Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Kunstarbeiter: zwischen Utopie und Archiv

Künstlerische Arbeit ist spezielle Arbeit. Aber sie stützt sich auf dieselben sozialen, ökonomischen, technischen und politischen Bedingungen der Produktion, der Distribution und der Präsentation wie andere Arbeiten auch. Und diese Bedingungen ändern sich rasant – welche Folgen hat das für die «Kunstarbeiter»?

Das Museum war lange die Institution, die das herrschende Kunstsystem bestimmte. Heutzutage bietet das Internet eine alternative Möglichkeit der Produktion und Distribution von Kunst – eine Möglichkeit, die von einer stetig wachsenden Zahl von Künstlern genutzt wird. Welche Gründe gibt es, das Internet zu mögen – vor allem für Künstler, Schriftsteller usw.?
Offensichtlich schätzt man das Internet in erster Linie dafür, dass es nicht selektiv ist – oder zumindest weniger selektiv als ein Museum oder ein traditioneller Buchverlag. Was die Künstler am Museum besonders störte, waren tatsächlich die Kriterien der Auswahl: Warum gelangen einige Kunstwerke ins Museum und andere nicht? Wir kennen die sozusagen katholischen Theorien der Selektion, denen zufolge Kunstwerke es verdienen müssen, vom Museum ausgewählt zu werden: Sie sollen gut sein, schön, inspirierend, originell, kreativ, stark, expressiv und historisch relevant – man kann Tausende solcher Kriterien anführen. Diese Theorien erfuhren allerdings eine historische Niederlage, da niemand erklären kann, warum ein Kunstwerk schöner oder origineller ist als ein anderes. So kamen andere Theorien auf, die eher protestantisch oder sogar calvinistisch waren. Diesen Theorien zufolge werden Kunstwerke ausgewählt, weil sie ausgewählt werden. Die Idee einer göttlichen Macht, die absolut souverän ist und keine Legitimation benötigt, wurde auf das Museum übertragen. Diese protestantische Theorie der Auswahl, welche die unbedingte Macht des Auswählenden betont, ist die Voraussetzung für die Kritik an den Institutionen. Die Museen wurden dafür kritisiert, wie sie ihre angebliche Macht gebrauchten oder missbrauchten.
Diese Kritik der Institutionen macht im Fall des Internets nicht viel Sinn. Es gibt selbstverständlich Beispiele von Internetzensur, die von einigen Staaten praktiziert wird, aber es gibt keine ästhetische Zensur. Jeder kann irgendwelche Texte oder irgendein Bildmaterial ins Internet stellen und es global zugänglich machen. Freilich beklagen sich Künstler oftmals darüber, dass ihre Kunstproduktion in den Datenfluten versinke, die im Internet zirkulieren. Das Internet erscheint als eine riesige Mülltonne, in der alles verschwindet und niemals den erhofften Grad an Aufmerksamkeit bekommt. Doch Nostalgie nach den guten alten Zeiten der ästhetischen Zensur durch das Museums- und Galeriensystem, das über die Qualität, die Innovation und die Kreativität der Kunst wachte, führt zu nichts. Letztlich sucht man im Internet nach Informationen über die eigenen Freunde – danach, was sie genau jetzt tun. Man folgt bestimmten Blogs, E-Magazines und Websites und ignoriert alles andere. Die Kunstwelt ist nur ein kleiner Teil dieses digitalen öffentlichen Raums – noch dazu ist sie äusserst fragmentiert. Auch wenn viele Klagen über die Unüberschaubarkeit des Internets erklingen, ist niemand ernsthaft an einer totalen Übersicht interessiert: Jeder sucht nach spezifischer Information – und ist bereit, alles andere zu ignorieren.
Dennoch bestimmt der Eindruck, dass das Internet als Ganzes unüberschaubar ist, unsere Beziehung zu ihm – wir neigen dazu, es uns als unendlichen Datenfluss vorzustellen, der sich unserer Kontrolle entzieht. Tatsächlich aber ist das Internet keineswegs ein Ort des Datenflusses – es ist ganz im Gegenteil eine Maschine zum Anhalten und Umkehren des Datenflusses. Die Unüberschaubarkeit des Internets ist ein Mythos. Das Medium des Internets ist die Elektrizität. Und die Versorgung mit Elektrizität ist endlich. Daher kann das Internet keinen unendlichen Datenfluss unterstützen. Das Internet basiert auf einer endlichen Zahl an Kabeln, Terminals, Computern, Mobiltelefonen und anderen Geräten. Seine Effizienz bezieht es gerade aus seiner Endlichkeit und damit aus seiner Überschaubarkeit. Suchmaschinen wie Google zeigen das. Man hört heute vieles über den zunehmenden Grad an Überwachung, vor allem an Online-Überwachung. Doch die Überwachung ist nicht etwas dem Internet Äusserliches, sie ist auch kein spezifischer technischer Gebrauch seiner Möglichkeiten. Das Internet ist wesentlich eine Maschine der Überwachung. Es zerteilt den Datenfluss in kleine, verfolgbare und umkehrbare Operationen und setzt so jeden Nutzer der – wirklichen oder möglichen – Überwachung aus. Das Internet erzeugt ein Feld totaler Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Transparenz.
