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Künstliche Intelligenz ist eine Welle, die wir mit der
Begeisterung eines
Surfers angehen sollten

Jeder KI-Trend der letzten Jahrzehnte hat den Grundstein für etwas Grösseres gelegt. Nun stehen wir an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter

Künstliche Intelligenz ist eine Welle, die wir mit der  Begeisterung eines  Surfers angehen sollten
Zu diesem von ChatGPT generierten Bild liefert der Chatbot folgende prosaische Beschreibung: «Das Bild stellt konzeptionell ein Large Language Model (LLM) im Kontext des Surfens auf den Wellen technologischer Innovation dar. Es symbolisiert künstlerisch das LLM als eine Entität, die in Harmonie mit den Ozeanwellen ist, visualisiert durch eine dynamische, fliessende Struktur, die aus digitalen Elementen wie Code, Datenströmen und Mustern neuronaler Netzwerke besteht. Das LLM ist mit der Welle verwoben und zeigt seine wesentliche Rolle beim Navigieren und Gestalten der Zukunft der Technologie auf.» Bild: ChatGPT.

Es ist immer das gleiche Bild, wenn man mit dem Zug unterwegs ist: Überall Menschen, die wie gebannt auf ihr Handy starren und es streicheln, als wäre es ein geliebtes Haustier. War es früher nicht besser, als sich fremde Menschen im Zug unterhielten? Wohl kaum, denn auch damals waren viele in Zeitungen und Bücher vertieft, nicht viel anders als heute mit dem Smartphone. Als Jugendlicher nutzte ich Fahrten mit der Appenzellerbahn, um mittels Kartentricks ins Gespräch zu kommen – eine Art Training für den nächsten Auftritt als Zauberkünstler. Womit wir beim Thema wären: künstliche Intelligenz (KI).

Was hat KI mit Zauberei zu tun? Die erste Begegnung mit KI löst oft Erstaunen aus; ähnlich der Bewunderung für einen meisterhaften Zaubertrick. Doch so wie der Reiz eines Tricks mit der Zeit verblasst, wird auch die Begeisterung für KI zur Gewohnheit. Rückblickend lässt sich allerdings feststellen, dass jeder KI-Trend der letzten 40 Jahre den Grundstein für etwas Grösseres gelegt hat:

  • Anfang der 1990er-Jahre waren Expertensysteme in aller Munde. Auch ich wollte dabei sein und fügte – wenn auch in bescheidenem Umfang – eine Empfehlungsfunktion in meine Videothekensoftware ein, die auf der Basis von Filmumsatz, Genre, Schauspielerinnen und Schauspielern sowie Ausleihverhalten der Kundschaft Verleihvorschläge machte. Mein Interesse an der Videothekensoftware erlosch schnell, als ich mir einen Internetserver leisten konnte und das Interesse an Expertensystemen abnahm. Nur einige Nischenunternehmen wie Amazon haben darauf gesetzt und damit ein Milliardengeschäft aufgebaut.
  • Ende der 90er-Jahre war Personalisierung ein Trendthema. Unser Beitrag dazu war ein Informationssystem, das den Nutzenden Nachrichten, Konzerte und Produktvorschläge nach ihren persönlichen Vorlieben anbot. Trotz dem Medienhype und hoher Bewertungen für Start-ups wie Pointcast verflog die Euphorie schnell und viele dieser Systeme verschwanden wieder. Die Grundidee algorithmisch personalisierter Inhalte blieb jedoch bestehen und wurde später von Unternehmen wie Facebook, X und TikTok erfolgreich weiterentwickelt.
  • Und dann waren da noch die Chatbots: Karl, die Klammer, der virtuelle Assistent von Microsoft und viele weitere. Auch wir sprangen auf diesen Trend auf und stellten im Jahr 2000 eine Linguistin ein, um Chatbots für die Onlineberatung zu entwickeln. So lustig die ersten Versuche auch waren, die Reaktionen der Nutzerinnen und Nutzer waren ernüchternd. Die Chatbots verschwanden schnell wieder von der Bildfläche, aber die Idee blieb.

Wie lassen sich ChatGPT und Co. in diese Reihe einordnen? Sind die sogenannten Large Language Models (LLM) nur das nächste Zauberkunststück der KI-Industrie, bei dem vielleicht etwas hängen bleibt und dann wieder verschwindet, oder markieren sie einen Wendepunkt in der Entwicklung der KI?

