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Kriege im Krieg
Maxim Karlowitsch Kantor, fotografiert von Zoltan Acs.

Kriege im Krieg

Im Ukrainekrieg nur eine Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus zu sehen, ist zu einfach. Im Konflikt verbergen sich wie in einer Matrjoschkapuppe mehrere sehr unterschiedliche Ebenen.

 

Der Einmarsch Russlands in die unabhängige Ukraine hat das Potenzial, die Geschichte zu verändern. Das Schicksal Europas hängt davon ab, wie es auf diesen Krieg reagiert – und dafür muss Europa genau verstehen, was in der Ukraine geschieht. Denn wie in einer Matrjoschkapuppe verbergen sich in diesem Krieg mehrere sehr unterschiedliche Kriege, die sich zu einem schrecklichen Ereignis zusammenfügen. Hier kumulieren lang gärende Konflikte und Probleme, die sehr viel mit uns im Westen zu tun haben, mit der westlichen Demokratie und der Weltwirtschaft. Das übersehen wir gerne und geben uns mit der äussersten Matrjoschkapuppe zufrieden, nach der alles nur ein Krieg zwischen Demokratie und Autoritarismus ist. Die darin eingebetteten Kriege übersehen wir gerne und übersetzen andere Konflikte, etwa feudale Kämpfe, durch die gängigen Kategorien wie Demokratie, Autokratie oder Nationalismus.

Die Klammer im russischen Reich war lange Zeit der orthodoxe Glauben: Wladimir Putin (Mitte) und Patriarch Kirill von Moskau (2. v.l.) im September 2021 an der ­Eröffnung der Gedenkstätte für Fürst Alexander Newski am Ufer des Peipussee, der zwischen Russland und Estland liegt.
Bild: Alexei Druzhinin/Sputnik/Kremlin Pool/Keystone.

Der brutale Angriffskrieg Russlands ist in aller Schärfe zu verurteilen, er verhöhnt das Völkerrecht. Aber es droht die Gefahr, dass wir durch den Kampf gegen das neue Imperium Putins einer Oligarchie helfen und dass der vermeintliche Kampf für die Demokratie einen brandgefährlichen Nationalismus fördert. Das müssen wir bedenken in der gegenwärtigen Debatte darüber, wie realistisch und wünschenswert ein rascher EU-Beitritt der Ukraine wäre. Dabei ist es wichtig, dass unsere Entscheidungen auf einem tiefen Verständnis des Krieges oder vielmehr der verschiedenen Kriege in der Ukraine beruhen. Nur dann können wir begreifen, was auf dem Spiel stehen könnte: nicht weniger als das Ende Europas, wie wir es kennen.

 

«Es droht die Gefahr, dass wir durch den Kampf gegen das neue
Imperium Putins einer Oligarchie helfen und dass der vermeintliche
Kampf für die Demokratie einen brandgefährlichen Nationalismus fördert.»

 

1. Krieg zwischen Demokratie und Autokratie

Zunächst wird der Krieg bei uns vor allem als Kampf zwischen «Demokratie und Autoritarismus» wahrgenommen – oder als Kampf gegen einen neuen Nationalsozialismus, das ist die russische Sicht. Beide Seiten wähnen sich also in einem Kampf gegen den Faschismus. In unheimlicher Weise klingt der Zweite Weltkrieg hier nach, denn Russland hat die stalinistische Mythologie wiederbelebt, während die Ukraine Stepan Bandera zu ihrem Symbol gemacht hat, den nationalistischen ukrainischen Partisanenführer, der mit der Wehrmacht kollaborierte und Judenpogrome organisierte. Es ist eine Schande, ihn zum Symbol zu nehmen, aber es stand in der Ukraine kein Garibaldi oder Campanella zur Verfügung. Natürlich sind nur wenige Russen Stalinisten und wenige Ukrainer Anhänger von Bandera. Aber beide Völker befinden sich im Krieg, der durch «historische» Symbole gekennzeichnet ist. Als ich Ukrainer nach 2014 fragte, warum sie nicht auf Neonazi-Symbole wie beispielsweise die Wolfsangel verzichten würden, meinten sie, Nationalisten seien die besten Frontkämpfer. In Russland kann man Entsprechendes hören: Der Appell an Stalins Rote Armee motiviere.

