Kritik bedroht die Demokratie nicht, sondern stärkt sie
Die Grösse und Effizienz der staatlichen Verwaltung zu hinterfragen, ist weder destruktiv noch populistisch. Im Gegenteil: Gerade die Fähigkeit zu Reformen ist Voraussetzung für das Vertrauen der Bürger in den Staat.
Dieser Text ist eine Antwort auf «Die Schweiz braucht wieder einen staatstragenden Beamten-Freisinn statt billiges Beamten-Bashing» von Daniel Brühlmeier und Theo Haldemann.
«Heute spucken nicht nur amerikanische Arbeiter, sondern weltweit Chefdenker in Medien, Parteien und Interessenorganisationen auf Beamte und ihren Arbeitgeber, den Staat.» So beginnen Daniel Brühlmeier und Theo Haldemann ihre wortmächtige Verteidigung der Verwaltung. Die Autoren zeichnen ein düsteres Bild: Wer Bürokratie kritisiert, sägt an den Grundfesten der Demokratie.
Es sind Überlegungen, die zum Nachdenken anregen – und zugleich Fragen aufwerfen. Gerade in der Schweiz geniessen Staatsdiener hohes Ansehen, stabile Beschäftigungsverhältnisse und grosszügige Arbeitsbedingungen. Von flächendeckender Verachtung kann keine Rede sein. Und dennoch ziehen Brühlmeier und Haldemann eine harte Linie: hier die Verteidiger demokratischer Institutionen, dort die vermeintlich destruktiven Kritiker.
Doch die Wirklichkeit ist nicht binär. Neben blindem Behördenvertrauen und populistischer Verwaltungskritik gibt es eine dritte Perspektive: eine liberale, kritische, aber konstruktive Sicht auf den Staat. Sie anerkennt die Bedeutung der Verwaltung für einen funktionierenden Staat und für die Gesellschaft. Sie fragt aber auch, wo die Verwaltung ihre Grenzen überschreitet. Wer den Staat erhalten will, muss ihn reformieren dürfen. Nicht unbedingt mit der Kettensäge, aber mit Verstand.
Bürger fühlen sich bevormundet
Im Grundsatz ist die Sorge um die staatlichen Institutionen nachvollziehbar, besonders mit Blick auf die autoritären Tendenzen in den USA. Wenn Donald Trump davon spricht, das Justizministerium zu «säubern» und unliebsame Beamte zu entlassen, wird deutlich, wie schnell Verwaltungen unter Druck geraten können.
Aus solchen Exzessen jedoch den pauschalen Schluss zu ziehen, jede Kritik an der Verwaltung sei demokratiegefährdend, greift zu kurz. Denn: Auch eine Verwaltung, die sich jeder Reformdiskussion entzieht, schwächt langfristig das Vertrauen in den Staat – und bereitet damit genau jenem Populismus den Boden, vor dem sie sich schützen will.
Genau das zeigt die Evidenz: Populismus gedeiht dort, wo Politik sich hinter Verfahren versteckt und Verantwortung verwischt. Wie der Politologe Philip Manow beschreibt, entsteht Entfremdung dann, wenn das demokratische Spiel zu technokratisch wird. Misstrauen gedeiht, wo sich Bürger von übermässig vielen Regeln bevormundet fühlen.
Wer kritische Bürger vorschnell als «Wutbürger» diffamiert – eine Haltung, die an Hillary Clintons berüchtigten «basket of deplorables» erinnert –, unterschätzt genau jene Unzufriedenheit, aus der sich populistische Bewegungen speisen. Nicht zu viel Kritik gefährdet den Rechtsstaat, sondern zu wenig Debatte über seine Grenzen und Aufgaben. Schon der Soziologe Max Weber warnte vor über hundert Jahren: «Die zentrale Frage ist also nicht, wie wir die bürokratische Entwicklung noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben.» Und damals war der Staat noch viel kleiner als heute. Webers Mahnung ist deshalb aktueller denn je.
