Kulinarik ohne Käseklumpen
Die Eidgenossen seien Rosinenpicker, heisst es oft. Dabei besitzt die Schweiz eine gewachsene, ursprüngliche kulinarische Tradition.
Die Schweiz ist umrahmt von Ländern, deren nationale Küchen und Essgewohnheiten für die jeweiligen Staaten stehen wie die Armbrust für den eidgenössischen Widerstandswillen. Die Franzosen haben ihre grande cuisine française, sie ist ihnen heilig und besitzt Strahlkraft über den ganzen Planeten. Die Österreicher delektieren sich an ihren Mehlspeisen, da bekommen wir vor Neid schon schwache Knie. Unseren italienischen Nachbarn ist Kochen und Essen derart wichtig, dass sie tagelang darüber schwadronieren können; selbst das dort überirdische Thema katholische Kirche verblasst dabei zur Randnotiz. Sogar die Deutschen, deren Geköche notabene nie synonym mit feinsinniger oder gar sinnlicher Küche war, haben ihr Kraut, das ihnen amerikanische GIs im Zweiten Weltkrieg als Spitznamen anhefteten. Und sie haben eine nationale Bratenküche. Von Sauer- über Zwiebel- bis Rostbraten wird in deutschen Küchen auf Teufel komm raus gesotten und gedämpft. Niemals wieder soll Väterchen Schmalhans Oberhand gewinnen.
Reflektieren wir. Was fällt uns zum Thema nationale Küche ein? Nein, bitte nicht! Ich weiss, was jetzt kommt: das Käsefondue! Sinnbild helvetischer Gemütlichkeit, aufgebaut beziehungsweise zusammengerührt auf zwei Grundpfeilern eidgenössischer Nahrungsmittelproduktion. Ist es denn seit ewigen Zeiten Hochblüte schweizerischer Kulinarik? Weit gefehlt. Ein tröstlicher Gedanke wäre es ja: der gute Wilhelm Tell und seine Freunde rund um ein Lagerfeuer beim gemütlichen Stochern im Pfännlein. Dann hiessen sie heute nicht Eid-, sondern Käsegenossen. Nein, Fondue startete erst in den 1960er-Jahren durch, befeuert von der damaligen FIGUGEGL-Marketingkampagne der Schweizerischen Käseunion. Man brauchte dringend Absatz, damals war Menge bei der Produktion gefragt, Qualität figurierte unter «ferner liefen». Dass dabei auch die Waadtländer Weinproduzenten mehr von ihren dünnen Wässerchen loswurden, dagegen hatte niemand etwas. Die Folgen nach Fondue-Gelagen sind bis heute schmerzhafte Käseklumpen in unseren Mägen und tagelang vermuffte Wohnungen – nicht nur dem penetranten Käsegeruch geschuldet, der aus den Caquelons strömt, sondern auch körperlichen Reaktionen biblischen Ausmasses, da beim Zubereiten mit Knoblauch nie gespart wird.
«Was unsere Küche besonders macht,
sind die regionalen Gerichte, die sich, grob umrissen,
innerhalb der Sprachgrenzen sammeln.»
Da ist aber auch das Raclette, ein weiteres populäres Ergebnis der Käseschmelze, das mir ein Rätsel ist. Mit viel Aufwand und Zeit wird Milch aus ihrem flüssigen Zustand in einen mehr oder weniger festen übergeführt, nur um letztendlich wieder verflüssigt zu werden. Das schauten sich die braven Helvetier wohl an ihren Gletschern ab. Aber das Raclette ist mitnichten eine einheimische Erfindung. In den Hügeln des französischen Jura sowie in Savoyen liegt sein Ursprung, und gegessen wurde es dort vor allem im Sommer.
Nun, mit Aufzählungen populärer «Schweizer Spezialitäten» könnte ich fortfahren, doch keine verdient das Hier-erfunden-Etikett. Nein, auch das Gehackte mit Hörnli nicht. Fleisch so klein geschnitten gab es lange vorher in fast sämtlichen Küchen auf der Erde. Was in Thailand das Larb, in Europa der Hackbraten und in Amerika das ground beef ist, hatte seit jeher den Zweck, zu verheimlichen, was drin ist. Darum gilt auch heute: Je feiner das Fleisch verarbeitet wird, desto mehr Möglichkeiten hat der Metzger, Tierteile hineinzuschmuggeln, von denen wir nicht einmal wissen wollen, dass es sie gibt.
