus. Die Haltung gegenüber den Behörden ist nicht dieselbe in den verschiedenen Kantonen, der Humor ist anders, sogar zwischen Französischsprachigen, die traditionellen Gerichte sind anders, die Gastfreundschaft ist anders – alles ist voller Nuancen. Es reicht, sich dessen bewusst zu sein, um das ausserordentliche Glück zu ermessen, das wir haben, auf so kleinem Raum eine derartige Vielfalt von Lebens- und Denkweisen erleben zu dürfen.
Deshalb wäre es auch so traurig, wenn das Französische jenseits der Saane aus den Lehrplänen verschwände, oder das Deutsche diesseits. Bezüglich des Deutschen haben wir Französischsprachigen allerdings etwas ein Handicap. Man lehrt uns in unseren Schulen – eher schlecht als recht – ein Deutsch, das dann nicht die Sprache des Herzens unserer Mitbürger ist. Da stellt sich die Frage: Wie lässt sich mit diesem Problem umgehen?
Schweizerdeutschunterricht an den Schulen liegt natürlich nicht drin. Dagegen wäre es hilfreich, wenn während des Erlernens der Schriftsprache gelegentlich zusätzlich «Schlüssel» zum Verständnis des Schweizerdeutschen mitgeliefert werden könnten. Und daneben kommt es auch vor, dass man sich oft etwas mehr Rücksicht auf die Französischsprachigen wünschen möchte, wenn man um einen Tisch herum sitzt und diskutiert. Als Deutschsprachige und Französischsprachige haben wir doch beide ein und dieselbe Fremdsprache gelernt: das Deutsche. Bedienen wir uns ihrer doch zusammen! Oder befolgen wir die Regel, dass jeder seine eigene Sprache spricht; denn das Hochdeutsche ist dem Schweizerdeutschen näher als das Französische.
Mehr Besorgnis bereitet die Situation des Italienischen. Unsere italienischsprachigen Mitbürger sind fabelhaft; denn sie sprechen alle Sprachen und kommen in unsere Regionen für ihr Stu-dium. Doch sie verteidigen ihre Sprache nicht genügend, etwa im Parlament, oder in offiziellen Kreisen. Sie sagen, sie hätten Angst, nicht verstanden zu werden. Das Verstandenwerden aber geht ebensosehr durch das Herz wie über den Kopf. Weil man im Herzen bis zutiefst hinein Schweizer ist, kann man die Echtheit seiner eigenen Kultur und Sprache ganz direkt im Namen seines Kantons verteidigen und braucht dazu keine Vereinnahmung in einem globalisierenden Stellvertretungskonstrukt wie der «Romandie». Der Einsatz für die eigene Kultur und Sprache ist jedoch fragwürdig, wenn er nicht vom ehrlichen Bemühen getragen wird, die Echtheit und die Kulturen der andern Schweizer und ihrer Kantone zu respektieren.