(3) Konsumenten, Produktivität und Zuwanderer
mit Reiner Münz Europas Wachstumsschwäche ist eine relativ junge Erscheinung. Ein wichtiger Unterschied zwischen Europa und den USA besteht darin – so die These von William Lewis –, dass die US-Konsumenten mehr zu sagen haben. Zudem wird man in Europa angesichts der Alterung der Gesellschaft länger arbeiten und Zuwanderer integrieren müssen.
«Europe: Falling Behind» und «The United States: Consumer is King». Diese zwei Kapitelüberschriften in einem Fachbuch umreissen in knappen Worten die europäisch-amerikanischen Kontraste, die im Zusammenhang mit der «Lissabon»-Strategie von grosser Bedeutung sind. Autor des Buches ist William Lewis, langjähriger, nun emeritierter Leiter des McKinsey Global Institute, und sein Werk trägt den Titel «The Power of Productivity. Wealth, Poverty, and the Threat to Global Stability» (University of Chicago Press, McKinsey 2004). Die Publikation enthält Erkenntnisse aus jahrelangen Untersuchungen, die Lewis und seine Gruppe zum Thema Produktivität und Wachstum weltweit unternommen haben.
Am Zermatter Symposium hat Lewis vor dem Hintergrund seiner Arbeiten dargelegt, dass die Probleme der europäischen Volkswirtschaften offensichtlich viel mit Wettbewerbsbeschränkungen auf den Produkte- und Dienstleistungsmärkten zu tun haben. Mit dem Titel seines Beitrags «Consumerism – The Remaining Difference between Europe and the US» bekräftigte Lewis an der Tagung seine These, wonach in den USA die Konsumnachfrage eine viel stärkere Kraft darstellt als in Europa. Die Schlüsse mit Blick auf die «Lissabon»-Strategie lagen für ihn auf der Hand. Wer in Europa die Wirtschaftsentwicklung beschleunigen will, muss die Konsumentensouveränität ernst nehmen, er muss die Produkte- und Dienstleistungsmärkte von Hindernissen befreien und den Konsumenten jene Macht geben, die ihnen in Marktmodellen eigentlich zukommt – der Kunde sollte König sein.
Lewis betonte, dass die Konsumenten in den USA dieser Rolle näher kommen und weitaus stärkeren Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung haben als in Europa oder Japan. Die amerikanischen Konsumenten seien in viel höherem Masse eine treibende Kraft der Innovation; entsprechend effizient arbeiteten in den USA Handel und Verteilungssysteme, während die Güter- und Dienstleistungsmärkte in Europa stärker durch Produzenteninteressen und Regulierungen bestimmt seien. Nach Lewis’ Ansicht könnten Politiker der Wirtschaft und den Konsumenten den besten Dienst tun, wenn sie zu Anwälten der Konsumenteninteressen würden. Er nannte in Zermatt Beispiele aus den USA, unter anderem John F. Kennedy, der 1960 gesagt hatte: «The consumer is the only man in our economy without a high-powered lobbyist. I intend to be that lobbyist.» Lewis sieht den Konsumenten in einer politisch geradezu brisanten Rolle. Die Konsumenten seien letztlich die einzigen politischen Kräfte, die den Interessen von Produzenten und Gewerkschaften energisch entgegenträten, die sich gegen «Big Government», gegen Technokraten, gegen politische, geschäftliche und intellektuelle Eliten zur Wehr setzten.
Ein guter Teil der Diskussion in Zermatt galt der Frage, wie man denn in Europa die Stellung der Konsumenten wirksam stärken könne, zumal gerade diese Gruppe politisch so schwierig zu organisieren sei. Es blieb mehr oder weniger bei der an sich bekannten Antwort, dass die Deregulierung der Produkte- und Dienstleistungsmärkte ein ziemlich wirksames Mittel darstellten. Dies zeige sich nicht nur im Vergleich zwischen Ländern, sondern auch im zeitlichen Ablauf innerhalb desselben Landes; so hätten die Reformen der 1980er Jahre in den USA einen regelrechten Turnaround ausgelöst, und dies lasse für Europa immerhin den tröstlichen Schluss zu, dass im Konsumsektor das «Ende der Geschichte» nicht erreicht sei.
Ganz ohne Widerspruch blieben Lewis’ Ausführungen in Zermatt nicht. Ein Einwand betraf die Handelspolitik der USA, die sich seinerzeit gegen jene Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel wehrte, die von EU-Vertretern gefordert wurde. Dies sei doch, so das Votum, eine Politik gegen, nicht für Konsumenten, die sicherlich ein Anrecht auf Produkteinformation hätten. In dieser Hinsicht sei Europa den USA voraus. In eine ähnliche Richtung wies die Frage, ob es wirklich gut sei, den Konsumenten als treibende Kraft einzusetzen, zumal Energieverschwendung oder körperliches Übergewicht den US-Konsumenten nicht gerade das beste Zeugnis ausstellten. Lewis wie auch einzelne Konferenzteilnehmer hielten mit dem Argument dagegen, dass eine Politik zum Schutz des Konsumenten noch keineswegs bedeute, dass dessen Präferenzen ernst genommen würden, zumal Konsumentenschutz-Politik oft von Produzenten- oder Gewerkschaftsinteressen dominiert würde.
