Künstliche Panik
statt künstlicher Intelligenz
Die Feuilletondebatten zur Zukunft der Menschheit im Zeitalter der künstlichen Intelligenzen werden unsachlich und schlecht informiert geführt. Mit Fortschrittspessimismus lässt sich gut Auflage machen, das bringt uns aber nicht weiter. Eine Widerrede.
Im Zuge des vermeintlichen Siegeszuges künstlicher Intelligenzen überschlagen sich die zeitgenössischen Feuilletons geradezu mit Mutmassungen über das Ende der Arbeit, der individuellen Freiheit, ja des Menschseins. Viele, scheinbar philosophisch angehauchte Debatten zu KI werden allerdings zu unsachlich und schlecht informiert geführt. Ein Beispiel dafür ist die etwa von Slavoj Žižek oder Yuval Noah Harari in Aussicht gestellte, so gut wie ausgemacht Beschneidung unserer individuellen Freiheiten durch selbstlernende Maschinen. Warum das selbst bei grossen KI-Technologiefortschritten und anhaltender Anwendungsausweitung nicht der Fall sein wird, zeigt sich, wenn man – wie in der Philosophie eigentlich üblich – zuerst die Begriffe klärt!
Babylonisches Sprachengewirr
Wenn heute von künstlicher Intelligenz (KI) die Rede ist, so werden damit Programme oder Algorithmen bezeichnet, also Abfolgen einzelner vorgegebener Anweisungen, mit denen Computer Probleme zu lösen imstande sind. Genau genommen umfasst KI jedoch nur eine spezielle Art von Algorithmen, nämlich solche, die die Fähigkeit besitzen, selbständig, ohne explizite Anweisungen eines Benutzers, zu lernen. Sie sind in diesem und nur in diesem einen Sinne – wenn überhaupt – «intelligent».
Der weitverbreitetste Typ dieser Programme lernt maschinell. «Machine Learning» (ML) fusst auf profaner Statistik. Dabei werden Daten (als Trainingsdaten) und sie beschreibende Informationen, die sogenannten Metadaten, zunächst in ein bestimmtes Computerprogramm eingegeben, woraufhin letzteres dazu angehalten wird, Muster in diesen Daten zu erkennen. Das funktioniert ziemlich gut: Wenn Sie viele hunderte MRT- oder Mammographie-Bilder von Brustkrebs mit den dazugehörigen Metadaten «Dieses Bild zeigt einen Brustkrebs» in solche Programme einspeisen, «lernen» diese durch stetiges Anpassen ihrer Sicht- und Funktionsweise, darin Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten zu erkennen. Sie können also irgendwann auch bei Bildern, die sie bisher noch nicht «gesehen» haben, mit einer hohen statistischen Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass auf einem ihnen neu vorgesetzten Bild ein Brustkrebs zu sehen ist. Oft spricht man von KI und meint schlicht ML: Daten werden erhoben, ein Computer wertet diese aus und gibt auf Basis seines Trainings Trefferwahrscheinlichkeiten aus und Prognosen ab. Diese Maschinen lernen durch endlose Wiederholung. Je mehr (hochwertige) Daten eingespeist werden, desto präziser wird die Vorhersage, weil die Software a posteriori «lernt». Eine komplexe Variante des ML, die näher an unserem Verständnis von Intelligenz ist, ist das Deep Learning, das künstliche neuronale Netze nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns bezeichnet. Der Versuchsaufbau ist komplexer, aber ebenfalls bis dato und absehbar sehr weit entfernt von der Vielseitigkeit und Flexibilität menschlicher Intelligenz.
