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Kulturpolitischer Tsunami

Öffentliche Kulturförderung als Reizthema: In Deutschland reicht ein Hinweis auf das Ideal «Kulturstaat», um die Debatte zu ersticken. Aber auch wer hierzulande das «Prinzip Giesskanne» in Frage stellt, sieht sich einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt. Zu Unrecht, findet Armin Klein.

Kulturpolitischer Tsunami

Was wäre, wenn die Hälfte der Theater und Museen verschwände, einige Archive zusammengelegt und Konzertbühnen privatisiert würden? Wäre das die Apokalypse? Verfolgt man die überwiegend hysterischen Reaktionen der Kulturverbände und eines Grossteils der Presse auf das im Frühjahr erschienene Buch «Der Kulturinfarkt», so muss diese Frage mit einem deutlichen Ja beantwortet werden. Ja, es scheint tatsächlich die Apokalypse zu dräuen, wenn auch nur ein Theater, nur ein Museum geschlossen würde. Das Erstaunliche: die Reaktionen in Deutschland und der Schweiz ähneln sich frappant, die Debatten beiderseits des Rheins unterscheiden sich bloss in ihrer Intonation. Schauen wir sie einmal näher an und beginnen dort, wo die Magnitude am grössten war.

Lagebericht

Als es 1990 zur Deutschen Einheit kam, verfügte die «alte» BRD (mit ihren 60 Millionen Einwohnern) über rund 75 öffentliche Theater – die neu dazukommenden Bundesländer im Osten ebenfalls über 75 Theater – bei ganzen 13 Millionen Einwohnern! Dennoch sollte, ja musste alles erhalten bleiben. Sie existieren grossenteils bis heute, auch wenn die öffentlichen Theater in Deutschland in der Spielzeit 2009/10 rund 575 000 weniger Besuche verzeichneten als noch ein Jahr zuvor. Ähnliches lässt sich im Museumsbereich konstatieren. Noch im Februar 2012 äusserte der Präsident des Deutschen Museumsbundes, Volker Rodekamp, öffentlich, die Zahl der Museen steige, während die Bevölkerungszahl sinke. Schon jetzt seien es an die 7000 Museen in Deutschland. Es gebe Untersuchungen, wonach Ende dieses Jahrhunderts ein Museum auf etwa 2000 Bürger komme. Das sei, man höre und staune, nicht mehr zu vertreten.

Am 31. März 2012 beschloss die Tarifkommission für den öffentlichen Dienst, dass die gut zwei Millionen Angestellten des deutschen Bundes und der Kommunen in den nächsten beiden Jahren schrittweise 6,3 Prozent mehr Lohn bekommen; es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Bundesländer nachziehen. Diese Lohnerhöhung trifft in besonderem Masse den personalintensiven Kulturbetrieb. Der Deutsche Bühnenverein sprach bereits von einer Lohnkostensteigerung für die Theater im laufenden Jahr von 56 Millionen Euro und von 100 Millionen Euro im nächsten. Dies liesse sich nur bei einem gleichzeitigen Wachstum der Kulturausgaben um über 6 Prozent abfangen. Angesichts leerer öffentlicher Kassen wird das also die Nagelprobe für die lautstarken Verfechter des Status quo sein. Es könnte durchaus eintreten, dass eine entscheidungsunfähige Politik die Gegenwart preisgibt – und auch die Zukunft versäumt. Denn: gewaltige Fliehkräfte wirken auf das Land – Demographie, Digitalisierung, Globalisierung. In einem beispiellosen Kraftakt wird momentan in Deutschland die Energiewende weg von der Atomkraft und hin zu regenerierbaren Energien vollzogen, die fünfzig Jahre lang unangefochtene Bundeswehr wird in eine Freiwilligenarmee verwandelt, Schulen werden geschlossen, weil es an Schülern mangelt, und Kirchen säkularisiert, weil die Gläubigen fehlen. Nur in Kunst und Kultur muss alles bleiben, wie es war!

