Krisen-Semantik
Haben wir es mit einem Staatsschulden- oder einem Bankenproblem zu tun? Wer kann die Krise treffend deuten: Euro-Rebellen oder Occupy-Aktivisten? Beide, meint Benno Luthiger, aber nicht ohne einander. Denn: die Krisen haben eine gemeinsame Wurzel.
«Die Krise» ist seit Monaten das dominierende Thema in den Medien und in der Öffentlichkeit. Die Diskussionen um die Klimaerwärmung 2009 oder die verheerende Natur- und Atomkatastrophe in Japan im Frühling 2011 sind heute bloss noch Randnotizen. Die Wirtschaftskrise hingegen füllt die Zeitungsseiten schon über ein Jahr. Kommt hinzu, dass die Krisen-Diskussion nicht mehr ausschliesslich auf den Wirtschaftsseiten geführt wird, sondern auch im Gesellschafts- und Feuilleton-Teil sowie in diversen Protestbewegungen – in Parlamenten und auf der Strasse – ihre Ausdeutungen findet. Während die einen aber von einer Schuldenkrise sprechen, d.h. die Möglichkeit des Bankrotts von Staaten wie Griechenland oder Italien, reden die anderen von einer Finanz- und Bankenkrise.
Diese unterschiedliche Krisen-Interpretation ist nicht zufällig, sondern ideologisch erklärbar. Wer die aktuelle Krise als Schuldenkrise versteht, sieht die Ursache der Krise bei den unordentlich geführten Staatshaushalten, letztlich in einem Politikversagen. Zur Lösung einer Schuldenkrise soll folgerichtig der Staatshaushalt saniert werden. Dies erfolgt in erster Linie über eine rigide Ausgabenkontrolle, allenfalls gekoppelt mit einer Politik, die mehr Einnahmen generiert, sei dies durch höhere Steuern, effizientere Produktion oder Wirtschaftswachstum. Die Rede von der Schuldenkrise führt zwangsläufig zur Forderung nach weniger Staat.
Wer die aktuelle Krise hingegen als Finanz- und Bankenkrise deutet, kommt um solche Massnahmen herum. Eine Finanz- und Bankenkrise soll gelöst werden, indem man beispielsweise die Banken verstaatlicht oder eine Transaktionssteuer einführt. Damit kann man gegen das «internationale Finanzkapital» vorgehen und dem Staat zusätzliche Steuermittel zuhalten. Wer die aktuelle Krise als Bankenkrise versteht, beabsichtigt demnach mehr Staat.
Der unterschiedliche Krisendiskurs parzelliert die Medienlandschaft: während in den staatsnahen und «links-liberalen» Medien der Begriff «Schuldenkrise» deutlich seltener verwendet wird als noch vor einem Jahr, wird der Krisendiskurs in den staatskritischen und liberal geprägten Medien praktisch ausschliesslich unter dem Titel «Schuldenkrise» ausgetragen.
Dieser unterschiedliche Krisendiskurs ist fatal, weil oberflächlich der Anschein erweckt wird, dass alle vom Gleichen sprechen: wir sind alle von der Krise betroffen, so macht es den Eindruck, und deshalb arbeiten wir gemeinsam an einer Lösung. In Tat und Wahrheit geht es aber nicht um gemeinsame Lösungsfindungen sondern darum, das eigene Programm unbeirrt fortzuschreiben zu können. Die Krise wird als Beweis der eigenen Position ausgelegt. Wer unentwegt an die ordnende Kraft des Staats glaubt, findet seine Bestätigung in der Krise. Wer den Staat als Ursache aller Probleme sieht, erst recht. Unter dem dünnen Firnis einer oberflächlichen Betroffenheit werden die eigenen Positionen verschärft, statt dass nach einem Konsens, nach einer übereinstimmenden Interpretation der Krisensituation gesucht würde.
Die wendungsreiche Entwicklung des Krisendiskurses im linken Lager dokumentiert diesen Befund. Kurz nach der Finanzmarktkrise 2008 waren die Stimmen, welche ein nahes Ende des Kapitalismus‘ voraussagten, kaum zu zählen. Doch es kam anders. Die Finanzmarktkrise schlug auf vielfältige Weise auf die Staatshaushalte durch. In der Folge mussten linke Protagonisten mit Entsetzen feststellen, dass sozialistische Regierungen in Griechenland und Spanien genau jene Massnahmen umsetzen mussten, die kritische Bürger zur Sanierung der Staatshaushalte schon lange forderten. Doch diese Verunsicherung im linken Diskurs währte nicht lang. Mit der Occupy- und Wutbürger-Bewegung hat der linke Diskurs wieder sicheren Boden erreicht: Schuld an der Krise sind die Banken.