Sicherlich versuchen Individuen und Organisationen, dieser totalen Sichtbarkeit zu entfliehen, indem sie komplizierte Passwörter und Datenschutzsysteme erfinden. Die Subjektivität ist heute zu einer technischen Konstruktion geworden: Das zeitgenössische Subjekt ist definiert als Besitzer eines Sets von Passwörtern, die es kennt – und die andere nicht kennen. Das zeitgenössische Subjekt ist vor allem ein Geheimnishüter. In gewisser Weise ist dies eine sehr traditionelle Definition des Subjekts: Das Subjekt wurde lange Zeit definiert als jemand, der etwas von sich wusste, was sonst nur Gott wusste, etwas, das die anderen nicht wissen konnten, weil sie ontologisch daran gehindert waren, «Gedanken zu lesen». Ein Subjekt zu sein hat heute allerdings weniger mit ontologischem Schutz zu tun als vielmehr mit technologisch geschützten Geheimnissen. Das Internet ist der Ort, an dem das Subjekt ursprünglich als ein transparentes, beobachtbares Subjekt konstituiert wird – und erst in einem zweiten Schritt technologisch geschützt wird mit dem Ziel, das ursprünglich entborgene Subjekt zu verbergen. Der Hermeneutiker von heute ist ein Hacker. Das zeitgenössische Internet ist ein Ort der Cyberkriege, bei denen der Gewinn das Geheimnis ist. Das Geheimnis zu kennen bedeutet, das Subjekt zu kontrollieren, das von diesem Geheimnis konstituiert wird – und die Cyberkriege sind Kriege der Subjektivierung und der Entsubjektivierung. Diese Kriege können aber nur stattfinden, weil das Internet ursprünglich ein Ort der Transparenz ist.
Was bedeutet diese ursprüngliche Transparenz für Künstler? Das Internet als Arbeitsplatz stellt sie vor neue Herausforderungen, die mit der digitalen Distribution und Ausstellung von Kunst nur wenig zu tun haben: Unter der Herrschaft des Museums wurde Kunst an einem Ort produziert (im Atelier des Künstlers) und an einem anderen Ort gezeigt (im Museum). Das Aufkommen des Internets hebt diesen topologischen Unterschied zwischen der Produktion und der Ausstellung von Kunst auf. Der Prozess der Kunstproduktion, insofern diese den Gebrauch des Internets einschliesst, ist immer schon ausgestellt – vom Anfang bis zum Ende. Früher arbeiteten nur Industriearbeiter unter dem Blick der anderen – unter der permanenten Kontrolle, wie sie von Michel Foucault beschrieben wurde. Schriftsteller oder Künstler hingegen arbeiteten in Abgeschiedenheit, jenseits jeder panoptischen, öffentlichen Kontrolle. Wenn der sogenannte kreative Arbeiter jedoch das Internet benutzt, ist er demselben oder sogar einem noch höheren Grad von Überwachung unterworfen als der Foucaultsche Arbeiter. Der einzige Unterschied besteht darin, dass diese Überwachung eher hermeneutisch ist als disziplinarisch.
Die Ergebnisse der Überwachung werden von den Unternehmen verkauft, die das Internet kontrollieren, weil sie die Produktionsmittel, die technisch-materielle Basis des Internets, besitzen. Man darf nicht vergessen, dass sich das Internet in privatem Besitz befindet. Und der Profit wird hauptsächlich mittels zielgerichteter Werbung generiert. Hier treffen wir auf ein interessantes Phänomen: die Monetarisierung der Hermeneutik. Die klassische Hermeneutik, die nach dem Autor hinter dem Werk suchte, wurde von den Theoretikern des Strukturalismus und des Close Reading kritisiert, die fanden, es sei sinnlos, ontologischen Geheimnissen nachzujagen, die per definitionem unzugänglich seien. Heute feiert diese alte, traditionelle Hermeneutik ihre Wiederauf­erstehung als ein Mittel der kommerziellen Verwertung im Internet, wo alle Geheimnisse enthüllt werden. Hier ist das Subjekt nicht mehr hinter seinem Werk verborgen. Der Mehrwert, den ein solches Subjekt produziert und der von den Internetunternehmen angeeignet wird, ist dieser hermeneutische Wert: Das Subjekt ist nicht nur irgendwie im Internet aktiv, sondern verrät sich selbst als Mensch mit bestimmten Interessen, Wünschen und Bedürfnissen. Die Monetarisierung der klassischen Hermeneutik ist einer der interessantesten Prozesse, die in den letzten Dekaden in Erscheinung getreten sind.