Deutschland: Kulturstaat als Kompensation

Der deutsche Kulturrat machte aus dem fragenden Konjunktiv der Autoren von «Der Kulturinfarkt» einen herrischen Imperativ: Die Autoren forderten, die Hälfte der Kultursubventionen zu kürzen und damit die klammen Haushalte zu sanieren. Kein Wort davon stand im Buch. Doch einmal in die Welt gesetzt, entfaltete dieser Unfug Wirkung. Seinen absurden Höhepunkt erreichte der Protest, als mehr als 50 namhafte Künstler von Mario Adorf bis Wim Wenders in einem gemeinsamen Appell zur «Verteidigung der Kultur» in Deutschland aufriefen – so wortwörtlich, als stünden die Barbaren vor den Toren Berlins. In der Schweiz wurden die Ideen des «Kulturinfarkts» nicht gnädiger aufgenommen als in Deutschland. Vom «Theseninfarkt» bis zur «dampfenden Kacke» reichte das Spektrum der Kommentare und Antworten, von denen die wenigsten auf die Argumente des Buchs eingingen, sondern sich in stilistischen Fragen verkeilten oder die Autoren zu diffamieren versuchten. Das ist umso erstaunlicher, als die Schweiz vom spezifisch deutschen Kulturinfarkt nicht bedroht ist – noch sind die öffentlichen Haushalte hier zum grossen Teil in Ordnung, noch gibt es keine ungeordneten Schliessungen und Produktionsausfälle in den Theatern.

Wie lässt sich die irrationale Wucht der Debatte erklären, die sich in der Schweiz wie auch in Deutschland im Nachzug der Buchveröffentlichung des «Kulturinfarkts» in den Medien entlud? Für Deutschland gilt: Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist das so seltsam anmutende Konzept des «Kulturstaats» eine Kompensation, Kompensation für die verspätete Nationalstaatsbildung in einem in eine Vielzahl von Fürstentümern zersplitterten Land («Kulturnation» Deutschland), das nur durch seine Sprache und eben seine Kultur zusammengehalten wurde. Und Kompensation des von der politischen Willensbildung weitestgehend ausgeschlossenen Bürgertums (wunderbar nachzulesen in Goethes «Wilhelm Meisters theatralischer Sendung»): Auf der Bühne, im (wahrhaft!) «bürgerlichen Trauerspiel», bietet der Bürger dem Adel mutig die Stirn – und der liess es sich amüsiert gefallen, ist’s doch Theater nur! Seither ist es der Politik wie dem Bürger heilig, mit rund 109,50 Euro subventioniert letzterer nördlich des Rheins jede verkaufte Theaterkarte, und das 20 Millionen Mal im Jahr – ohne dass er nach seinen Interessen gefragt würde, versteht sich!

Umgekehrt muss stets «die Kultur» herhalten, wenn politisch und gesellschaftlich etwas schiefläuft: die Akzeptanz von Modernisierungs- und Globalisierungsfolgen, die «Unwirtlichkeit der Städte» (Alexander Mitscherlich), das Zusammenwachsen der verschiedenen Landesteile, die Integration der Migranten – stets fühlen sich Künstler und Kulturschaffende berufen, zu helfen und zu heilen – mit Kunst und Kultur. Das gilt für Deutschland wie für die Schweiz. Neuerdings sollen Kultur- und Kreativwirtschaft hier wie dort sogar stockendes Wirtschaftswachstum kompensieren. Und nach wie vor steht in Deutschland die Forderung im Raum, das Staatsziel Kultur auch in den Grundgesetzen zu verankern. Dies erklärt die Sache für Deutschland.

Die Schweiz hat diese kulturstaatliche Tradition nicht. Auch unterscheidet sich das schweizerische Kulturfördersystem in wesentlichen Punkten vom deutschen oder vom österreichischen: Alle grösseren Subventionen sind durch Volksabstimmungen legitimiert. Und die Kulturbetriebe sind – bis auf wenige Ausnahmen – nicht Teil der staatlichen (kommunalen) Verwaltung. Selbst die Nationalbibliothek als eines von zwei Bundesinstituten wurde jüngst an eine eigenständige Trägerschaft ausgelagert. Zwar gilt, dass in allen diesen Trägerschaften die Politik über Verwaltungs- oder Stiftungsräte Einsitz hat und erhebliche Kontrolle ausübt. Gleichwohl resultiert ein Kultursystem, das im direkten Vergleich deutlich weniger verstaatlicht ist, mehr unternehmerische Freiheit zulässt. Wenn die Zürcher Kunstgesellschaft als Trägerin des Kunsthauses 23 000 Mitglieder zählt, so sagt das etwas über die Verankerung der Institution in der Bürgerschaft. Der grosse Teil der Institutionen ist zudem aus privater Initiative entstanden, erst in der letzten Dekade mehren sich Erweiterungs- und Neubauprojekte, welche von der Kulturverwaltung selbst vorangetrieben werden. Wie kommt es also, dass die zentralen Thesen des Buches beidseits des Rheins die gleiche Welle der Entrüstung ausgelöst haben?