Das bedeutet: Wer von künstlicher Intelligenz redet, läuft Gefahr, schon mit der euphemistischen Bezeichnung allzu viel zu versprechen. KI sind Maschinen, die weder wirklich intelligent noch speziell künstlich sind. Selbst die komplexesten, «selbstlernenden» Algorithmen basieren auf den Konventionen und Erfahrungen derer, die sie entwickeln. Sie sind deshalb einzig imstande, eine Komponente von menschlicher Intelligenz zu ergänzen, nicht einmal zu ersetzen, nämlich die Möglichkeit zur plausiblen Vorhersage eines bestimmten Umstands aufgrund bereits bekannter und beschriebener Umstände. Der Mensch kann deutlich mehr, seine Intelligenz umfasst u.a. auch die Fähigkeit zum Verständnis, zum Bewusstsein, das Erschliessen emotionalen Wissens, die Anwendung von umfänglicher Kreativität.
Was hat das mit Freiheit zu tun?
In Anbetracht dieser eher ernüchternden Ergebnisse drängt sich die Frage auf, was durch diese Technologien ermöglichte tiefergehende Datenauswertung überhaupt mit individueller Freiheit oder dem Liberalismus zu tun hat. Und die Antwort muss angesichts der Anwendung von KI-Algorithmen auf prinzipiell mathematisch als Funktion abbildbare, repetitive Prozesse (später dann solche, die noch Datenreichtum und hinreichende Regelmässigkeit aufweisen), die in der Folge automatisierbar sind, lauten: nicht sehr viel! Weil Willens- und Entscheidungsfindung, wodurch sich Autonomie und individuelle Freiheit ausdrücken, erratisch ist und stets Urteilsvermögen sowie kausale Denkleistungen voraussetzt, die wiederum vor allem in datenknappen und volatilen Umgebungen Menschen vorbehalten bleiben. Gerade dann erweisen sich unser menschliches Verständnis von anderen Menschen – der Mensch ist, mit Nietzsche gesprochen, das «nicht festgestellte Tier» – sowie unsere kognitiven Modelle zu den Abläufen in der Welt, um Kausalitäten zu deuten, als zentral für unsere Urteilsfähigkeiten. Maschinen können diese schwerlich vorhersagen respektive erlernen.
Ein Vergleich von menschlicher versus maschineller Leistungsfähigkeit auf der Ebene von Rechenoperationen, wie etwa von Jürgen Schmidhuber in dieser Zeitschrift 2017 vorgenommen, ist insofern irreführend, denn nicht alle Vorgänge und Dinge in der Welt gehorchen dem Diktat der Quantifizierung und Automatisierung. Insbesondere genügen heutige statistische Instrumente zum Feststellen von Wahrscheinlichkeiten oder Korrelationen nicht, um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge einzufangen, darunter Kontrafaktisches, wozu qua definitionem keine Daten bestehen; Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die Entscheidungsfindungen und somit (Wahl-)Freiheit prägen («Was wäre der Fall, wenn ich anders gehandelt hätte?», «Wie schaffe ich es, X zu erzeugen?») etc.
«KI sind Maschinen, die weder wirklich intelligent
noch speziell künstlich sind.»
KI stellt ein Werkzeug oder Medium zur Datenanalyse dar, und wie sehr sich ein Individuum von dem Output der KI beeinflussen lässt, hängt von vielen Faktoren ab, etwa vom Charakter oder dem Bildungsstand der Person. Der springende Punkt jedoch ist, dass diese Faktoren im Individuum und seiner Umwelt, nicht aber in der KI zu finden sind. So autonom KI-Technologie im obigen Sinne als statistisches Tool auch wird, ihre Auswirkungen auf die Welt – im Guten wie im Schlechten – werden immer in unserer Verantwortung liegen. Das bedeutet aber auch: Je berechenbarer wir und unsere Verhaltensmuster sind, je mehr wir nur wiederholen und ausführen, desto eher werden sich diese Muster und Tätigkeiten ergänzen und ersetzen lassen. Das hat vor allem Auswirkungen auf unsere Arbeitswelt, und zwar schon seit Jahrhunderten. Je mehr Daten über sie zur Verfügung stehen, desto schneller kann Repetition erkannt und rationalisiert, sprich von Maschinen übernommen werden. Damit rückt der in philosophischen Debatten vielleicht etwas vernachlässigte Begriff der Arbeit ins Rampenlicht.