 

Der Künstler als Blogger?

Auf den ersten Blick scheint diese permanente Exposition für Künstler mehr positive als negative Aspekte zu beinhalten. Die durch das Internet bedingte Resynchronisierung der Produktion von Kunst mit der Ausstellung von Kunst scheint die Dinge besser und nicht schlimmer zu machen. Diese Resynchronisierung bedeutet in der Tat, dass ein Künstler kein finales Produkt, kein Kunstwerk mehr produzieren muss. Die Dokumentation des Prozesses des Kunstmachens ist bereits das Kunstwerk. Produktion, Präsentation und Distribution von Kunst koinzidieren. Der Künstler wird zum Blogger. Beinahe jeder in der zeitgenössischen Kunstwelt agiert als Blogger – einzelne Künstler, aber auch Kunstinstitutionen, inklusive Museen. Ai Weiwei ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Balzacs unbekannter Künstler, der niemals sein Meisterwerk vollenden konnte, hätte unter diesen Bedingungen keinerlei Problem – die Dokumentation seiner Bemühungen, ein Meisterwerk zu schaffen, wäre sein Meisterwerk. Das Internet funktioniert also mehr wie die Kirche und weniger wie das Museum. Nietzsche liess seiner berühmten Verkündigung «Gott ist tot» die Einsicht folgen: Wir haben den Betrachter verloren. Das Aufkommen des Internets bedeutet die Rückkehr des universellen Betrachters. So scheint es, dass wir ins Paradies zurückgekehrt sind und wie die Heiligen das immaterielle Werk unserer puren Existenz unter dem Blick Gottes verrichten. In der Tat kann das Leben eines Heiligen als eine Art Blog beschrieben werden, der von Gott gelesen wird und nicht einmal durch den Tod des Heiligen unterbrochen wird. Warum also brauchen wir noch Geheimnisse? Warum sind wir gegen die radikale Transparenz? Die Antwort auf diese Frage hängt von der Antwort auf eine grundlegendere Frage in bezug auf das Internet ab: Bewirkt das Internet die Rückkehr Gottes – oder die Rückkehr des malin génie mit dem bösen Blick?
Ich würde sagen, dass das Internet nicht das Paradies ist, sondern die Hölle – oder, wenn man will, Paradies und Hölle zugleich. Jean-Paul Sartre sagte, die Hölle seien die anderen – das Leben unter dem Blick der anderen. (Und Jacques Lacan sagte später, dass der Blick des anderen immer ein böser Blick sei.) Sartre meinte, dass der Blick der anderen uns «objektiviert» – und in diesem Sinne die Möglichkeit der Veränderung, die unsere Subjektivität definiert, negiert. Mit anderen Worten, Sartre verstand das menschliche Subjekt als eines, das gegen die Identität ankämpft, die ihm von der Gesellschaft verliehen wird. Das erklärt, warum er den Blick der anderen als Hölle interpretierte: Im Blick der anderen erkennen wir, dass wir den Kampf verloren haben und Gefangene unserer gesellschaftlich kodierten Identität bleiben.