Lokales Spezialitätentum
Was unsere Küche besonders macht, sind die regionalen Gerichte, die sich, grob umrissen, innerhalb der Sprachgrenzen sammeln. Daraus nur eine Vermengung der nachbarlichen Kulinarik zu sehen, greift zu kurz. Regionale Küche basiert auch auf dem Klima eines bestimmten Gebietes. So kommen im Tessin sowie in den Südbündner Tälern wie Puschlav, Misox oder Bergell landwirtschaftliche Produkte auf die Tische, die weiter nördlich gar nicht erst gedeihen, dafür aber weiter im Süden. Darum sind in diesen Randregionen viele lokale Spezialitäten der italienischen Küche nahe. Im Westen und im Norden der Schweiz ist der Kochstil der angrenzenden Nationen allerdings doch spürbar. Die unzähligen, teilweise von Tal zu Tal oder gar von Dorf zu Dorf sich unterscheidenden Ergebnisse lokalen Gemüseanbaus und Viehzucht ergeben eine immense Vielfalt an Gerichten. Denken wir nur an Ikonen wie Capuns und Pizokel, Zürcher Geschnetzeltes, Bohnen und Speck oder die Polenta. Sie zusammengenommen als Teil der Schweizer Küche zu bezeichnen, kommt der Wahrheit wohl näher als Fondue, Raclette und Rösti.
Über die Jahrhunderte wurde dieser Schatz der Regionenküche auch durch den geringen Mobilitätsdrang der Bevölkerung gewahrt und verfeinert. Wer an einem Ort aufwuchs, blieb meistens sein ganzes Leben in der Region. Und aufgrund fehlender Expansionsgelüste oder gar Kolonien zerfaserte das lokale Spezialitätentum auch nicht. Trotzdem schlichen sich ausländische Gerichte in wachsender Zahl auf die helvetischen Tische. Anfangs noch den eidgenössischen Söldnern geschuldet, die aufgrund ihrer Unerschrockenheit europaweit geschätzt und eingesetzt wurden und dabei in der Ferne fremdartiges Essen kennen, manches davon auch schätzen lernten. Wieder daheim bei ihren Müttern, wollten sie es nicht mehr missen. Heute ist es nicht mehr die schiere Not, welche Schweizer an fremde Tische in der Ferne treibt – im Gegenteil reist man, um Geld loszuwerden, vor allem auch zur Befriedigung lukullischer Gelüste. Unser Wohlstand und die damit mögliche Reiselust treiben uns um den ganzen Erdball und lassen unsere Nasen in die entlegensten Kochtöpfe stecken. Wir entdecken Spezialitäten, die wir am heimischen Herd nachkochen wollen. Das führte zum eher exotischen Mix, der die einheimische Küche heute dominiert. Diese kulinarische Sehnsucht bereitete auch den Nährboden für Geschäftsmodelle wie die Globus-Delicatessa. Als deren Foodscout war ich drei Jahrzehnte auf der Welt unterwegs. Meine Aufgabe war, exotische Produkte in das Sortiment zu bringen, um exakt diese Sehnsucht der Weitgereisten zu befriedigen. Natürlich auch, um die Daheimgebliebenen neugierig zu machen und an den Herd zu locken.
Pancetta-Gruyère-Kartoffeltarte von Richard Kägi
Dieser gehaltvolle Kartoffelkuchen ist zusammen mit einem Salat ein genauso köstlich einfaches wie edles Hauptgericht, das sich erst noch sensationell gut auf dem Teller präsentiert. Das mit Pancetta und Käse angereicherte Kartoffelbackwerk ist aber auch eine tolle Beilage. Dann einfach nur ein schmales Stück auf jeden Teller anrichten.
Zutaten für 4 Personen:
1 Kilo mehlig kochende Kartoffeln (z.B. Désirée)
50 g geklärte Butter (Bratbutter oder Ghee)
300 g Pancetta, in dünnen Scheiben
350 g Gruyère-Käse, gerieben
Zubereitung:
Backofen auf 200 °C vorheizen. Kartoffeln schälen, in 3 mm dicke Scheiben schneiden und auf Küchenpapier trocknen. Eine runde, ofenfeste Form von etwa 22 cm Durchmesser (oder eine Bratpfanne mit ofenfestem oder abnehmbarem Griff) mit etwas geschmolzener Butter einpinseln. Form mit Pancettascheiben
spiralförmig und leicht überlappend auskleiden, mit mindestens 3 cm Überhang am Rand der Form. Für den Abschluss einige Scheiben aufsparen. Kartoffelscheiben gleichmässig über die Pancetta einschichten, bis zu einem Drittel Formhöhe. 1/3 des Gruyère darüberstreuen und mit schwarzem Pfeffer aus der Mühle bestreuen.
Zweimal wiederholen, mit einer Schicht Kartoffeln abschliessen. Mit geschmolzener Butter übergiessen, die überhängenden Pancettascheiben darüber falten und mit den restlichen Scheiben gut zudecken. Auf dem Herd bei hoher Hitze den Garprozess starten. Wenn die Pancetta am Rand der Form zu bräteln beginnt, die Form in den Ofen schieben und 30 Minuten backen. Auf 180 °C zurückschalten und weitere 30– 40 Minuten backen, bis die Kartoffeln weichgegart sind. Aus dem Ofen nehmen, 15 Minuten stehen lassen und vorsichtig auf einen grossen Teller stürzen.