Wenn man Putin mit Hitler vergleicht (Angriff auf den Nachbarn Polen, die Forderung nach einem Korridor), muss die demokratische Welt den Krieg gegen den Aggressor unterstützen. Die gängige Erklärung für die Aggression: Die Ukraine wollte der EU und der Nato beitreten, während Russland zur «Autokratie» zurückkehrte – und das Konzept des «russischen Friedens» verlange die Eroberung von Gebieten. Die westliche Demokratie ist schockiert, obwohl Ähnliches bereits in Georgien geschehen ist. Russland erzeugt zunächst «offene Wunden»: Transnistrien, Abchasien, Ossetien, Donbass – und nimmt dann die schwelenden Konfliktherde als Vorwand, um ehemalige Gebiete zurückzuerobern. So ist ein Retroimperium entstanden, das die Demokratie in der Welt bedroht. Vieles spricht für eine neue imperiale Mentalität, die viele Länder zittern lässt.

Doch die Geschichte scheint nicht ganz so eindeutig zu sein. Auch wenn das russische Retroimperium seine verstreuten Länder wieder eingliedern kann, muss es sich um seine Stabilität sorgen. Dafür wurde Nord Stream 2 entwickelt – hatte man doch mit dem demokratischen Europa einen zahlungskräftigen Kunden mit riesigem Energiehunger. Vielleicht auch deswegen verliefen die Ereignisse bis zum 24. Februar 2022 trotz Spannungen weitgehend ruhig (ausser für die Bewohner des Donbass). Das Minsker Abkommen wurde nicht umgesetzt, auch die Steinmeier-Formel nicht aufgegriffen. Die Lage verharrte in einem zynisch ausbalancierten Status quo: Die Ukraine erhielt westliche Finanzhilfen und billiges russisches Gas, und Kiews Oligarchen wurden von westlichen Banken umworben. Russland war durchaus interessiert, die schwelende Wunde Ukraine offen zu halten: kein Frieden, nur eine zynische Stabilität unter Spannungen. Bis diese zerbrach. Nicht plötzlich und überraschend: Jahrelange Ultimaten, monatelange Truppenmobilisierungen gingen voraus – westliche Geheimdienste hatten das Invasionsdatum ziemlich genau angekündigt.

Die Frage bleibt: Warum nahm das Retroimperium das Ende von Nord Stream 2 so bewusst in Kauf, auf das es doch seine langfristige Festigkeit stützen wollte? Auch wenn Putin mit einem Blitzkrieg mit schneller Beruhigung gerechnet haben sollte, ist dieser Preis hoch. Ein kluger Analyst sollte auf diese Kurzsichtigkeit des schlauen Tyrannen achten.

Die Reaktion des Westens verblüfft nicht weniger. Der überraschende Zusammenhalt der Weltgemeinschaft, auch die Einigkeit bei den weitreichenden Sanktionen legen nahe, dass dieser Krieg nicht ganz so überraschend kam. Fast könnte man meinen, dass er von einigen Beteiligten im Westen sogar begrüsst wird, ist doch ein Krieg in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Instabilität durchaus oft eine Lösung, so zynisch das auch klingen mag. Der Krieg schwächt langfristig das Retroimperium und verringert die wirtschaftliche Abhängigkeit des Westens von russischer Energie. So gesehen erscheint er nicht als Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie, sondern als imperialer Konflikt zwischen Grossmächten: Er erinnert an den Krimkrieg von 1855 und 1856, nur dass er jetzt zwischen einer Agglomeration von Demokratien und einem Retroimperium stattfindet.