In der Tat liegen Schuldenkrise und Bankenkrise wohl näher zusammen als manche denken. Der Crash von 2008 erschütterte die Fundamente des Finanzsektors weltweit. Doch weniger als zwei Jahre nach diesem Ereignis hatten die meisten Banken ihre Verluste wieder wettgemacht und funktionierten mit der gewohnten Dynamik. Eine Folge der staatlichen Unterstützungsmassnahmen an den Finanzsektor? Diese Unterstützung hat es in direkter Form gegeben und sie hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Für die rasche Revitalisierung der Bankenbranche dürfte aber ein anderer Effekt wichtiger gewesen sein: die Banken profitierten auf erhebliche Weise von der staatlichen Schuldenwirtschaft.
Schulden machen können die Staaten alleine, aber um das benötigte Geld auf den Finanzmärkten einzutreiben, dazu brauchen sie Helfer. In diesem Spiel sind die Banken willige und vor allem effiziente Helfer. Sie stellen das notwendige Personal und die Infrastruktur zur Verfügung, wenn die Staaten zur Finanzierung ihrer Schulden Anleihen am Finanzmarkt placieren. Denkt man diesen Zusammenhang zwischen Staatsschulden und Bankenprofit weiter, so kommt man zu einer paradoxen Erkenntnis: die Staaten finanzieren ihren ausufernden Sozialstaat über Schulden und bezahlen damit gleichzeitig die Boni der Bankmanager. Alleine im Jahr 2010 wurden Staatsanleihen im Volumen von 5700 Milliarden Dollar emittiert. Angesichts dieser Tatsache verwundert es nicht, dass die Banken so kurze Zeit nach dem harten Crash wieder auf die Beine und in die Gewinnzone kamen.
Doch die Hand, die gibt, nimmt auch wieder. Die Staaten haben die Banken nicht nur in ihrer Funktion als generöse Auftraggeber an sich gebunden, sondern auch auf eine zweite, heimtückische Weise. Im Zusammenhang mit den südlichen europäischen Schuldenstaaten und den Stützungsmassnahmen an diese Länder wird oft darauf hingewiesen, die Profiteure solcher Massnahmen seien in erster Linie international agierende Banken. Diese halten Staatsanleihen dieser Länder in ihren Bilanzen und müssten diese schmerzhaft abschreiben, wenn die Schuldenländer Bankrott gehen oder einen Schuldenschnitt durchführen.
Diese Feststellung ist richtig. Doch die Banken haben nicht ganz freiwillig in die problematischen Staatsanleihen investiert. Sie sind auf mehr oder weniger sanfte Art dazu genötigt worden. Die Bankenaufsichtsbehörden haben mit ihren Finanzmarktregulierungen die dazu notwendigen Anreize gesetzt. Beispielsweise müssen die Banken Investitionen in Staatsanleihen des Euro-Raums nicht mit Eigenkapital unterlegen. Da Eigenkapital teuer ist, haben die Staaten mit solchen Vorgaben einen wirksamen Hebel in der Hand, um das Geld der Banken in ihre Kassen zu leiten. Als Folge davon haben die Banken ihre Tresore und Bilanzen gefüllt mit Papieren, die einst als risikolos galten und nun immer toxischer werden.
Wir sehen also Staaten und Banken in einer engen Zweckgemeinschaft miteinander verzahnt. Beide sind angeschlagen und beide können nur noch aufrecht stehen, weil sie sich gegenseitig Halt geben. Stürzt der eine, reisst er den anderen mit sich in den Abgrund. Lange hat dieser Tanz funktioniert. Die Regierungen konnten sich ihre Mehrheiten in der Bevölkerung auf Pump kaufen und die Banken konnten sich ihre Boni auszahlen. Doch nun scheinen die Staaten ihren Kredit verspielt zu haben.
Diese Verzahnung zeigt, dass es durchaus gerechtfertigt ist, die aktuelle Krise als Bankenkrise zu verstehen. Es ist aber unmöglich, diese Krise zu begreifen, wenn man das staatliche Schuldenmachen als Krisen-Ursache verdrängt.
Benno Luthiger ist Physiker und promovierter Ökonom.