Die Unterschiede zwischen Europa und den USA betreffen freilich nicht nur die Rolle der Konsumenten – dies kam auch in der Diskussion von Lewis’ Thesen deutlich zum Ausdruck. In Europa ist die Abneigung gegen Wettbewerb allgemein stärker als in den USA. Die Sorge um «sozialen Ausgleich» und die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen führten in grossen europäischen Ländern zu Schutzmassnahmen, die die Wirtschaft bremsten und damit Arbeitsplätze und soziale Sicherungssysteme erst recht gefährdeten. Europas Abstieg erscheint aus dieser Sicht in dem Masse als fast unaufhaltsam, wie in Zukunft die Überalterung der Gesellschaft und schrumpfende Erwerbspopulationen als Belastungen hinzukommen und die Produktivität beeinträchtigen.
Heute macht Europa im Vergleich mit den USA in der Disziplin Wirtschaftswachstum keine gute Figur. Es hat aber auch andere Perioden gegeben. Europa vermochte sich früher genau so zügig zu entwickeln wie die USA. Wie die Graphik auf dieser Seite zeigt, erreichten Westdeutschland, Frankreich und Grossbritannien von 1970 bis 1995 ebenso steile Produktivitätsgewinne wie die USA, es fiel ihnen ebenso leicht, Arbeits- und Kapitaleinsatz in ein höheres Einkommen umzumünzen. Ganz anders Brasilien, Korea oder Japan; da musste das Wirtschaftswachstum mit viel höherem Einsatz an Arbeit und Kapital erkämpft werden.
Produktivität ist das zentrale Thema in Lewis’ Arbeiten, ja fast seine «Marke». Damit lässt sich seiner Ansicht nach den Zusammenhängen zwischen Arbeiten und Reichtum in den verschiedenen Ländern der Welt am ehesten auf die Spur kommen – vor allem dann, wenn man die Wirtschaftszweige einzeln betrachtet. Volkswirtschaftliche Analysen befassen sich seiner Meinung nach mit allzu stark aggregierten Zahlen, um befriedigend Aufschluss über die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft und die treibenden Kräfte des Wachstums geben zu können. Betriebswirtschaftliche Untersuchungen dagegen liefern wegen der Tausende oder gar Millionen von Einzelfällen keinen Überblick und höchstens beispielhafte Anhaltspunkte. Um den Wachstumskräften auf die Spur zu kommen, untersucht er die einzelnen Wirtschaftszweige einer Volkswirtschaft auf ihre Produktivität hin.
Japan war für ihn offenbar ein Schlüsselerlebnis. Japans Unternehmen stellten perfekte Autos, Maschinen und Unterhaltungselektronik her, drückten die amerikanischen Konkurrenten an den Rand, aber im Sozialprodukt pro Kopf lag Japan doch weit hinter den USA. Genauere Analysen zeigten Lewis, dass Japan eine gespaltene Wirtschaft hat: eine hocheffiziente Maschinen-, Auto-, Elektronik- und Stahlindustrie, daneben aber einen sehr ineffizienten Einzelhandelssektor und eine noch schwerfälligere Bauindustrie. Da nur etwa ein Sechstel der Beschäftigten im effizienten Teil der Wirtschaft arbeiteten, der Rest im schwerfälligen Teil, war das Sozialprodukt pro Kopf entsprechend bescheiden. Viel mehr brauchte Lewis in Zermatt nicht zu erklären; die Zuhörer wussten sehr gut, wie es um die gespaltenen Volkswirtschaften in Europa steht, deren Binnenwirtschaft vor Wettbewerb geschützt ist und die nur im Exportsektor im Ausland glänzen.
Und was passiert, wenn plötzlich die Arbeitskräfte fehlen? «Noch leben wir in der besten aller Welten, was die Demographie betrifft.» Dies ist zwar etwas überspitzt formuliert, aber im Kern wurde es in der Diskussion in Zermatt so dargelegt: Im Übergang von einer Gesellschaft mit relativ vielen Jungen zu einer Gesellschaft mit vielen Älteren gibt es einerseits nicht mehr besonders viele junge Leute. Auf dieser Seite ist die Last also bereits leichter geworden. Gleichzeitig gibt es noch nicht so viele Betagte, dass die Belastung ins Gewicht fallen würde. Diese Einschätzung wirkte allerdings höchstens bei oberflächlicher Betrachtung beruhigend. Was William Lewis in der Diskussion über die künftigen Produktivitätsprobleme in europäischen Ländern andeutete, wurde im Vortrag von Rainer Münz in aller Ausführlichkeit behandelt: die Alterung der Gesellschaft wird in Europa – ganz anders als in den USA – zu einer Reduktion der erwerbsfähigen Bevölkerung und zu einer massiven Belastung der Systeme sozialer Sicherung führen. Gegenwärtig sind diese Belastungen erst ansatzweise spürbar, Münz machte jedoch klar, dass die Alterung der Gesellschaft in europäischen Ländern die Themen «Zuwanderung» und «mehr arbeiten» in den Vordergrund rücken wird.