Veränderte Arbeitswelt
Die Verbindung zwischen KI und ihrer Anwendung in der Arbeitswelt leuchtet sofort ein, da sich Arbeit aus Prozessen der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen zusammensetzt, die, sofern sie repetitiv oder zumindest sehr regelmässig sind, eine Automatisierung, einen KI-Einsatz erst zulassen. Der Zusammenhang ist sogar schon wortgeschichtlich gegeben, denn das Wort «Arbeit» kommt vom althochdeutschen arabeit, was nichts anderes als Mühsal und Not bedeutete. Definiert sich die moderne Form der Arbeit aber noch ausreichend über Mühsal oder die elementare Sicherung des eigenen Überlebens? Sprich: Muss Arbeit von materieller Not getrieben sein, um «echte Arbeit» zu sein? Was haben dann die Tätigkeiten von Haus- über Freiwilligenarbeit bis zu Industriegüterfertigung und Ausübung eines politischen Mandats gemeinsam, um als Arbeiten zu gelten?
Der gemeinsame Nenner besteht offensichtlich nicht mehr in körperlicher Anstrengung. Auch monetäre Entlohnung, Einsatz von Kreativität, individuelle Selbstverwirklichung oder die Herstellung von Gegenständen sind nicht Teil jeder Arbeit. Und bis zu jenem Moment, da auch der letzte Mensch das Nachdenken über ihr Wesen beendete, ginge uns streng genommen «die Arbeit» nicht aus. Arbeit ist all das, was gesellschaftlich als solche definiert und organisiert wird, aktuell verstehen wir in der Schweiz darunter primär «Erwerbstätigkeit». Das trägt den Tatsachen Rechnung, dass man Arbeit haben oder arbeitslos sein kann – und die Arbeit weiterhin oft der Freizeit gegenübergestellt wird. Arbeit (oder Erwerbstätigkeit) ist in unseren arbeitsteiligen Gesellschaften vorrangig durch mehr oder weniger gut kompensierte Fremdbestimmung charakterisiert – was die einen Freiheiten einschränkt, andere aber erst ermöglicht. Das heisst gleichzeitig: Dort, wo Arbeit auch in sehr arbeitsteiligen Gesellschaften durch Repetition und stupide Wiederholungen entfremdet, nach klassischer Lesart also besonders «unfrei» ist, waren und sind die primären Anwendungsfelder für KI. Derartige Rationalisierungsschübe setzen menschliche Potenziale für andere, oft kreativere Tätigkeiten frei, wo sie noch bis vor kurzem durch Stupides gebunden wurden. Dass das passiert, und zwar nicht zuungunsten technologisch weiterentwickelter Länder, zeigt empirisch die Wirtschaftsgeschichte der letzten zweihundert Jahre, die viel mehr und viel freiere neue Betätigungsfelder aufgetan hat, als «wegrationalisiert» wurden. Das bedeutet: Die Investition in die Umstellung auf einen nicht länger manuell-repetitiven, hin zu einem automatisierten Prozess muss sich rechnen.