In einer böswilligen Lesart wäre dann die Ukraine eine Art «Köder» für den gierigen russischen Bären gewesen. (Wer ihn dann ausgelegt hätte? Ein Krieg hat viele Väter, nämlich diejenigen, die von ihm politisch oder wirtschaftlich profitieren und ihn deswegen befördern oder wenigstens billigend in Kauf nehmen.) In dieser Lesart wäre der Krieg eine Falle, in die das Retroimperium getreten ist und die ihm selbst nicht nur das Leben von Tausenden von Soldaten und unzähligen Zivilisten kosten wird, sondern auch die langfristige Stabilität.

2. Feudaler Krieg

Hinter dem politischen Konflikt steht der Kampf eines Feudalsystems. Putin, Oberstleutnant des KGB, wurde von «Demokraten» und «Neoliberalen» an die Macht gebracht. Er ist kein Feind der Demokratie, sondern das Produkt der siegreichen Demokratie im postsowjetischen Russland. Er ist auch kein Feind des Neoliberalismus, sondern dessen Förderer. Jelzin übergab Putin die Macht auf Empfehlung jener Liberalen, die die Privatisierung staatlicher Vermögenswerte durchgeführt hatten. Der KGB-Offizier sollte die Verteilung der Beute überwachen, und die «Demokraten» waren anfangs sehr zufrieden mit ihm. Mit dem Einverständnis westlicher Beobachter wurde in der neuen Verfassung von 1993 «Volkseigentum» schlicht zum gewöhnlichen «Staatseigentum» erklärt, das von nun an auch veräussert werden durfte. (In der Verfassung von 1977 war dagegen festgelegt, dass natürliche Ressourcen als besonderes Volkseigentum rechtlich das gemeinsame Eigentum aller Sowjetbürger bleiben müssen.) Auf der Grundlage dieses Tricks wurde die sowjetische Nomenklatur in eine echte Feudalklasse umgewandelt, die Ländereien und Ressourcen erben konnte, was die alte Nomenklatura nicht zugelassen hatte. Der Kern der neuen feudalen Klasse war der FSB (früher KGB). Denn von allen anderen sowjetischen Institutionen wurde allein der Geheimdienst beibehalten, um eine letztlich versklavte Bevölkerung weiter zu kontrollieren.

Wie leicht sich die Demokratie in eine Oligarchie und dann in die Tyrannei verwandelt, hat schon Platon gesehen. In der jungen russischen Demokratie konnten nur die neuen Feudalherren oder deren Kandidaten gewählt werden, nicht zuletzt, weil diese rein wirtschaftlich ausgerichtet war. Die sogenannte Opposition, die auch von Oligarchen unterstützt wurde, protestierte zwar unter dem Slogan «für faire Wahlen», aber sie wagte es nicht, die Ergebnisse der Privatisierung zu überprüfen. Die feudale Klasse blieb sakrosankt. Sie leitete die Presse, die zwar Stalin und den alten Sozialismus verfluchte, jedoch das Feudalsystem als einzigen Ausweg pries. Echte Kritiker wurden abgewiesen. Einzelne wie Grigory Yavlinsky hofften auf eine bürgerlich-konservative Republik, aber es gab in Russland nichts zu «konservieren» – weder bewährte Rechtsinstitutionen noch Früchte eines sozialen Denkens. Die feudale Gier wurde von der Nomenklatura strukturiert. Motor des Handelns blieb allein der Gedanke an die Verteilung der Gewinne.

Als ehemaliger Teil der Sowjetunion durchlief die Ukraine die gleiche Privatisierung wie Russland, basierend auf dem gleichen Prinzip der Aneignung von Volkseigentum durch den Staat und ein neues Feudalsystem. Die Oligarchen blieben mit Russland verbunden, nicht zuletzt durch dunkle Finanzströme. Selbst während des Krieges im Donbass 2014 konnte der Milliardär Petro Poroschenko, Ex-Präsident der Ukraine, seine Fabriken in Russland arbeiten lassen. Jedoch hat sich die Ukraine einem eher nomadischen, nicht zentralisierten Konzept des Feudalismus verschrieben. Wie vormals die Kosaken von Chmelnizki, die freien Armeen von Petljura oder Machno und die militärischen Formationen von Bandera genossen die ukrainischen Feudalclans ihre Zwischenstellung. Während des Ersten Weltkriegs verbündete sich Petljura zunächst mit den Sowjets gegen die «Weissen» (russische Konservative) und die Deutschen, später mit den Polen gegen die Sowjets. Eine Balance zwischen den Mächten zu erreichen, versuchte auch der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, der 2014 nach Russland floh. Es wäre an der Zeit, all diese Finanzströme russischer und ukrainischer Politiker einmal aufzudecken! Aber wer will schon genauer hinschauen, wenn man – blind für die feudalen Strukturen – von einem nationalen Befreiungskampf spricht?