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Alterung und Zuwanderung in Europa
Wie wir morgen leben werden, weiss niemand ganz genau, es gibt aber ein paar Entwicklungen und Trends, über die kaum Zweifel bestehen. Die Globalisierung wird weiter gehen, der Aufstieg Asiens dürfte sich fortsetzten, und die künftigen demographischen Entwicklungen sind absehbar. Es ist ein langsamer Prozess, der allerdings mit grosser Unerbittlichkeit fortschreitet. Die Arbeitskräfte des Jahres 2025 und die Rentner des Jahres 2050 sind schon auf der Welt. Es ist ziemlich klar vorhersehbar, dass Europas Bevölkerung insgesamt stark altern und die einheimische Erwerbsbevölkerung zurückgehen wird. Ganz anders ist die Entwicklung in den angrenzenden Regionen in Nordafrika, dem Mittleren Osten und in Zentralasien. Hier gibt es auf absehbare Zeit junge und wachsende Bevölkerungen. (vgl. Graphik S.25)
Die Regionen Europas, also die 25 Länder der EU, des EWR und die Schweiz, die europäischen GUS-Staaten und der Balkan, stehen vor einem gemeinsamen Problem: die einheimische Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter wird bestenfalls stagnieren, in den meisten Ländern jedoch abnehmen. Dadurch werden die verfügbaren Arbeitskräfte zunehmend knapper, was mit der Zeit die Wirtschaftsleistung und die sozialen Sicherungssysteme beeinträchtigen dürfte, weil ja zugleich die Zahl der Älteren stark steigt. Ursachen dieser Entwicklung sind die steigende Lebenserwartung auf der einen und die sehr niedrigen Kinderzahlen auf der anderen Seite.
Heute leben in Europa, also im Raum der EU der 25, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweiz, insgesamt 472 Millionen Menschen. Von ihnen sind 227 Millionen erwerbstätig. Die demographische Verschiebung zeichnet sich bereits jetzt deutlich ab: 12 der 25 EU-Staaten und drei der vier Aufnahmekandidaten haben heute schon mehr Sterbefälle als Geburten. Für die Periode bis 2050 sind die Trends bereits sichtbar. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung in diesem west- und mitteleuropäischen Raum bis 2050 um 57 Millionen Personen abnehmen. Das wären dann immer noch 420 Millionen Einwohner. Wegen der niedrigen Kinderzahlen würde die einheimische Bevölkerung im Erwerbsalter um 88 Millionen Personen schrumpfen, die tatsächliche Erwerbsbevölkerung um 66 Millionen Menschen. In Russland und den europäischen GUS-Staaten wird diese Schrumpfung noch rascher vor sich gehen.
In Nordafrika, dem Mittleren Osten, der Türkei und in Zentralasien dagegen ist bis 2050 mit Bevölkerungswachstum zu rechnen, und es werden zunehmend mehr Menschen ins erwerbsfähige Alter kommen. Allerdings sind die Beschäftigungsmöglichkeiten in diesen Regionen schlecht, so dass viele arbeitslos bleiben dürften. In Nordafrika und dem Mittleren Osten beispielsweise (ohne Golf-Staaten) wird die Gruppe der 15- bis 65jährigen von heute 195 Millionen Personen bis 2015 auf knapp 290 Millionen Menschen wachsen. 2050 dürfte es 365 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter geben. In der Türkei und in Zentralasien ist der Zuwachs relativ und absolut geringer.
Damit stellt sich die Frage: Kann und soll es zu einem «demographischen Ausgleich» zwischen Europa und seinen benachbarten Regionen kommen? Denn es könnten künftig mehr Menschen aus jungen und wachsenden Gesellschaften in alte und schrumpfende Gesellschaften wandern. Unter rein quantitativen Gesichtspunkten kämen vor allem Zentralasien, Nordafrika, der Mittlere Osten und die Türkei als Herkunftsregionen künftiger Zuwanderer nach West- und Mitteleuropa in Frage. Rekrutierung und Zuwanderung von Arbeitskräften werden im Laufe des 21. Jahrhunderts für Europa wieder eine Rolle spielen. Viele Experten sind jedoch der Ansicht, dass die Zuwanderung in Europa die Schrumpfung der einheimischen Bevölkerung im Erwerbsalter nur teilweise wird wettmachen können. Aus europäischer Sicht bieten sich daher alternative Strategien an, um die Zahl auf derzeitigem Niveau zu halten.