Ich bin überzeugt, dass wir an einem Wendepunkt stehen, der in seiner Bedeutung sogar die Erfindung des World Wide Web übertrifft.

Im Gegensatz zu den Expertensystemen der 1990er-Jahre, die auf ein eng begrenztes Wissensfeld beschränkt waren, decken LLMs ein breites Themenspektrum ab. Sie übertreffen herkömmliche Personalisierungsalgorithmen, wie wir sie von Google, Amazon oder Spotify kennen, indem sie nicht nur Inhalte personalisieren, sondern auch die Art und Weise, wie wir mit ihnen interagieren. Frühere Chatbots – die auf starren Regeln basierten – weichen LLMs, die Anfragen im Kontext verstehen und individuell darauf reagieren können. Die Entwicklung geht noch weiter: Anbieter arbeiten daran, LLMs direkten Zugriff auf ihre Systeme zu ermöglichen.

«Im Gegensatz zu den Expertensystemen der 1990er-Jahre, die auf ein eng begrenztes Wissensfeld beschränkt waren, decken LLMs ein

breites Themenspektrum ab.»

Fortschritte in der autonomen Aufgabenerfüllung eröffnen völlig neue Anwendungsfelder:

  • Das WWW hat die Reisebüros verdrängt, aber stundenlange Buchungsvorgänge hinterlassen. LLMs machen es bald wieder so bequem wie früher: Sie führen ein Gespräch, erhalten Vorschläge, während die KI im Hintergrund Bewertungsportale durchsucht. Wenn Sie zufrieden sind, bucht die KI das optimale Angebot zum besten Preis.
  • Die «Wisch-Müdigkeit» bei Dating-Apps wie Tinder macht den Weg frei für LLMs. Personalisierte Assistenten führen im Hintergrund virtuelle Dates durch, und wenn es «Klick» macht, verkuppeln sie ihre User.
  • Wie werden LLMs die Bildungslandschaft verändern? Gemäss einer umfassenden Metastudie, die mehr als 50 000 Studien umfasst, spielen Lehrkräfte eine zentrale Rolle für den Lernerfolg. In Klassen mit 20 oder mehr Kindern kann keine Lehrperson genug Zeit für jedes einzelne Kind haben. Was wäre, wenn Schülerinnen und Schüler Zugang zu einem persönlichen digitalen Lernassistenten hätten, der individuell auf ihre Fähigkeiten und ihr Lerntempo zugeschnitten ist? In den USA ist diese Vision bereits Realität: Mehr als 30 000 Schülerinnen und Schüler nutzen khanmigo.ai, eine an das Lernen angepasste Version von ChatGPT mit beeindruckendem Erfolg.

Diese fortschrittlichen Technologien stehen nicht nur Giganten wie Google oder finanzstarken Start-ups wie deepl.com zur Verfügung. Als KMU aus dem Appenzellerland entwickelten wir einen Service, der Banken ermöglicht, aus Hunderttausenden von Nachrichtenartikeln problematische Personen in ihrem Adressstamm zu identifizieren. Dieses Projekt konnte nur durch den Einsatz der zugrunde liegenden Technik von LLMs in Kombination mit der Expertise unseres Redaktionsteams realisiert werden.

«Diese fortschrittlichen Technologien stehen nicht nur Giganten wie Google oder finanzstarken Start-ups wie deepl.com zur Verfügung.»

Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, in dem die KI unser Leben wahrscheinlich ebenso tiefgreifend verändern wird wie das World Wide Web. Dabei müssen wir uns auch die Lehren aus der Vergangenheit vor Augen halten und sicherstellen, dass wir KI zum Wohle aller einsetzen. Es gilt, die vor uns liegenden Herausforderungen mit Respekt, Verantwortung und Sinn für das Gemeinwohl anzugehen.

Mit «Let’s shred!» drücken Surfer die Begeisterung für eine Welle aus, die auf sie zukommt. Mit dieser Einstellung sollten wir der KI begegnen: Nutzen wir die Chancen, die uns diese Technologiewelle bietet, und surfen wir gemeinsam in eine Zukunft, die vielversprechender ist als je zuvor.

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