Kultiviertes Misstrauen
Das Volk vertraut den Politikern nicht. Und die Volksvertreter haben wenig Vertrauen ins Volk. So entsteht eine Spirale des Misstrauens, die zu immer neuen Gesetzen führt. Darunter leiden die Bürger – und zuletzt auch die Politiker
Die Deutschen werden von einer politischen Kaste regiert, die ihnen nicht vertraut, nicht viel zutraut und deshalb auch nichts zumutet. Vor dem Hintergrund der NS-Zeit hat man den direkten Zugriff des «Volkes» auf die Politik in extremer Weise gefiltert. Mit zusammengekniffenen Augen schaute man auf jede auch noch so vorsichtige Form von direkter Demokratie. Das «Volk», das ist das Unberechenbare, das grundsätzlich Fehlerhafte. In Deutschland lässt sich beobachten, was sich in der Tendenz auch in der Schweiz abzeichnet.
So bestätigt die tatsächliche Existenz einiger terroristischer Aktionen die Politiker in ihrem Misstrauen gegenüber allen. Sie gelten ihnen als Vorwand, den unbeobachteten Bewegungsraum der Bürger einzuschränken, Telefonate abzuhören, öffentliche Plätze per Video zu überwachen, den Bürger «gläsern» zu machen.
Die tatsächliche Existenz einiger Wirtschaftskrimineller bestätigt die Politik in ihrem Misstrauen gegenüber allen. Dies nimmt sie zum Vorwand, die Wirtschaft über Regelungen und Vorschriften an die Kandare zu nehmen. Um 5 Prozent Kriminellen das Handwerk zu legen, werden 95 Prozent mit einem Misstrauensnetz überzogen.
Die tatsächliche Existenz einiger Sozialfälle bestätigt die politische Elite in ihrem Misstrauen gegenüber allen. In anderenLändern – beispielsweise den USA – anerkennt man: einige können ihr Leben nicht selbst regeln. In Deutschland glaubt man: alle können es nicht.
Die Bürger wissen offenbar auch nicht, wie sie mit ihrem selbstverdienten Geld umgehen sollen. Hilfreich nimmt ihnen die politische Elite diese Aufgabe ab. Wenn sie eine Staatsquote von 50 Prozent verordnet, dann sagt sie: «Zur Hälfte muss ich dir die Entscheidung abnehmen, wie du dein Einkommen verwenden willst.» Der Bürger erlebt den Staat nicht in Form der Polizei oder der Justiz, sondern in der sadistischen Gestalt des Finanzbeamten. Quer durch alle sozialen Schichten zieht sich das Gefühl, der Staat nutze jede Chance, dem Bürger Geld abzuknöpfen, wobei er dies zusammen mit seinen Komplizen aus der Steuerchaos- Industrie tut: Steuerberater, Fachanwälte, Steuerrechtsprofessoren, Finanzrichter, Seminarveranstalter für Steuerfragen.
Vor allem aber wächst der Verdacht, dass dieses Ungeheuer in erster Linie sich selbst versorgt. Dass es weniger um sozialen Ausgleich und Gemeinwohl geht als um das Wohl des Apparates. Die wahrnehmbare Gegenleistung wird immer geringer. Für jeden ist beobachtbar, dass die Qualität der erbrachten Sozialleistungen – im Gesundheits-, Alters-, Bildungs-, Kulturbereich – sinkt, während die Preise über Steuern und Abgaben für diese Leistungen steigen. Zusätzlich wachsen die staatlichen Entgeltforderungen: Strassenmaut, Studiengebühren, kostenpflichtige Leistungen der Behörden. Hier wuchert zum Steuerstaat ein Entgeltstaat heran. Zudem zeigt die Politik immer weniger Hemmungen, den Bürgern, vor allem aber den Unternehmern, sonderabgabenähnliche Kosten aufzubürden, um Öko- Strom, Krankenkassen und weitere sozialstaatliche Anliegen zu finanzieren. Der Verteilungskampf findet heute nicht zwischen Jung und Alt oder Arm und Reich statt, sondern zwischen Volk und Politik.