3. Nationaler Krieg

Es ist nur zu leicht, in einem Feudalismus wie dem Russlands und der Ukraine nationale Zwietracht zu säen, wenn sie den Oligarchen nützt. Denn die von allem beraubten Menschen haben in der Tat kein anderes Eigentum mehr als die Nation. Die Feudalherren kämpfen um ihre Hauptstädte und Machtstellungen, aber der Plebs wird mit der inhaltslosen «Nation» fanatisiert. Schon im Ersten Weltkrieg wurde für den Konflikt zwischen den Imperien eine nationale Feindschaft erschaffen, eine Methode, die seitdem weiter verfeinert wurde. Wer will schon für einen Konzern sterben? Aber man kann den Menschen sagen, dass sie für «Demokratie», «für den russischen Frieden» oder für «europäische Werte» kämpfen müssen.

Wie sinnlos ist es überhaupt, in diesem Krieg von Nationen zu sprechen? Die Ukraine und Russland vermischen sich seit 370 Jahren; es gibt kaum eine russische Familie ohne ukrainische Verwandte und umgekehrt. Aber man kann Menschen, die sich sprachlich so nahestehen, sagen, dass sie einen Grund zur Feindschaft haben, wenn es die feudalen Interessen erfordern, dass sie in den Krieg ziehen. Das russische Reich – so brutal es auch zu seinen Untertanen war – war nie nationalistisch. Es betrachtete die Staatsbürgerschaft als eine Frage des Glaubens. Für das Reich gab es den Begriff orthodox – nicht tungusisch, russisch, ukrainisch, kalmückisch. Die Idee des Imperiums war es, zu sammeln, nicht zu vertreiben. Erst Stalin, der ganze Völker zwangsumgesiedelt hat, flösste den Bürgern den Nationalismus ein. Brodski, Puschkin oder Dostojewski waren keine Chauvinisten; was für sie zählte, war die Welt im Verständnis von Tolstoi. Und es ist bezeichnend, dass im Russischen das Wort Frieden (Mиp, in Umschrift Mir, wie in Tolstois «Krieg und Frieden») nicht nur für Abwesenheit von Krieg, sondern für Gemeinschaft und die ganze Erde steht. Es gehört zur Tragik dieses Krieges, dass mit jedem Tag mehr vom Gift des Nationalismus in die Gedanken und Herzen der Betroffenen dringt.

4. Krieg der Kulturen

Ein Ausdruck dieses fatalen Nationalismus, den dieser Krieg immer mehr vertieft, sind Forderungen von proukrainischer Seite zur Abschaffung der russischen Kultur. Alexander Tkachenko, der Kulturminister der Ukraine, erklärt etwa in der BBC: «Die Kultur des Aggressorlandes muss verboten werden.» Das ist lächerlich – man kann nicht eine Kultur abschaffen, ohne die ganze Weltkultur abzuschaffen. Und die mit der Abgrenzung einhergehende Interpretation der Ukraine als europäische Kultur ist ebenso modisch wie kurzsichtig. Vor 30 Jahren noch feierten Museen, Verleger und Geschäftsleute im Westen Russland als Teil Europas. Russland trug eine europäische Perücke, die aber spätestens jetzt heruntergerissen wurde. Letztlich stehen weder die russische noch die ukrainische Kultur in der Tradition der europäischen Renaissance. Arnold Toynbee sah deswegen die ganze orthodoxe Zivilisation als eigenständige Einheit.