Ein Beispiel: Bargeldautomaten ersetzten schon seit den 1960er Jahren viele Schaltermitarbeiter in Banken, und erstere wiederum werden seit den 1980ern mehr und mehr durch bargeldlose Bezahlmethoden (etwa Kreditkarten) verdrängt; hinzu kommt aktuell die Konkurrenz von Instituten, die Finanzgeschäfte auch jenseits der Banken abwickeln können. Bankangestellte oder Finanzfachleute per se wurden und werden dadurch aber alles andere als obsolet, stattdessen ist schon seit den 1960er Jahren eine starke Zunahme und eine Aufwertung der Arbeit im Finanzbereich zu beobachten. Die Nutzung der ATMs machte nicht nur ökonomische, sondern vor allem menschliche Ressourcen frei, die für kognitiv anspruchsvollere Aufgaben (etwa Beratung) verwendet werden konnten. Eine Lehre aus diesem und vielen strukturell ähnlichen Beispielen ist, dass manche im ersten Schritt eben einfache und repetitive Aufgaben oder Vorhersagen, später auch komplexere, bald durch KIs ausgeübt werden, dass aber – der einfachen Ökonomik folgend – Menschen weiterhin eine Ressource in jeder Arbeitswelt («Humankapital») bleiben dürften, die «irgendwo» zum (dann effizienteren) Einsatz kommen.
Es mag sein, dass die aktuelle Entwicklung bei der Geschwindigkeit der Rationalisierung neue Rekorde aufstellt, bis anhin ist allerdings nicht zu beobachten, dass das zu Massenarbeitslosigkeit in jenen Gesellschaften führt, die an der Spitze der Entwicklung stehen – ganz im Gegenteil. Die Frage ist vielmehr, wie die frei werdenden Potenziale (das «Humankapital») in Zukunft ausreichend lukrativ, wertstiftend oder attraktiv eingesetzt werden können. Einfache, statische Schwarz-Weiss-Zeichnungen helfen zu ihrer Beantwortung nicht weiter. Idealerweise vollzieht sich aber der Wandel der Arbeit derart, dass einerseits Menschen von ungeliebten Aufgaben in konkreten Settings befreit werden – im Englischen nennt man hier stets die vier Ds: dumb, dirty, dangerous, distant –, ohne damit Lebenssinn stiftende Arbeit (im weiteren Sinne) zu verlieren, und dass andererseits fragwürdige Dichotomien wie «Work-Life-Balance» schlicht verschwinden. Arbeit ist Leben, schliesst mal Anstrengung, mal Kontemplation und Ruhe ein. Und die Identitäten oder Rollen, die wir im Leben einnehmen, sollten über Situationen im Privaten und Beruflichen hinweg nicht allzu stark voneinander abweichen. Sagen wir es offen: Der Mangel an Ruhe in vielen Formen der Nine-to-Five- (oder Eight-to-Ten-) Erwerbstätigkeit trägt nicht unbedingt zur Produktivität bei. Einige der innovativsten Menschen unserer Geschichte (z.B. Charles Darwin) haben nicht so viel «gearbeitet», d.h. sie hetzten nicht von Termin zu Termin, sammelten Überstunden und kultivierten Augenringe oder waren kurz vor dem Burn-out auch noch stolz darauf. Ihr Leben war erfüllt von Freizeit, Aktivität und Erholung. Mit anderen Worten: Produktivität ist eben nicht linear – und diejenigen, die die meisten Stunden arbeiten, sind selten die produktivsten.