«Auch eine Verwaltung, die sich jeder Reformdiskussion entzieht, schwächt langfristig das Vertrauen in den Staat – und bereitet damit genau jenem Populismus den Boden, vor dem sie sich schützen will.»
Bürokratischer Übereifer
Bürokratiekritik ist deshalb kein Selbstzweck. Sie ist essenziell für ein funktionierendes Staatswesen. Wer seine Institutionen erhalten will, muss sie auch hinterfragen dürfen.
Wie schnell gut gemeinte Regelungen in Übersteuerung und Unverhältnismässigkeit kippen können, zeigte sich kürzlich in Zürich: Während der Fussball-EM der Frauen verboten die Behörden einem Verkäufer, auf der Fanmeile Bananen zu verkaufen, mit Verweis auf Umweltauflagen für öffentliche Plätze. Später stellte sich heraus: Das Verbot gilt nur für Früchte, die per Flugzeug eingeflogen werden, nicht aber für die per Schiff transportierten Bananen, die der Händler anbot. Hier zeigt sich ein bürokratischer Übereifer, der ein gesundes Augenmass vermissen lässt.
Dieser Einzelfall ist leider keine medientaugliche Ausnahme, sondern Symptom eines strukturellen Trends: des Bürokratiewachstums in Umfang und Tiefe. In zwei Bereichen zeigt sich dies besonders deutlich.
Erstens in der Regulierung: In den 1960er-Jahren wurden auf Bundesebene jährlich rund 150 Gesetze und Verordnungen geändert – heute sind es über 500. Rund 60 Prozent der Unternehmen stufen die administrative Belastung gemäss Umfragen des Bundes als «hoch» oder «eher hoch» ein – Tendenz steigend. Das Staatssekretariat für Wirtschaft beziffert die Bürokratiekosten für Schweizer KMU auf über 6 Milliarden Franken pro Jahr.
Zweitens in der Beschäftigung im öffentlichen Sektor: Heute werden in der Schweiz rund eine Million Menschen direkt oder indirekt von der öffentlichen Hand beschäftigt. Das sind 23 Prozent aller Stellen. Zwischen 2011 und 2019 stieg die Zahl der Staatsangestellten um 13 Prozent, deutlich schneller als im Privatsektor (8 Prozent). In Städten ist der Trend noch ausgeprägter: In Basel-Stadt wuchs die Verwaltung um über 24 Prozent – viermal schneller als die Bevölkerung.
«In den 1960er-Jahren wurden auf Bundesebene jährlich rund 150 Gesetze und Verordnungen geändert – heute sind es über 500.»
Auch gestandene Staatsdiener können die Entwicklung jener «untauglichen Messgrössen», die Brühlmeier und Haldemann etwas nonchalant beiseitewischen, nicht mehr länger als statistisches Rauschen abtun. Der Staat wächst systematisch schneller als die Gesellschaft, die ihn finanziert. Von 100 Franken Wertschöpfung werden heute 38 Franken staatlich umverteilt – 1950 waren es 15 Franken. Gleichzeitig beeinflusst der Staat über die Hälfte aller Preise. Wenn das ein «neoliberaler» Abbau sein soll, dann ist er gründlich misslungen.
Keiner ist verantwortlich
Doch woher kommt dieses unaufhaltsame Wachstum? Brühlmeier und Haldemann liefern eine bestechend einfache Erklärung: komplexere Gesellschaft, komplexere Probleme, komplexere Verwaltung. Und sie mögen im Ansatz sogar recht haben: Moderne Gesellschaften sind anspruchsvoller geworden. Doch gerade deshalb müssten die Autoren ihren Gedanken auch zu Ende denken: Komplexität bedeutet auch, dass die Verwaltung immer mächtiger wird – sie hat einen natürlichen Wissensvorsprung gegenüber Parlament und Volk. Beamte verfügen über technisches, juristisches und internationales Fachwissen, das Politikern und Bürgern oft fehlt. Das schafft Abhängigkeiten – und verschiebt die Macht von der politischen zur administrativen Ebene. Umso wichtiger wären Kontrolle und wirksame Begrenzungsmechanismen. Doch genau diese fehlen.