Der Schock war derselbe, weil der «Kulturinfarkt» die Privilegien des bürgerlich-intellektuellen Milieus in Frage stellt, ob es nun – wie in Deutschland – direkt an den Staat angekoppelt ist oder – wie in der Schweiz – mit mehr Selbständigkeit operiert. Es gibt in der Schweiz wie in Deutschland ähnlich verfestigte Interessen an öffentlicher Finanzierung für Kultur. Institutionen, die ihre Budgets wesentlich auf öffentliche Finanzen stützen, haben hüben wie drüben kein Interesse, ihre Existenzbasis zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Tatsache ist auch, dass das öffentlich subventionierte Kulturangebot in helvetischen wie in deutschen Landen nur etwa 10 Prozent Intensiv- und 30 Prozent Gelegenheitsnutzer kennt; die Zahlen stammen aus der Studie des Bundesamtes für Statistik von 2009. Die Bedürfnisse des institutionellen Sektors, durch das Feuilleton verstärkt, dominieren den öffentlichen Diskurs. Die Bedürfnisse der anderen 90 (oder 70) Prozent der Bevölkerung sind kein Thema der Politik. Der ausserinstitutionelle Sektor bzw. die unabhängige Kulturproduktion (Literatur, Pop, Jazz, Computerspiele, Comics, Comedy) muss mit 5 Prozent der Etats auskommen. Sie finanziert sich irgendwie selbst, pendelt zwischen Markt und Nothilfe. Dieser Umstand liefert der Politik immer wieder Gründe, sich nicht um sie zu kümmern – obwohl die Integrationsleistung und das Identifikationsangebot des informellen Sektors jene des institutionellen weit übertreffen.

Eine Redimensionierung des traditionellen hochkulturellen Sektors wäre an dieser Stelle also angezeigt, um einer künftigen Entwicklung Rechnung zu tragen. Und ein stärkeres staatliches Engagement im informellen. Ein Engagement, das für jede Bürgerin und jeden Bürger mehr Möglichkeiten zur kulturellen Tätigkeit schafft und das den kulturindustriellen Bereich stärkt. Denn wer die schweigenden 90 oder 70 Prozent erreichen will, muss nachfrageorientiert arbeiten. Wie Kunstprodukte von hohem Anspruch für den Markt entstehen, dafür verstellen uns in der Schweiz wie in Deutschland jenseits der Literatur (die immer unternehmerisch geprägt war) die grossen Einrichtungen seit längerem den Blick. Starthilfen für Kulturunternehmen in Musik, Computerspielen, Literatur, Design wären noch zu erfinden, v.a. weil sie für die Banken zu risikoreich sind. Und dass das wohlhabende Bürgertum einen grösseren Teil «seiner» Kultur aus eigener Tasche finanzieren würde, wäre durch Anhebung der Kartenpreise und durch ein revidiertes Steuerrecht einfach zu erreichen. Es blieben mehr Mittel für die nächsten Generationen und ihre anders gelagerten Bedürfnisse. Denn dass auf der helvetischen Insel der Glückseligen die Kulturetats stetig wachsen, scheint unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die europäische Wirtschaftskrise sie einholt.

Gute und schlechte Kultur?

Dass die Verlautbarung, ein Konzept einer «Kultur für alle» sei mit der praktizierten Politik nicht erreichbar, ja betoniere die Privilegien der kulturellen Elite, also bei einem derart betonierten Kulturverständnis für Aufruhr sorgen würde, war folglich absehbar. Die zur Diskussion gestellten Ideen sind aber weit mehr als eine kalkulierte Provokation.

Der mündige und entscheidungsfähige Bürger ist die wichtigste Voraussetzung für eine funktionierende direkte wie auch repräsentative Demokratie – da dürften sich alle Beteiligten der Debatte noch einig sein. Doch genau diese Mündigkeit und Entscheidungsfähigkeit spricht die in Deutschland und in der Schweiz vorherrschende Kulturpolitik dem Bürger ab: Er soll stattdessen «ästhetisch erzogen» werden, es soll das gefördert werden, «was es schwer hat». Hier herrscht die definitorische Flughoheit eines neuen intellektuellen Bürgertums. Da aber der Grossteil der Bevölkerung diesem Gebot nicht folgt, sondern weiterhin das nachfragt, was ihm gefällt – also ins Kino geht, Computer spielt oder einen Krimi liest, statt sich einen Marthaler anzusehen –, wird immer mehr vom nicht Nachgefragten produziert, auf dass auch der Kulturferne es doch endlich kapiere. Es scheint, als könnten die Bürger nicht selbst entscheiden, was ihnen gefällt und was nicht. Dies führt zu einem kulturellen Schisma: «schlechte Kultur» (die sich auf dem Markt durchsetzt) auf der einen, «gute» Kultur, die nur dank öffentlicher Förderung lebt, auf der anderen Seite.