Kulinarischer Erfindungsgeist
Wir ernähren uns aber nicht nur von stark verarbeiteten Nahrungsmitteln. Die kulinarische Landschaft hierzulande besteht aus einer unüberschaubaren Anzahl an Spezialitäten – Produkte, die meistens aus der Notwendigkeit des Konservierens entstanden. Sei es, um die immer wiederkehrenden Hungersnöte zu überstehen oder einen saisonalen Überschuss in die kargeren Jahreszeiten zu retten. Genauso wie auch den fehlenden Kühlmöglichkeiten entgegenzuwirken. Dieses über Generationen verfeinerte Handwerk war gerade in den Bergregionen überlebenswichtig. Nirgends sonst in Schweizer Haushalten war der Selbstversorgungsgrad auch nur annähernd so hoch wie im alpinen Raum. Fleisch und Fisch, aus Jagd wie aus Viehzucht gewonnen, wurde gesalzen und getrocknet, Milch zu Käse verarbeitet und das rare Gemüse eingelegt oder getrocknet. Nur so liessen sich die langen, dunklen Winter in den Bergen überstehen. Der Fundus all dieser kulinarischen «Notgroschen» ist enorm. Auch heute noch gibt es für einen professionellen Foodhunter wie mich immer wieder Preziosen zu entdecken – da eine Trockenwurst, von der ich noch nie hörte, dort ein Käslein, das meiner Zunge bisher entgangen war. Die Landwirtschaft in den Schweizer Ebenen ist seit den Römern auf grösstmögliche Produktivität hin ausgerichtet. Sie revolutionierten sie geradezu, führten Monokulturen sowie das System des temporären Brachliegens von Feldern ein und trieben die Viehzucht voran. Man sagt, die Tradition der Metzgete sei auf ihrem Mist gewachsen. Schweine durch den langen Winter zu füttern, das konnte sich niemand leisten. Die Speicherkammern waren gefüllt, das Gesinde nach dem Sommer ausbezahlt, da kam ein letztes Festessen vor der weihnachtlichen Fastenzeit gerade im rechten Moment. Gegessen wurde nur, was nicht konserviert werden konnte – also Innereien, Kopf, das Blut. Solche wie auch andere Esstraditionen behaupten bis heute ihren Platz im kulinarischen Kalender und tragen ihren Teil zum kulinarischen Erbe der Schweiz bei.
Der äusserst vielfältigen Produktelandschaft wurde es immer wieder eng in der kleinen Schweiz. Migration sowie kulinarischer Erfindungsgeist verhalfen nicht wenigen Produkten zum Sprung auf die wirtschaftliche Weltbühne. Nehmen wir die Milchschokolade, das Milchpulver oder Käseinnovationen wie die Belper Knolle von Jumi oder den Jersey Blue, einen Blauschimmelkäse des Appenzeller Käsehexers Willi Schmid – Produkte, die einen beispielhaften Siegeszug über alle Ländergrenzen hinweg antraten. Bei über der Hälfte aller französischen Käsespezialitäten hatten ursprünglich Schweizer Emigranten ihre Finger in der Milch. Zurzeit schiessen Food-Start-ups an allen Ecken aus dem Boden: sei es, um traditionelle Lebensmittel wie schwarze Schokolade weiterzuentwickeln, sei es, um Seafood-Zuchten, die Herstellung von Tofu oder Fleischersatzprodukte aus Erbsenproteinen voranzubringen. All diese neuen oder handwerklich in neue Form gebrachten Waren finden ihren Weg irgendwann auf unsere Teller und bereichern die Schweizer Küche mit mehr Vielfalt, Geschmack und Innovationsgeist.
«Migration sowie kulinarischer Erfindungsgeist
verhalfen nicht wenigen Produkten zum Sprung
auf die wirtschaftliche Weltbühne.»
Swiss made bleibt ein Gütesiegel
Zu wünschen ist, dass die heutigen Pioniere ihre Erfindungen nicht mehr so leichtsinnig aus der Hand geben, wie es in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Käseunion tat. Die Herren hielten es damals nicht für nötig, an einer internationalen Konferenz über Markenschutz für typische Produkte teilzunehmen. Emmentaler, Gruyère
und so weiter herstellen, das können nur Schweizer in der Schweiz, so ihr Credo. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das Ergebnis ist, dass heute fast überall auf der Welt Käse mit diesen Bezeichnungen produziert und in den Handel gebracht werden darf. Ich degustierte schon Emmentaler aus Marokko oder Mexiko. Glauben Sie mir, das wollen Sie nicht essen.
Andererseits ist auch immer wieder über Kurioses in der Schweizer Produktelandschaft zu schmunzeln. Oder kennen Sie sonst noch eine Wurst auf der Welt, die halbschlaffen und halbprominenten Persönlichkeiten, die gerne einem grösseren Kreis bekannter wären als nur ihrem innersten Fanzirkel, ihren Namen gab?