Die Verwaltung steht in keinem echten Konkurrenzverhältnis – allenfalls auf Gemeinde- oder Kantonsebene, aber nie existenziell. Es gibt keine Insolvenzgefahr, keinen harten Budgetdruck. Unfreiwillig liefern Brühlmeier und Haldemann selbst ein Beispiel dafür: Sie loben den Kundenservice der halbstaatlichen Swisscom gegenüber privaten Anbietern. Dabei liegt der entscheidende Unterschied auf der Hand: Im Telekombereich kann man den Anbieter wechseln – bei der Verwaltung nicht. Wer unzufrieden ist mit dem Steueramt oder dem Bauamt, hat keine Ausweichmöglichkeit.
Der fehlende Wettbewerb wird durch eine zweite Dynamik verschärft: Verantwortungsdiffusion. Wenn zu viele Akteure mitreden, aber niemand mehr Verantwortung trägt, entstehen endlose Abstimmungsschlaufen. Ein Beispiel: In Zürich dauert es vom Baugesuch bis zur Baubewilligung 330 Tage – ein halbes Jahr länger als noch 2010. Der Grund ist kein einzelner Fehler, sondern das System: Behördliche Schutzvorgaben (75 Prozent der Stadtfläche stehen unter Schutz), Einspracherechte, Mehrfachzuständigkeiten und einfallslose Politiker. Jeder Akteur folgt seiner Logik. Das Resultat ist kollektives Versagen.
Ein Trend, der sich nicht nur bei Baugesuchen zeigt: Ob bei Schutz vor sozialen Risiken oder bei der Krisenbewältigung, je mehr Aufgaben der Staat übernehmen soll, desto stärker wächst der Druck, alles abzusichern, zu koordinieren, zu regulieren. Politiker delegieren schwierige Entscheidungen an die Verwaltung. Bürger fordern Sicherheit und erwarten trotzdem Freiheit. Die Verwaltung will allen Erwartungen gerecht werden – und greift dabei immer öfter in politische Entscheidungen und gesellschaftliche Gestaltungsfragen ein, die über ihre eigentliche Zuständigkeit hinausgehen.
Welche Bürokratie brauchen wir?
Brühlmeier und Haldemann unterlassen es in ihrer Analyse, zwischen Institutionen als Garanten der Freiheit und einem System zu unterscheiden , das auch deshalb stetig wächst, weil es kann, nicht weil es soll. Der liberale Staat lebt von funktionierenden Institutionen. Aber er lebt auch davon, dass sie ihren Zweck nicht aus den Augen verlieren.
Der Rechtsstaat braucht gute Gesetze und eine leistungsfähige Verwaltung – das stellt auch kaum ein Liberaler in Frage. Doch das Staatswesen ist wachstumsanfällig, reformscheu, und es neigt dazu, Sicherheit über Freiheit zu stellen. Deshalb lautet die entscheidende Frage nicht, ob wir Bürokratie brauchen, sondern welche und wie viel. Und: Wie wir mit Unsicherheit umgehen wollen. Wer Sicherheit über alles stellt, bekommt Bürokratie. Wer Freiheit will, muss dagegen Verantwortung übernehmen.
Hier hält das Beispiel des libertären argentinischen Präsidenten Javier Milei eine unbequeme Lektion bereit: In einem Land, in dem das Vertrauen in staatliche Institutionen weitgehend zerfallen war, konnte selbst ein radikaler Kritiker des Staatsapparats positive Effekte erzielen. Milei hat – aller Polarisierung zum Trotz – die Inflation von 211 auf 40 Prozent gesenkt, den ersten Haushaltsüberschuss seit 14 Jahren erzielt und das Land aus der Rezession geführt. Weil er es wagte, tiefgreifende Strukturreformen anzupacken.
