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Kurzvermessung der digitalen Welt

Das Netz verändert Lebens- und Verlagswelt – aber verändert es auch die Literatur? Der Schriftsteller Daniel Kehlmann über unmögliche Romankonstellationen, unmögliche Userkommentare und über digitale Verantwortung.

Herr Kehlmann, Sie sind einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, die sich literarisch mit dem Einfluss von sozialen Medien auf den Menschen auseinandergesetzt haben. Ihrem Roman «Ruhm» ist bereits eine Art Ästhetik der neuen Medien eingeschrieben. Wie werden Social Media die zeitgenössische Literatur noch verändern?

Ich glaube, es verändern sich vor allem die Geschichten, die wir erzählen können, da die Digitalisierung unser Leben verändert. Ein wesentlicher Teil vieler Geschichten ist eine wichtige Nachricht, die jemanden nicht erreicht, zum Beispiel, weil er auf Reisen ist. Das kann heute schlicht nicht mehr passieren. Oder wenn ich an Heimito von Doderers «Strudlhofstiege» denke: Major Melzer trifft über die Jahre eine Frau immer wieder, aber bevor sie einander näherkommen können, verschwindet sie wieder, und er sieht sie für lange Zeit nicht mehr. Das wäre heute nicht möglich, durch Mail und Facebook könnte man spielend leicht Kontakt halten – der ganze Roman wäre so nicht möglich! Man könnte die Beispiele unendlich weiterführen: Unser Leben, unsere sozialen Beziehungen haben sich durch die Kommunikationstechnologie in einer Weise verändert, die so tief und kompliziert ist, dass wir noch weit davon entfernt sind, sie zu verstehen. Diesen Aspekt halte ich für viel entscheidender als die formalen Elemente wie Hypertexte, in Bücher eingebettete Links und so weiter.

Während in gesellschaftlichen Diskursen zumeist eine einhellig positive Bewertung der digitalen Medien stattfindet – beispielgebend ist die Rede vom «Demokratisierungsmotor» für den arabischen Frühling –, zeichnet sich in der Gegenwartsliteratur grösstenteils eine eher skeptische Haltung ab. Warum?

Ich glaube, dass unser ganzes Konzept vom Privatleben und von persönlichem Freiraum auf das Unglaublichste bedroht ist – besonders durch YouTube und die Firmenpolitik von Facebook oder Google. Das macht mir wirklich Sorgen. Jetzt gerade gibt es noch Bedenken gegen die Google-Brille «Glass», aber in einem Jahr wird sie ein normaler Teil des Alltags sein, und wir alle werden wissen, dass wir ständig und überall gefilmt werden können.

Die Überwachung über soziale Netzwerke ist das eine, hier regt sich ja grad der gesellschaftliche Widerstand. Sie sprechen aber auch YouTube an. Was ist so gefährlich an der Videoplattform?

Durch YouTube sind jetzt die brutalsten Gewaltszenen, etwa aus dem Syrien-Krieg, für jeden jederzeit ansehbar. Wer meint, dass Kinder und Jugendliche aus Weisheit und Vorsicht darauf verzichten werden, das anzuklicken und weiterzuverteilen, macht sich Illusionen!

Diese Videos muss man ja auch erst einmal einstellen bei YouTube, ebenso die privaten Informationen bei Facebook, die dann abgerufen, verkauft und ausspioniert werden können. Irgendwer ist ja verantwortlich für den Upload. Eine wichtige Rolle müsste für Sie folglich der Begriff der «Verantwortung» in einem digitalen, globalen Raum spielen, nicht?

Ja. Ich glaube, Verantwortung beginnt dort, wo jeder einzelne begreifen sollte, dass die Anonymität des Internets ihm moralisch nicht das Recht gibt, sich zu verhalten, als gäbe es keine Regeln der Vernunft, des Anstands und der Menschlichkeit.

Anders formuliert: Man muss eben nicht alles zeigen oder sehen wollen?

Natürlich. Und auch nicht alles kommentieren! Der US-amerikanische Informatiker, Künstler und Autor Jaron Lanier hat in
seinem grossartigen Buch «You are not a Gadget» diesbezüglich die Regel aufgestellt, dass man sich prinzipiell nicht an anonymen Diskussionen in Internetforen beteiligen sollte – aus Stilgefühl sozusagen. Dem stimme ich zu.

Nun haben wir viel über Risiken und Auswüchse im Netz gesprochen. Auf der anderen Seite liegt natürlich etwas Wunderbares in dieser allgemeinen Verfügbarkeit von Informationen, schliesslich war es ja nie leichter als heute, einen Grossteil des über Jahrtausende gesammelten menschlichen Wissens über das Netz bis in die letzten Ecken der Welt verfügbar zu machen…

…und da ist das Stichwort des arabischen Frühlings schon das richtige! Ein Punkt, den ich auch zu selten vorgebracht finde, ist die unendliche Verfügbarkeit der meisten rechtefreien Texte der Weltliteratur. Ein junger mittelloser Mensch in der Dritten Welt braucht heute nur mehr ein Lesegerät oder einen Computer und hat von Homer bis Émile Zola die gesamte Weltliteratur zu seiner Verfügung, wann und wo er möchte. Das ist eine unglaublich erfreuliche Entwicklung.

Virtuelle Bibliotheken, virtuelle Freunde, virtuelle Welten: Wie wird sich eigentlich das menschliche Realitätsverständnis durch das Internet verändern?

Vor allem ändert sich unsere Beziehung zum Raum. Menschen, die auf der anderen Seite der Welt sind, können durch SMS, Skype und Facebook ein wichtigerer Teil unseres sozialen Umfelds sein als Menschen, die nebenan oder mit uns leben. Der lebensweltliche Raum wird also weniger wichtig. Das wird tiefe Auswirkungen auf unsere sozialen Strukturen haben, die wir noch gar nicht ganz absehen können.

Pardon, aber neu ist diese Entwicklung der Erfindung des Telefons nicht mehr. In «Ruhm» geht es ja stark um das Handy, das gewissermassen ein Doppelleben möglich macht. Wie würden Sie diesen Ansatz vor dem Hintergrund von Smartphones aktualisieren bzw. dazu ins Verhältnis setzen?

In «Ruhm» ging ich davon aus, dass das Handy es leichter macht, ein Doppelleben zu führen – aber da gab es noch keine Videotelefonie à la «FaceTime» und auch kein mobiles Skype. Die machen es natürlich wiederum deutlich schwieriger, dieses Doppelleben wirklich zu führen, da bin ich schon neugierig auf Erfahrungsberichte aus meinem Freundeskreis. Wer immer etwas verheimlichen möchte, wird sich jetzt Gründe ausdenken müssen, warum Skype gerade nicht möglich ist. Das wird anstrengend…

Die Netzapokalyptiker reden schon lange vom Verschwinden des Subjekts, die Optimisten beschwören den Möglichkeitsraum für sogenannte mutiple Ichs. Was bedeutet das für den Identitätsbegriff?

Der wird sich nicht grundsätzlich verändern. Einerseits kann man natürlich leichter Rollen annehmen, andererseits wird es auch wiederum erschwert. Ich bin gespannt, wie sich die wachsende Allgegenwart von «FaceTime» auf Paarbeziehungen auswirken wird. «Lass doch mal sehen, wo du gerade bist!» – «Nein, lieber nicht.» – «Aber warum nicht? Schalt doch ‹FaceTime› ein, wo bist du denn?» Sie sehen: Das könnte noch ein echtes Problem für viele werden.

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