Veränderte Produktivitätslogik
Dass neue Technologien vielfach nach alter, eng ausgelegter Produktivitätslogik eingesetzt wurden und damit Innovationen womöglich eher verhinderten, ist ebenfalls keine neue Erkenntnis. Wer, wie viele Industrielle des letzten Jahrhunderts, nur auf den Ersatz menschlicher Arbeitskraft für Produktionsabschnitte oder einzelne Dienstleistungsaufgaben schielte, senkte zwar die Kosten bei der Herstellung des bereits Erfundenen, das allein sorgt aber nicht – oder nur in den seltensten Fällen – für wegweisende Innovationen. Produktivität und Innovation sind zwar nicht unbedingt ein Gegensatzpaar, aber die erste Priorität sollte auf Innovation liegen. Wenn es also um die nächsten Schritte des Einsatzes von KI geht, tun die menschlichen Entscheidungsträger gut daran, sich zu fragen: Wie kriege ich das, was sinnvoll und gesellschaftlich gewünscht ist, wertschöpfend hin? Ganz unternehmerisch könnte man es sich etwa zum Ziel nehmen, das eigene Jobprofil innerhalb einer Firma immer wieder überflüssig zu machen. So erarbeiten wir uns den nächsten Job und gestalten Innovation. Dabei sollten nicht bloss Tech-Unternehmer und die Elite der digitalen Ära diese Anstrengungen unternehmen. Zur Vermeidung gesellschaftlicher Spannungen und eines Auseinanderdriftens von Gesellschaftsschichten sind alle gefordert, sonst besteht tatsächlich die Gefahr, dass die wirkungsmächtigen Technologien nur oder primär einer privilegierten Klasse offenstehen, die ohnehin gut situiert, besser gebildet und vermögender ist – und dann noch leichter auf Ressourcen zugreifen könnte. Das ständige Nachdenken über Innovation mit strategischer Weitsicht ist ein allgemeiner Appell, denn davon hängt ab, ob Institutionen und Unternehmen auch morgen noch produktiv sein können. Klar ist: Die Produktivität bricht mit Sicherheit ein, wenn ich als Unternehmer von einem Tag auf den nächsten überlegen muss, wie ich Mitarbeiter qualifiziere, deren Jobprofile sich zu schnell verändern – oder gar unerwartet wegfallen, weil die Weiterentwicklung des Stellenprofils und/oder die Weiterbildung der Mitarbeiter nicht mehr funktioniert. Wenn die ständige Weiterentwicklung und «transzendierende» Überflüssig- und gleichzeitig an neuem Ort Nutzbarmachung von Aufgaben und Jobs (und auch meines eigenen Jobs!) das Credo einer Unternehmung ist, passiert genau das aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.
Es darf aus liberaler Sicht durchaus erhofft werden, dass die klassische Produktivitätslogik des Industriezeitalters nicht der Weisheit letzter Schluss ist – und es womöglich effizientere und sinnstiftendere Arbeits- und Wirkenslogiken mit dem Einsatz von KI-Systemen endlich schaffen, am Markt zu reüssieren. Erste Ansätze dieses Wandels lassen sich bereits beobachten, wer allerdings den Tech-Unternehmen, die mit diesen neuen Modellen vor-angehen, auch hier ein Monopol überlässt oder meint, ein «So haben wir es immer gemacht» sei im digitalen Zeitalter eine besonders aussichtsreiche Strategie, könnte sich am Ende in genau jener Rolle wiederfinden, die er – auch aus klassischer Produktivitätslogik – vermeiden wollte.
Wo die Zukunft (nicht) funktioniert
In einem Eldorado der KI-Anwendung würden möglichst viele involvierte und aufgeklärte Parteien die Nutzung der KI ökonomisch und gesellschaftlich begrüssen, da auf diesem Wege Pro-bleme gelöst sowie die Situationen potentiell aller Teilnehmer verbessert würden. Wie sähe das konkret aus?