Wir versuchen daher, dem Blick der anderen für eine Weile zu entkommen, um nach einer Periode der Abgeschiedenheit unser «wahres Inneres» zeigen zu können – um in neuer Gestalt, in neuer Form in die Öffentlichkeit zurückzukehren. Diese Zeit der temporären Abwesenheit ist konstitutiv für das, was wir als kreativen Prozess bezeichnen – eigentlich ist sie genau das, was wir den kreativen Prozess nennen. André Breton erzählt eine Geschichte über einen französischen Dichter, der, wenn er schlafen ging, ein Schild an seine Tür heftete, auf dem zu lesen stand: «Bitte um Ruhe – der Dichter arbeitet.» Diese Anekdote fasst das traditionelle Verständnis von kreativer Arbeit zusammen: Kreative Arbeit ist kreativ, weil sie jenseits öffentlicher Kontrolle stattfindet – und sogar jenseits der bewussten Kontrolle durch den Autor. Die Zeit der Abwesenheit konnte Tage, Monate oder Jahre dauern – ja sogar die gesamte Zeit eines Lebens. Erst am Ende der Periode seiner Abwesenheit wurde vom Autor erwartet, ein Werk zu präsentieren (das eventuell auch posthum in seinem Nachlass zu finden war), das dann als kreativ betrachtet wurde, gerade weil es aus dem Nichts hervorgekommen zu sein schien. Mit anderen Worten, kreative Arbeit ist Arbeit, welche die Desynchronisierung zweier Zeiten zur Voraussetzung hat: der Zeit der Arbeit und der Zeit der Präsentation ihrer Resultate. Kreative Arbeit wird in einer Parallelzeit der Abgeschiedenheit, der Geheimhaltung praktiziert – so dass ein Überraschungseffekt entsteht, wenn diese Parallelzeit wieder mit der Zeit des Publikums synchronisiert wird. Daher wollte das Subjekt der Kunstpraxis traditionellerweise im Verborgenen bleiben, unsichtbar werden, eine Auszeit nehmen. Der Grund dafür war nicht, dass die Künstler irgendein Verbrechen begangen hatten oder irgendein schmutziges Geheimnis vor dem Blick der anderen zu verbergen suchten. Wir erfahren den Blick der anderen nicht dann als böse, wenn er unsere Geheimnisse durchdringen und sie durchsichtig machen will (ein solcher durchdringender Blick wirkt eher schmeichelnd und aufregend), sondern wenn er leugnet, dass wir überhaupt Geheimnisse haben, wenn er uns auf das reduziert, was er sieht und festhält.
Die künstlerische Praxis wird oft als individuell und persönlich gesehen. Aber was bedeutet das Individuelle oder Persönliche? Man meint, dass das Individuum sich dadurch auszeichnet, dass es sich von anderen unterscheidet. (Etwa so: In einer totalitären Gesellschaft sind alle gleich. In einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft sind alle unterschiedlich und werden in ihrer Verschiedenheit respektiert.) Hier allerdings geht es weniger um den Unterschied zwischen mir und den anderen, sondern vielmehr um den Unterschied zwischen mir und mir selbst – um die Weigerung, nach den allgemeinen Kriterien der Identifizierung identifiziert zu werden. Tatsächlich sind uns die Parameter, die unsere gesellschaftlich kodierte, namentliche Identität bestimmen, vollkommen äusserlich. Wir haben uns unsere Namen nicht ausgesucht, wir waren am Ort und zur Zeit unserer Geburt nicht bewusst anwesend, wir haben den Namen der Stadt oder der Strasse, in der wir wohnen, nicht ausgewählt, wir haben uns weder unsere Eltern ausgesucht noch unsere Nationalität usw. Alle diese externen Parameter unserer Existenz haben für uns keine Bedeutung – sie korrelieren mit keiner subjektiven Evidenz. Sie zeigen an, wie andere uns sehen, aber sie sind völlig irrelevant für unser inneres, subjektives Leben.