Vor allem zeigt sich der Unterschied in der Interpretation der Freiheit. Was diese ist, fand stets viele Antworten – etwa beim Streit zwischen Erasmus und Luther. Die russische Kultur hat mit dem Wesen des orthodoxen Glaubens zu tun, der sich vom römisch-katholischen Glauben unterscheidet: Für die Orthodoxie geht es bei Freiheit um die Opferbereitschaft als Weg der Reinigung. Deswegen ist Ostern, die Auferstehung, nicht Weihnachten das höchste Fest. Man müsse seine Individualität opfern, man müsse sich vom Stolz befreien, sich für die Gemeinschaft opfern, um Individualität zu gewinnen. Es gibt kein Privileg, das man für sich selbst im Verhältnis zu einem anderen akzeptieren kann. Dies ist die Grundlage der grössten Romane der russischen Kultur: Tolstois «Auferstehung», Pasternaks «Doktor Schiwago», Bulgakows «Der Meister und Margarita», Dostojewskis «Die Brüder Karamasow»: Überall müssen die Helden diesen Weg gehen.

Der «Universalismus» der orthodoxen Kultur ist eine Variante der globalen Idee der europäischen Aufklärung. Aber die Idee des Liberalismus (die politische und wirtschaftliche Freiheit vom Staat impliziert) war für die grosse Mehrheit der russischen Bevölkerung, die in Sklaverei verharrte, gar nicht anwendbar. Leo Tolstoi hat das schon früh erkannt. Deswegen manifestierte sich in Russland der Konflikt zwischen dem Konzept des «Liberalismus» und dem Konzept der «Aufklärung» mit besonderer Schärfe. Er bestand aber auch im Westen, wie bereits Alexis de Tocqueville und jüngst John Gray verdeutlicht haben.

Es ist wichtig zu verstehen, welche Rolle in diesem Vorgang der Staat spielte, der sich als eins mit der Glaubensgemeinschaft sah: Er war es, in den sich der einzelne auflösen muss – eine furchtbare Gleichsetzung von Staat und Glauben. Tolstoi durchschaute den Trick, rebellierte deshalb nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen den konfessionellen Glauben. Aber Hunderttausende haben den Betrug nicht bemerkt. Und der Staat begann, auf diese Weise die Menschen zu manipulieren. Soldaten ziehen in einen ungerechten Krieg, aber für sie erscheint es als Handeln in brüderlicher Gemeinschaft.

 

«Letztlich schämen sich die Russen, einem Raubtierland anzugehören,
das ein fremdes Land mit einem schrecklichen Krieg überzieht.»

 

Das prägt heute die russische Kultur: dieser verlogenen Einheit von Staat und Gemeinschaft ausgeliefert zu sein, und dazu beladen mit diesem typisch russischen Gefühl der Reue und der Scham (für die Geschichte der Leibeigenschaft, für die Demütigung eines Nachbarn, für die Lager). Radischtschew, Tschechow, Bulgakow, Schalamow, Tolstoi, Jessenin, der christliche Philosoph Solowjow und viele andere sahen Scham, Reue und die Verleugnung der Staatsmaschinerie als treibende Kraft der russischen Kultur. Letztlich schämen sich die Russen, einem Raubtierland anzugehören, das ein fremdes Land mit einem schrecklichen Krieg überzieht. Und gleichzeitig erleben sie ihre demütigende Abwertung als minderwertige, nichtmenschliche Menschen ohne Kultur.

Hier und da wird eine angebliche «Minderwertigkeit» der russischen Kultur zum Thema gemacht, tatsächlich wird aber ein globales Problem sichtbar. Das universelle Aufklärungskonzept einer allgemeinen Verständigung ist heute diskreditiert, es wird durch nationale und ethnische Identitäten wie von innen gesprengt. Die angebliche «Brüderlichkeit der Nationen» in der UdSSR war ohnehin verlogen, aber nun gibt es überall Entwicklungen – in den USA wie in einzelnen europäischen Ländern – von «Black Lives Matter» bis zum Kosovo und den Sezessionsbestrebungen von Katalonien –, die ein Schlag ins Gesicht des Universalismus und Fortschrittsoptimismus der Aufklärung sind. Aggressiv sich voneinander absetzende Identitäten, vom Wohlstand gemästet, scheinen mit dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung nicht mehr vereinbar.