Ein Blick in unsere Spitäler zeigt es: Schon heute kommen hier Programme zum Einsatz, die dem medizinischen Personal bei der Mustererkennung helfen und Prognosen aufgrund riesiger Datenmengen abgeben. Hirnscans etwa wären ohne maschinell-computergestützte Hilfe kaum sinnvoll auszuwerten, und für Menschen sind alle schwer extrapolierbaren, nichtlinearen Entwicklungen – viele Krankheitsverläufe fallen darunter – kaum vorhersagbar, ihre Prognosen stellen sich deshalb allzu oft als falsch oder irreleitend heraus. Bei Brustkrebs etwa liegt der Anteil der Fehldia-gnosen durch Nutzung herkömmlicher Diagnosewerkzeuge gegenwärtig noch bei 30 Prozent. Das bedeutet, dass viele Patientinnen unnötig behandelt werden (false positive) oder keine Therapie bekommen, obwohl sie eine bräuchten (false negative) – das kann durch den Einsatz von KI stark verbessert werden. In vielen Schweizer Spitälern herrscht ausserdem Ärzteknappheit, was zum Problem für die Allgemeinheit wird, weil mittelfristig keine adäquate medizinische Versorgung sichergestellt ist. Auch hier leistet KI einen Beitrag zur Problemlinderung, wenn sie Ärzte künftig nicht mehr nur als operative Assistenz unterstützt: Über den reinen Zeit- und Entlastungsgewinn hinaus können Ärzte mit Hilfe von KI nämlich immer präzisere Diagnosen stellen und somit nicht nur mehr Patienten gleichzeitig behandeln, sondern letztere auch besser. Ärzte und Maschinen finden also in der Medizin schon heute eine willkommene Symbiose zum Wohle der Patienten und des Gesundheitssystems – dieser Trend wird sich durch den Einsatz von KI fortsetzen und beschleunigen, auch in anderen Teilen unserer Lebens- und Arbeitswelt.
«Unabhängig von technologischen und ökonomischen Überlegungen gibt es durchaus Bereiche oder Tätigkeiten,
die KI nie übernehmen sollten.»
Was für das Spital gilt, gilt allerdings auch darüber hinaus: Die hier zum Zuge kommenden Algorithmen sind zwar ausgefuchst, sie werden den Menschen aber zumindest absehbar nicht ersetzen können, weil ihr Einsatzgebiet stets sehr klar strukturiert und abgegrenzt sein muss, um nützlich zu sein. Menschen können im Gegensatz zu KI gerade in schlecht strukturierten Domänen («cognition in the wild») erfolgreich sein, ihre besonderen Fähigkeiten kommen also genau dann zum Tragen, wenn etwas Ungewöhnliches passiert und eine neue Erklärung notwendig wird. Das heisst aber auch: Es gilt im Umgang mit auf Quantifizierung basierenden digitalen Helferlein gut abzuwägen, wo sie wirklich nützlich sind und wo ihre Macher nur vorgeben, dass sie nützlich seien – oder gar für neue moralische Probleme sorgen. Das war und ist etwa bei Versuchen der Fall, KI in der Rechtsprechung einzusetzen, wie das in den USA passiert. Dortige Geschworenengerichte (ähnliche gab es bis 2010 auch in den Kantonen Genf und Zürich noch) fällen nachweislich schlechtere Urteile als juristische Fachpersonen. Sie eigneten sich deshalb auf den ersten Blick sehr gut, um von KI-Systemen mindestens unterstützt zu werden. Davon nimmt man allerdings begründet Abstand, zuvorderst mit dem Hinweis darauf, dass Menschen eben nur von Menschen und aufgrund des herrschenden Rechts be- oder verurteilt werden sollten. Man gesteht damit auch den Geschworenen ihr Recht auf Individualität (und Irrationalität) zu, was konsequent und aus liberaler Sicht moralisch richtig ist. Dass in US-Strafverfahren jedoch gleichzeitig ein Algorithmus eingesetzt wird, der einschätzt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Straftäter rückfällig wird (was sich wieder-um auf die Länge der Haft und die Chancen auf Bewährung auswirkt), steht in latentem Widerspruch dazu. Mehr noch: Mit dem Einsatz dieser Systeme geben wir nicht nur einen Teil unserer Menschlichkeit preis, die Systeme selbst sind aufgrund ihrer verwendeten Datengrundlagen und (von mindestens unvorsichtigen Machern programmierten) Auswertungsmuster auch noch inhärent rassistisch.
Unabhängig von technologischen und ökonomischen Überlegungen gibt es also durchaus Bereiche oder Tätigkeiten, die KI nie übernehmen sollten. Erst die Abkehr von der Zahl gibt schliesslich den Blick auf Individualität frei, die jeder über das Mass des Berechenbaren hinaus besitzt.