 

Die Suche nach dem wahren Ich

Die modernen Künstler revoltierten gegen die Identitäten, die ihnen von anderen auferlegt wurden – von der Gesellschaft, vom Staat, von der Schule, von den Eltern. Sie forderten das Recht auf souveräne Selbstidentifizierung. Die moderne Kunst war die Suche nach dem «wahren Ich». Dabei geht es nicht darum, ob das wahre Ich real ist oder bloss eine metaphysische Spekulation. Die Frage der Identität ist keine Frage der Wahrheit, sondern eine Frage der Macht. Wer hat die Macht über meine Identität – ich oder die Gesellschaft? Überhaupt: Wer besitzt die Kontrolle über die gesellschaftliche Taxonomie, über die gesellschaftlichen Mechanismen der Identifizierung – ich oder die staatlichen Institutionen? Das bedeutet, dass der Kampf gegen meine öffentliche Person und meine namentliche Identität im Namen meiner souveränen Person, meiner souveränen Identität, auch eine öffentliche, politische Dimension hat, da er sich gegen die herrschenden Mechanismen der Identifizierung richtet – gegen die herrschende gesellschaftliche Taxonomie mit all ihren Unterteilungen und Hierarchien. Aus diesem Grund sagten die modernen Künstler immer: Schau nicht mich an. Schau auf das, was ich tue. Das ist mein wahres Ich – oder vielleicht gar kein Ich, sondern die Abwesenheit des Ich. Später gaben die Künstler mehrheitlich die Suche nach dem verborgenen, wahren Ich auf. Stattdessen begannen sie, ihre namentlichen Identitäten als Readymades zu benutzen – und ein kompliziertes Spiel mit ihnen zu treiben. Aber auch diese Strategie setzt immer noch eine Distanzierung von den namentlichen, gesellschaftlich kodierten Identitäten voraus, die es erlaubt, diese Identitäten künstlerisch anzueignen, zu transformieren und zu manipulieren.
Die Moderne war die Zeit des Verlangens nach der Utopie. Die utopische Erwartung zielt auf nichts weniger als auf den Erfolg und die gesellschaftliche Anerkennung des Projekts der Freilegung oder der Konstruktion des wahren Ich. Das individuelle Projekt der Suche nach dem wahren Ich nimmt in den avantgardistischen Bewegungen der Moderne eine politische Bedeutung an: Das künstlerische Projekt wird hier zum revolutionären Projekt, das auf die totale Transformation der Gesellschaft und die Abschaffung der existierenden Taxonomien zielt. Hier soll das wahre Ich wieder vergesellschaftet werden – durch die Schaffung der wahren Gesellschaft.
Das museale System verhält sich ambivalent in bezug auf dieses utopische Verlangen. Einerseits bietet das Museum dem Künstler die Chance, seine eigene Zeit mit all ihren Taxonomien und namentlichen Identitäten zu transzendieren. Das Museum verspricht, das Werk des Künstlers in die Zukunft zu tragen – was ein utopisches Versprechen ist. Allerdings bricht das Museum das Versprechen im selben Moment, in dem es das Versprechen erfüllt. Das Werk des Künstlers wird in die Zukunft getragen – aber sein Werk wird wieder mit seiner namentlichen Identität verknüpft. Im Museumskatalog lesen wir den gleichen Namen, das gleiche Geburtsdatum, den gleichen Geburtsort, die gleiche Natio­nalität usw. Aus diesem Grund wollte die moderne Kunst das ­Museum zerstören.
Das Internet verrät die Suche nach dem wahren Ich allerdings auf eine noch viel radikalere Weise: Das Internet schreibt diese Suche von Anfang an – und nicht erst an ihrem Ende – in die namentliche, gesellschaftlich kodierte Identität ein. Im gleichen Zug werden die utopischen Projekte historisiert. Wir beobachten dies heute daran, dass der ehemals kommunistische Teil der Menschheit renationalisiert und wieder in die russische, chinesische oder sonstige nationale Geschichte eingeschrieben wird.
In der sogenannten postmodernen Periode wurde die Suche nach dem wahren Ich und nach der entsprechenden Gesellschaft, in der sich dieses wahre Ich zeigen könnte, für obsolet erklärt. In diesem Sinne sprechen wir von der Postmoderne als einer postutopischen Zeit. Aber das ist nicht ganz richtig: Auch die Postmoderne gab den Kampf gegen die namentliche Identität des Subjekts nicht auf – tatsächlich radikalisierte sie diesen Kampf. Die Postmoderne hatte ihre eigene Utopie: die Utopie einer Selbstauflösung des Subjekts in den unendlichen, anonymen Flüssen der Energie, des Begehrens oder des Zeichenspiels. Anstatt das namentliche, gesellschaftliche Ich durch eine künstlerische Freilegung des wahren Ich aufzuheben, investierte die postmoderne Kunsttheorie ihre Hoffnungen in einen völligen Identitätsverlust durch den Prozess der Reproduktion: eine andere Strategie, die das gleiche Ziel verfolgt.
Die postmoderne utopische Euphorie, die sich am Begriff der Reproduktion entzündete, lässt sich mit der folgenden Passage aus dem Buch «Über die Ruinen des Museums» von Douglas Crimp illustrieren. In diesem vieldiskutierten Buch behauptet Crimp mit Bezug auf Walter Benjamin:
«Durch reproduzierende Techniken verzichtet die postmodernistische Kunst auf die Aura. Die Fiktion vom schöpferischen Subjekt weicht der offenen Beschlagnahme, dem Zitat, dem Exzerpt, der Akkumulation und der Wiederholung schon vorhandener Bilder. Begriffe wie Originalität, Authentizität und Präsenz, die dem geordneten Diskurs des Museums eigen sind, werden unterminiert.»1
Der Strom der Reproduktionen überflutet das Museum – und die individuelle Identität geht in dieser Flut unter. Eine Zeitlang wurden diese postmodernen utopischen Träume von der Auflösung aller Identitäten im unendlichen Zeichenspiel auf das Internet projiziert. Das globalisierte Rhizom trat an die Stelle der kommunistischen Menschheit.