Der staatliche Grosszuhälter kriegt nie genug. Verfolgt man die Diskussion in den Medien, dann herrscht mit Blick auf die Staatsfinanzen ein latenter Ausnahmezustand. Steuerschätzungen erhalten Schlagzeilen- Prominenz, mit liturgischer Atemlosigkeit müssen Löcher gestopft werden, reissen Krisen den Staatshaushalt zu Boden. Was früher einmal galt – dass die Gesetzgebung nicht jede gesellschaftliche Konjunktur hektisch mitmachte, sondern mit guten Gründen immer eine Generation hinterherhinkte –, das ist heute nervöser Betriebsamkeit gewichen. Mehrwertsteuer hoch! Vermögenssteuer einführen! Reichensteuer! Lohnsteuer für Niedrigeinkommen senken! Finanznot und Lenkungswahn des Staates haben damit einen nachgerade dramatischen Wesenswandel in der Gesetzgebung herbeigeführt: Das Recht ist kein Recht mehr – es ist zur Massnahme geworden.
Man denke an die Ungeheuerlichkeit staatlicher Hehlerei: an den staatlich legalisierten und finanzierten Kauf gestohlener Bankdaten. Unrechtsbewusstsein? Keineswegs. Dem Staat sind Steuereinnahmen und die Einschüchterung der eigenen Bürger wichtiger als rechtsstaatliche Zurückhaltung. Selbst wenn man aus Neid dem Kauf zugestimmt hat – klar wurde, dass die politische Parallelgesellschaft es schon irgendwie hinbiegt.
Die Gesetzgebung verschiebt sich zunehmend von der Legislative zur Exekutive. Sie wird situationsgebunden, unsicher, vor allem aber inkonsequent und gleichgültig gegenüber grundlegenden Prinzipien wie der Steuergleichheit. Was Asylbewerber und Hartz-IV-Empfänger schon lange an staatlicher Willkür im Umgang mit Gesetz und Recht erleben, gehört mittlerweile auch zum Erfahrungsschatz der Deutschen im Umgang mit ihren Finanz-, Arbeits- oder sonstigen Ämtern: sie stehen unter Verdacht; und ihre Rechte werden ihnen nur so weit gewährt, wie es zu der gerade aktuellen Finanzlage passt.
Steuersparende Modelle werden wegen banalster Verfahrensfehler abgelehnt – oft sogar retrospektiv. Wenn es ums Geldeintreiben geht, werden auch höchstrichterliche Urteile ignoriert; rechtliche Vorschriften, die nicht recht passen, werden passend gemacht. Und wenn alles nichts mehr nützt, werden bürgerfreundliche Entscheidungen des Bundesfinanzhofs mit einem ministerialen «Nichtanwendungserlass» ausgehebelt, in den letzten fünf Jahren über 40mal. Wenn der staatliche Respekt vor dem Recht schwindet – warum soll da der Bürger das Recht respektieren?
Die Zerstörungskraft des staatlichen Zugriffs ist damit noch lange nicht am Ende. Sie greift viel tiefer in das moralische Empfinden der Bürger ein, als offiziell anerkannt wird. Und das hängt damit zusammen, dass sich die Politiker fragen: «Wie können wir unsere finanziellen Einnahmeinteressen mit den ‹richtigen› Ideen vom guten Leben verknüpfen?» Das deutsche Steuerrecht kennt über 500 Lenkungsprivilegien, die die deutsche Gesellschaft tiefgreifend entsolidarisieren. Man denke auch an die moralische Maskierung immer neuer Abgaben. Denn heutzutage werden ja nicht einfach nur die Steuern erhöht. Heute versieht man sie mit einem guten Zweck: Benzinsteuer hoch für die Umwelt! Ausbildungsabgabe für die Jugend! Tabaksteuer hoch für die Gesundheit!