«Das Staatswesen ist wachstumsanfällig, reformscheu, und es neigt dazu, Sicherheit über Freiheit zu stellen.»
Gewiss, solche drastischen Reformen sind in der Schweiz (noch) nicht nötig. Unsere Verwaltung funktioniert und schneidet im internationalen Vergleich gut ab. Auch das Vertrauen in unser Staatswesen ist weiterhin hoch. Umso mehr gilt: Wer staatliche Institutionen schützen will, muss das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger erhalten. Dabei gibt es drei wichtige Hebel:
- Erstens braucht es eine neue Haltung zur Regulierung. Heute prüft der Bund bei jeder neuen Regel deren Auswirkungen – oder sollte es zumindest. Doch die eigentliche Last liegt oft bei den bestehenden Vorschriften. Deshalb muss sich die Logik umkehren: Nicht nur das Neue soll gerechtfertigt werden, sondern das Bestehende regelmässig hinterfragt werden. Was ist der Nutzen einer Regel, was geschieht, wenn wir sie streichen? Institutionelle Ansätze setzen hier an – zum Beispiel eine «Löschwoche». Die Idee: Das Parlament reserviert regelmässig eine Woche, um bestehende Gesetze systematisch auf ihren Nutzen zu überprüfen und unnötige Vorschriften gezielt aufzuheben.
- Zweitens muss die Verwaltung näher an die Realität der Gesellschaft rücken. Ein wirksames Mittel ist die Anwendung einer Art des Milizgedankens: Verwaltungsstellen sollten möglichst mit Personen besetzt werden, die mehrere Jahre ausserhalb des öffentlichen Sektors tätig waren. Diese «Privatwirtschaftslehre» bringt keine «liberal gesinnten Beamten» hervor, sondern praxisnahe Entscheidungen. Sie verhindert geschlossene Amtskarrieren, erleichtert den Wechsel in die Privatwirtschaft – und bewahrt die Verwaltung davor, sich in ihrer eigenen Logik zu verlieren.
- Und drittens braucht es Mut zur Lücke. Nicht jede gesellschaftliche Herausforderung verlangt nach einer staatlichen Antwort. Oft regelt der Markt effizienter, manchmal lösen Bürger Probleme selbst – wenn man sie lässt. Diese Einsicht erfordert Demut: die Bereitschaft zu akzeptieren, dass Nichtstun manchmal die beste Entscheidung ist, dass Freiheit auszuhalten ist. Mut zur Lücke bedeutet Vertrauen in den mündigen Bürger – und die Disziplin, nicht für jedes Problem eine neue Regel zu schaffen. Das ist keine neoliberale Ideologie, sondern praktische Staatskunst.
Aus Kritik lernen
Der liberale Staat lebt nicht von seiner Grösse, sondern von seiner Qualität. Eine funktionsfähige Verwaltung schützt Rechte, ermöglicht Wohlstand und stärkt das Vertrauen in den Staat – nicht durch immer neue Regeln, sondern durch bessere. Wer jede Kritik an wachsenden Strukturen als Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat deutet, verkennt, was diese Institutionen tatsächlich stark macht: Verantwortungsbewusstsein, Augenmass und Reformfähigkeit.
Brühlmeier und Haldemann warnen zu Recht vor populistischen Vereinfachern. Doch gerade Verteidiger staatlicher Institutionen sollten bedenken: Eine Haltung, die jede Systemkritik als Bedrohung betrachtet, fördert genau jene Entfremdung, aus der populistische Bewegungen ihre Kraft schöpfen. Ein starker Staat braucht keine Immunität gegenüber Kritik, sondern die Fähigkeit, aus ihr zu lernen.