 

Das Internet: der Utopienfriedhof

Allerdings ist das Internet nicht zum Ort der Realisierung der postmodernen Utopien geworden, sondern zu deren Friedhof – so wie das Museum zum Friedhof der modernen Utopien wurde. Der wichtigste Aspekt des Internets besteht nämlich darin, dass es die Beziehung zwischen Original und Kopie, wie sie von Benjamin beschrieben wurde, fundamental verändert – indem es den anonymen Prozess der Reproduktion kalkulierbar macht und personalisiert. Im Internet hat jedes frei fliessende Zeichen eine Adresse. So wird der deterritorialisierte Datenfluss reterritorialisiert.
Walter Benjamin unterschied bekanntlich zwischen dem Original, das durch sein «Hier und Jetzt» definiert ist, und der Kopie, die ortlos, topologisch unbestimmt ist und kein «Hier und Jetzt» besitzt. Die heutige digitale Reproduktion ist in keinerlei Hinsicht ortlos, ihre Zirkulation ist nicht topologisch unbestimmt, und sie zeigt sich nicht in Form einer Vielheit wie die von Benjamin beschriebene Reproduktion. Jede Internetadresse einer Datei weist dieser Datei einen Ort zu. Die gleiche Datei mit einer anderen Adresse ist eine andere Datei. Hier geht die Aura der Originalität nicht verloren, sondern hier wird eine Aura durch eine andere Aura ersetzt. Im Internet produziert die Zirkulation der digitalen Daten keine Kopien, sondern neue Originale. Und diese Zirkulation ist vollständig verfolgbar. Einzelne Daten werden niemals deterritorialisiert. Zudem haben jedes Internetbild und jeder Internettext nicht nur ihren spezifischen eindeutigen Ort, sondern auch eine eindeutige Zeit ihres Erscheinens. Das Internet regis­triert jeden Moment, in dem eine Datei angeklickt, gelikt oder geunlikt, transferiert oder transformiert wird. Dementsprechend kann ein digitales Bild nicht einfach kopiert werden (wie ein analoges, mechanisch reproduzierbares Bild kopiert werden kann), sondern es kann nur immer wieder neu ausgeführt [staged] oder aufgeführt [performed] werden. Und jede Aufführung [performance] einer Datei wird datiert und archiviert.
Während der Epoche der mechanischen Reproduktion haben wir viele Reden über die Abdankung des Subjekts gehört. Wir hörten von Heidegger, dass «die Sprache spricht», und weniger, dass ein Individuum die Sprache benutzt. Später lehrten uns die Dekonstruktion von Derrida und die Maschinen des Begehrens von Deleuze, dass wir uns von unseren letzten Illusionen hinsichtlich der Möglichkeit, die Subjektivität zu identifizieren und zu stabilisieren, befreien müssen. Heute allerdings sind unsere «digitalen Seelen» wieder verfolg- und beobachtbar geworden. Unsere Erfahrung mit der Gegenwart ist nicht so sehr durch die Präsenz von Dingen uns gegenüber als vielmehr durch unsere Präsenz dem Blick eines verborgenen und unbekannten Beobachters gegenüber bestimmt. Wir kennen diesen Beobachter nicht. Wir haben keinen Zugang zu seinem Bild – wenn er überhaupt ein Bild hat. Mit anderen Worten, der verborgene universale Beobachter des