Der permanent lauernde Ausnahmezustand, mithin der Niedergang des Rechts, lauert im Herzen der Demokratie, genauer: im Verhältnis von Recht und Wirklichkeit. Die hochschnellende Willkür des Gesetzes gegenüber dem Bürger ist dabei eines der düstersten Geheimnisse der Demokratie. Die Reaktion des Bürgers: Misstrauen.
Da Misstrauen die unabweisbare Tendenz hat, sich im sozialen Miteinander zu verstärken, beginnt oft jene Misstrauensspirale, die wie wenig vergleichbare Paradigmen die innere Verfasstheit Deutschlands prägt. Einnahmeinteresse, Volksbeglückung und Sittlichkeitsrhetorik bilden das Gemisch, das Steuerung und Kontrolle durch die Politik intensiviert. Das wird vom Bürger als Vertrauensentzug erlebt, als Bruch des impliziten Vertrages. Der Bürger fühlt sich weniger gebunden, weniger verpflichtet. Nach ersten – oft heimlichen – Unmutsäusserungen ändert er sein Verhalten. Er reduziert seine Bemühungen, Geben und Nehmen auszugleichen, dem Gesetz der Reziprozität zu gehorchen. Er weicht aus, versucht, die zusätzlichen Sicherungsmassnahmen zu umgehen. Die Steuermoral sinkt weiter – was wiederum das Misstrauen auf Seiten der Politik zu rechtfertigen scheint: haben wir es doch gewusst! Sie versucht, durch zusätzliche Steuerungs- und Kontrollmassnahmen die Sicherungslücke zu schliessen. Das erlebt der Bürger wiederum als Bruch des impliziten Vertrages, er fühlt sich weniger gebunden… und so fort. An irgendeinem Punkt dieses Prozesses schliesslich entfallen die psychologischen Kosten des schlechten Gewissens. Dann sagt der Bürger: «Ihr misstraut mir, ich betrüge euch.»
Die mentale Folge? In Deutschland hat es die Steuerbürokratie geschafft, aus dem Land der Dichter und Denker ein Land der Steuerhinterzieher zu machen. Das Tricksen gilt als keineswegs ehrenrührig, sondern als berechtigte Selbstverteidigung. Wenn Steuerhinterziehung zunimmt, dann ist dies eben kein Indiz für eine moralische Krise oder unsoziale Einstellung, sondern für ein marodes System, das von vielen als illegitim empfunden wird. Zu oft gibt die Politik die für einen Rechtsstaat unabdingbare Neutralität gegenüber den Werthaltungen der Bürger auf. Zu oft geht es Politikern nicht mehr darum, herauszufinden, was die Bürger wollen, sondern darum, was die Bürger sollen. Zu oft will sie normative Ansprüche beim Bürger durchsetzen. Und zu oft verbiegt sie den Rechtsstaat zum Staatsrecht.
Die staatliche Administration wird die Urheberschaft an diesem Phänomen ablehnen. Schliesslich zahle niemand gerne Steuern. Verantwortlich sei vielmehr die kriminelle Energie der Bürger. Kurzerhand wird wieder eine strukturelle Schieflage dem einzelnen in die Schuhe geschoben, grosse Teile der Bevölkerung zu Verbrechern erklärt. Man ist nicht bereit anzuerkennen, dass jedes Gemeinwesen eine nicht gesetzeskonforme Grundlast tolerieren muss, andernfalls sie geradewegs in den Totalitarismus wandert. Unbeirrt verwechselt so der Steuerstaat seine Tropfkerze mit dem Licht der Vernunft. Und sieht deshalb nicht, wie er den Rechtsstaat mit Füssen tritt. Zu befürchten ist: Er hat dabei nicht einmal ein schlechtes Gewissen.