Über «Qualität» in der Kunst kann allerdings in Zeiten der Postmoderne nicht mehr mit Autorität entschieden werden, der früher unhinterfragte Kanon hat sich aufgelöst. An seine Stelle treten die einschlägigen Förderkriterien der Kommissionen, der Jurys, der öffentlichen Hand. Das vorhersehbare Resultat: Kunst und Kultur ist das, was die öffentliche Hand fördert! Erfolgreich ist daher derjenige Antragsteller, der sich am besten auf diese Förderkriterien einstellen kann. Das führt auf der einen Seite zu einer Gleichförmigkeit im Angebot und auf der anderen zu einer additiven Ausweitung des Förderspektrums, denn wo es kein Förderkriterium gibt, gibt es auch kein Ausschlusskriterium. Das unausweichliche Förderinstrument ist deshalb die Giesskanne. Wenn es umgekehrt knapp wird mit den öffentlichen Mitteln, wird der Rasenmäher bemüht – da es alle prozentual gleich trifft, scheint dies genauso legitim. Das Endstadium ist das subventionierte Individuum. Es muss nur eine Idee haben – oder bald auch keine mehr.

Ästhetische Urteile kann man allerdings weder hoheitlich noch mit demokratischen Mitteln entwickeln. Die selektive Förderung ästhetischer Produktion aus Steuermitteln ist deshalb pro­blematisch. Sie ist erwünscht in dem Sinne, dass es kulturelle Praktiken und Traditionen gibt, die allen zugänglich bleiben sollen. Dies heisst aber zunächst nur, dass für den freien Diskurs kulturelle Referenzen benötigt werden, mehr nicht. Daneben muss der entwickelte demokratische Staat die private Initiative respektieren. Dafür benötigt er einen Ordnungsrahmen, in dem künstlerische Produktion und Rezeption sich gemeinsam und breit entfalten. Auch so wird Nischenkultur und Breitenkultur entstehen. Gerade weil Kultur ein Distinktionsmechanismus ist, wird es auch ohne übermässige Förderung immer genügend Innovation geben, werden wir nie im sogenannten Unterhaltungsbrei ersticken.

Der hypertrophe Ansatz einer «ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts» von Friedrich Schiller schlägt sich in Deutschland in den beiden Mythen des «Kulturstaates» und der «Kulturhoheit» nieder. Ergänzt wird dies durch eine verbreitete Überzeugung, die ich die «Adorno-Falle» nenne: Was dem Publikum gefällt, hat schon verloren, da es affirmativ ist! Der Markt wird verachtet. An die Stelle des «Kulturstaates» tritt in Wirklichkeit «Staatskultur», d.h. eine staatlich bzw. kommunal getragene und alimentierte Kultur. Damit wird paradoxerweise das Defizit, der ökonomische Verlust, zum Wertbeweis, zum essentiellen Markenzeichen von «wahrer» Kunst. Obwohl man weiss, dass viele «Klassiker» zu ihrer Zeit bereits Bestseller waren, egal ob sie aus Deutschland kamen, aus der Schweiz oder aus den USA.

Der Markt für Kulturgüter (auf dem die Nachfrager mit ihren Wünschen und Bedürfnissen auftreten) wird systematisch verteufelt. Deswegen meint die Politik, in diesem Sektor ohne ordnungspolitisches Konzept auszukommen. Sie agiert scheinbar «hoheitlich», wo es in Wirklichkeit um meritorische Güter (und ihre entsprechende Begründung) gehen müsste. Aber der Staat ist selbst Akteur auf dem Markt kultureller Güter, mithin Mitwettbewerber anderer Marktteilnehmer, produziert zum Teil das selbst, was andere auch herstellen könnten, spürten sie nicht den übermächtigen Konkurrenten Staat im Nacken. Gleichzeitig beansprucht er als «Kulturstaat» eine übergeordnete Rolle als Sinngeber. Solcher «hoheitliche» Gestus des Staates ist allerdings nur dort gerechtfertigt, wo es um öffentliche Güter geht, etwa um die Bewahrung des kulturellen Erbes (Denkmalschutz, Archivwesen). Nicht gerechtfertigt ist er dort, wo der Staat Anbieter kultureller Güter und Dienstleistungen unter anderen Anbietern ist. Dort kann er meritorisch fördern, aber er muss dies mit ordnungspolitischem Augenmass tun.

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