Internets kann nur als Subjekt einer universalen Verschwörung gedacht werden. Die Reaktion auf diese universale Verschwörung nimmt notwendigerweise die Form einer Gegenverschwörung an: Man muss seine Seele vor dem bösen Blick schützen. Die gegenwärtige Subjektivität kann nicht länger auf ihre Auflösung im Fluss der Zeichen vertrauen, weil dieser Fluss kontrollierbar und verfolgbar geworden ist. So entsteht ein neuer utopischer Traum – der Traum unserer Gegenwart. Es ist der Traum eines nicht entschlüsselbaren Schlüsselworts, das unsere Subjektivität für immer schützen kann. Wir streben danach, uns als ein Geheimnis zu definieren, das noch geheimer ist als das ontologische Geheimnis – ein Geheimnis, das nicht einmal Gott entschlüsseln kann. Das paradigmatische Beispiel für einen solchen Traum kann in Wikileaks gesehen werden.
Als Ziel von Wikileaks wird oft der freie Datenfluss gesehen, die Etablierung eines freien Zugangs zu Staatsgeheimnissen. Zugleich aber demonstriert die Praxis von Wikileaks, dass universaler Zugang nur mittels einer universalen Verschwörung geschaffen werden kann. In einem Interview sagt Julian Assange:
«Wenn Sie und ich uns auf einen bestimmten Chiffrierschlüssel einigen und dieser mathematisch stark ist, dann kann keine Kraft, die von einer Supermacht auf diesen Code angesetzt ist, ihn knacken. So kann es für einen Staat, der etwas gegen ein Individuum unternehmen will, einfach unmöglich sein, dies zu tun – und in diesem Sinne sind Mathematik und Individuen stärker als Supermächte.»2
Transparenz basiert hier auf radikaler Intransparenz. Die universale Offenheit basiert auf der perfekten Schliessung. Das Subjekt verbirgt sich, wird unsichtbar, nimmt eine Auszeit, um tätig zu werden. Die Unsichtbarkeit der gegenwärtigen Subjektivität ist gewährleistet, insofern sein Verschlüsselungscode nicht gehackt werden kann – insofern das Subjekt anonym, nichtidentifizierbar bleibt. Allein die passwortgeschützte Unsichtbarkeit garantiert dem Subjekt die Kontrolle über seine digitalen Operationen und Manifestationen.
Hier spreche ich freilich über das Internet, wie wir es heute kennen. Ich erwarte allerdings, dass die kommenden Cyberkriege das Internet radikal verändern werden. Diese Cyberkriege kündigen sich bereits an – und sie werden das Internet als dominierenden Marktplatz und Hauptkommunikationsmittel zerstören oder wenigstens ernsthaft beschädigen. Die gegenwärtige Welt ähnelt stark der Welt des 19. Jahrhunderts. Diese Welt war von offenen Märkten, wachsendem Kapitalismus, Prominentenkultur, Rückkehr der Religion, Terrorismus und Gegenterrorismus geprägt. Der Erste Weltkrieg zerstörte diese Welt und machte die Politik der offenen Märkte unmöglich. Letztendlich erwiesen sich die geopolitischen und militärischen Interessen der einzelnen Nationalstaaten im Vergleich zu den ökonomischen Interessen als weitaus stärker. Es folgte eine lange Periode der Kriege und der Revolutionen. Sehen wir, was uns in naher Zukunft erwartet.

 