Es wäre naiv, wenn Europäer glaubten, dass dieser Krieg nichts mit den Problemen ihrer eigenen Demokratie zu tun hätte. Die Trennung der Eliten von der Bevölkerung ist ein weltweiter Prozess; die Korrosion der Demokratie ist überall sichtbar. Die Effekte dieses Krieges auf die Stabilität unserer Demokratie sind kaum absehbar, wenn die Interessen unterschiedlicher Teile der Bevölkerungen und unterschiedlicher Länder in Europa so hart betroffen sind. Die europäische Demokratie, die selbst schon mutiert ist, könnte bald im Feuer eines Krieges für die Demokratie durch ein undemokratisches Land, das angeblich «europäische Werte» verteidigt, verbrennen.

Ausblick

Russland wird diesen Krieg wohl gewinnen. Solange es dort noch «Leibeigene» gibt, scheinen seine Reserven unerschöpflich. Europa ist weitaus schlechter dran. Damit bleibt die grundlegende Frage: Was ist zu tun? Putins kriminelles Oligarchenregime hat gegen das Völkerrecht verstossen, aber in diesem brutalen Akt liegen weitere Konflikte, die über das Offensichtliche hinausgehen. In ihnen erkennen wir den Zustand der globalen Wirtschaft und die Korruption in der ganzen Welt.

Die vielen Kriege im Krieg spiegeln unterschiedliche Interessen und lassen einen Dialog unmöglich erscheinen. Mit Putin ohnehin nicht, der sein Feudalrecht mit nackter Gewalt durchsetzen will. Aber auch die anderen Beteiligten müssen überlegen, ob sie eine gemeinsame Sprache sprechen. Die Ukraine denkt in nationaler Logik und vermischt nationalen Kampf mit Kultur. Europa folgt der sozialen Logik und denkt vielleicht, es kämpfe für die «Demokratie». Und global gibt es viele, die eine zivilisatorische Herausforderung sehen und eine Umstrukturierung der Weltwirtschaft wollen. Die Notwendigkeit eines Übergangs zu anderen Energieformen ist seit langem bekannt, und der Krieg Russlands mit der Ukraine ist da trotz seiner Schrecklichkeit ein willkommener Anlass, Änderungen vorzunehmen.

In dieser dunkelsten Lesart könnte man argwöhnen, dass die kollektive Intelligenz erkennt, dass das derzeitige System nicht in der Lage ist, auf die Umwelt- und Planetenprobleme zu reagieren: Die Dinge müssen sich ändern – allerdings soll dabei der Wohlstand einiger und das Verhältnis von Reich zu Arm nicht angerührt werden. Weder Gleichheit noch Brüderlichkeit sind die Ziele, es geht auch nicht wirklich um die Befreiung des Donbass, sondern ein Verzicht auf diejenige Energie ist nötig, auf der das wirtschaftliche Wertesystem bisher gründete. Ob die Ukraine oder gar Europa in diesem Prozess geopfert werden, scheint dabei für einige Wirtschaftsunternehmen unbedeutend. Der Punkt ist dann vielleicht nicht mehr, dass es für die Ukraine nicht einfach ist, der EU beizutreten (wie es für Russland vor dreissig Jahren nicht einfach war), sondern dass es gar kein Europa, wie wir es kennen, mehr geben wird.

Das ist die zynische Falle, in die wir durch den Ukra­inekrieg gedrängt werden: Einerseits ist die Achtung des internationalen Rechts unsere schwere Pflicht, und wir sind gebunden durch die moralischen Grundsätze der Aufklärung. Aber andererseits liegt in der Beachtung gerade dieser Verpflichtungen die grosse Gefahr. Je mehr wir ihnen jetzt folgen, desto schneller drohen unsere Demokratie, die moralischen Grundsätze und Europa selbst zu zerbrechen. Sich selbst treu zu sein, könnte tragischerweise das Ende Europas bedeuten.

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