Das Archiv: die erlösende Zeitmaschine

Ich möchte mit einer eher allgemeinen Bemerkung zum Verhältnis von Utopie und Archiv schliessen. Wie ich zu zeigen versucht habe, bezieht sich der utopische Impuls immer auf den Wunsch des Subjekts, aus seiner geschichtlich bestimmten Identität auszubrechen, seinem Platz in der historischen Taxonomie zu entfliehen. In gewisser Weise verleiht das Archiv dem Subjekt die Hoffnung, seine eigene Gegenwart zu überleben und sein wahres Ich in der Zukunft zu enthüllen, weil das Archiv verspricht, die Texte oder Kunstwerke dieses Subjekts nach seinem Tod zugänglich zu machen. Dieses utopische oder zumindest heterotopische Versprechen ist die Fähigkeit des Subjekts, eine Distanz und eine kritische Haltung in bezug auf seine eigene Zeit und sein eigenes unmittelbares Publikum zu gewinnen.
Archive werden oft als Mittel zur Konservierung der Vergangenheit betrachtet – zur Präsentation der Vergangenheit in der Gegenwart. Zugleich aber sind Archive Maschinen, mit denen die Gegenwart in die Zukunft transportiert werden kann. Künstler machen ihre Arbeit nicht nur für ihre eigene Zeit, sondern auch für die Kunstarchive – für die Zukunft, in der die Werke der Künstler präsent bleiben. Daraus ergibt sich der Unterschied zwischen Politik und Kunst. Künstler und Politiker teilen sich den gemeinsamen öffentlichen Raum des «Hier und Jetzt», und beide wollen sie die Zukunft gestalten. Dies verbindet Kunst und Politik. Doch Politik und Kunst gestalten die Zukunft auf jeweils unterschiedliche Weise. Die Politik versteht die Zukunft als Resultat von Handlungen, die hier und jetzt stattfinden. Politisches Handeln muss effizient sein, muss Resultate produzieren, muss das gesellschaftliche Leben transformieren. Anders gesagt, die politische Praxis gestaltet die Zukunft – aber sie verschwindet in und mit dieser Zukunft, sie wird von ihren eigenen Resultaten und Wirkungen vollständig absorbiert. Das Ziel der Politik besteht darin, obsolet zu werden – und Platz für die Politik der Zukunft zu machen.
Künstler hingegen arbeiten nicht nur im öffentlichen Raum ihrer Zeit. Sie arbeiten auch innerhalb der heterogenen Räume der Kunstarchive, wo ihre Werke neben den Werken der Vergangenheit und der Zukunft stehen. Kunst, wie sie in der Moderne funktionierte und auch heute noch funktioniert, verschwindet nicht mit getaner Arbeit. Das Kunstwerk bleibt vielmehr in der Zukunft gegenwärtig. Und genau diese antizipierte gegenwärtige Zukunft der Kunst verschafft ihr den Einfluss auf die Zukunft, gibt ihr die Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten. Die Politik gestaltet die Zukunft durch ihr eigenes Verschwinden. Die Kunst gestaltet die Zukunft durch ihre eigene verlängerte Gegenwart. Dies schafft eine Kluft zwischen Kunst und Politik – eine Kluft, die sich in der tragischen Geschichte der Beziehung zwischen linker Kunst und linker Politik im zwanzigsten Jahrhundert oftmals gezeigt hat.
Unsere Archive sind sicherlich historisch strukturiert. Und unser Umgang mit den Archiven steht immer noch in der historistischen Tradition des 19. Jahrhunderts. So tendieren wir dazu, Künstler posthum in die historischen Kontexte einzuschreiben, aus denen sie eigentlich ausbrechen wollten. In dieser Hinsicht scheinen die Kunstsammlungen aus der Zeit vor dem Historismus des 19. Jahrhunderts – Sammlungen, die nichts als Sammlungen schöner Dinge sein wollten – nur auf den ersten Blick naiv zu sein. Tatsächlich werden sie dem ursprünglichen utopischen Impuls sehr viel gerechter als ihre hochentwickelten historistischen ­Gegenstücke. Mir scheint, dass wir uns heute mehr und mehr ­einer nichthistoristischen Annäherung an die Vergangenheit zuwenden. Wir interessieren uns mehr für die Dekontextualisierung und das Reenactment von individuellen Phänomenen der Vergangenheit als für deren historische Rekontextualisierung. Und wir interessieren uns mehr für die utopischen Bestrebungen, die Künstler aus ihren historischen Kontexten herausführen, als für die historischen Kontexte selbst. Dies scheint mir eine gute Entwicklung zu sein, weil sie das utopische Potential der Archive stärkt und das Potential für deren Verrat an den utopischen Versprechen schwächt – ein Potential, das jedem Archiv inhärent ist, egal wie es strukturiert ist.

 


1 Douglas Crimp: «Über die Ruinen des Museums» (Verlag der Kunst, 1996), S. 80.

2 Hans Ulrich Obrist: «In Conversation with Julian Assange, Part I». In: e-flux journal 25, Mai 2011. Web: http://www.e-flux.com/journal/
in-conversation-with-julian-assange-part-i/

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!