Wichtigste zukünftige Strategie muss die Erhöhung des Rentenalters sein – zuerst die Anhebung des Alters, in dem Europäer tatsächlich in Rente gehen, anschliessend eine Anhebung des gesetzlichen Rentenalters. Wer früher geht, müsste deutlichere Abschläge in Kauf nehmen als heute. Voraussetzung eines höheren Rentenalters wäre allerdings ein funktionierender Arbeitsmarkt für ältere Menschen. Hilfreich wäre es auch, wenn die Jungen Studium und Ausbildung rascher abschliessen würden; denn das ermöglichte einen früheren Berufseinstieg. Zugleich sollten wir zukünftig mehr tun, um Frauen nach der Geburt von Kindern wieder ins Berufsleben zu integrieren. Das erfordert familiengerechtere Karriereverläufe und Arbeitszeitmodelle sowie die Versorgung mit Kindergärten und Ganztagesschulen.
Spielt man dies in Szenarien durch, zeigt sich, dass keine einzige der Massnahmen für sich allein genommen ausreicht; zu gross ist die «demographische Lücke». Es wären also Kombinationen von Massnahmen nötig. Um in Europa die «Lücke» zu schliessen, müsste man beispielsweise generell auf so hohe Erwerbsquoten kommen, wie sie heute in Dänemark, Island oder Schweden verwirklicht sind. Zusätzlich müsste das Rentenalter um 5 bis 10 Jahre erhöht werden. Dies aber würde bedeuten, dass in der Gruppe der 55- bis 75jährigen künftig rund drei Viertel der Menschen arbeiten müssten; heute ist es lediglich ein Viertel.
Heute gibt es in ganz Europa 40 Millionen Migranten, von denen die Hälfte erwerbstätig ist. Gegen das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung hilft daher im Prinzip die Rekrutierung qualifizierter junger Erwachsener aus dem Ausland. Voraussetzung dafür wäre eine pro-aktive Politik. Denn fast alle Industriegesellschaften haben ähnliche demographische Probleme. Um attraktive Migranten entsteht daher ein weltweiter Wettbewerb. Um netto 30 Millionen Arbeitsmigranten zusätzlich nach Europa zu holen, wären brutto über die kommenden 40 bis 50 Jahre gut und gerne 120 Millionen migrationwillige Personen nötig. Denn nicht alle Zuwanderer werden erwerbstätig. Und bestenfalls die Hälfte bleibt im Zuwanderungsland. Damit aber stellt sich die Frage, mit wieviel Zuwanderung wir in Europa künftig leben können und wollen und um wie viele Jahre wir im Laufe unseres Lebens länger arbeiten wollen.
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Angesichts derart klarer Trendvoraussagen lag es nahe, dass in der Diskussion Fragen zu der «Gradlinigkeit» der Daten und Prognosen auftauchten. Muss man diese Trends als derart unerbittliche Entwicklungen akzeptieren? Sind sie mit solcher Sicherheit abschätzbar? Gibt es beispielsweise nicht immer wieder Produktivitätsfortschritte, die es dann doch ermöglichen würden, mit weniger Erwerbstätigen auf einen hohen Lebensstandard zu kommen? Münz wies im Zusammenhang mit erhofften Produktivitätsfortschritten vor allem auf Anreizprobleme hin: es seien ja die erwerbstätigen Gruppen, die diese Fortschritte erarbeiten würden, in alternden Gesellschaften also ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung. Wenn nun Produktivitätssteigerungen die ganze Gemeinschaft wirtschaftlich tragen sollten, müssten die Produktiven bereit sein, sich beim Arbeiten zwar dauernd zu steigern, sich die Früchte der Anstrengungen dann aber zu einem guten Teil wegnehmen zu lassen. Die Frage, ob die künftigen Produktiven zu solchen Anstrengungen bereit sein würden, nur um sich dann massiv besteuern zu lassen, blieb naturgemäss offen.
Eine weitere Frage zur Unerbittlichkeit der Trends betraf die Lebenserwartung. Ist eine stetig steigende Lebenserwartung tatsächlich als derart gradlinige Entwicklung zu verstehen? Ist nicht mit Brüchen zu rechnen, gibt es nicht Anzeichen, dass eine weniger gesunde Ernährung, Tabak- oder Alkoholkonsum die gegenwärtig rekordhohe Lebenserwartung künftig drücken könnten? Leben die Jungen nicht fast wieder ungesünder als die Alten? Die Antwort war klar. Münz betonte, dass die Sterbetafeln in keiner Weise auf eine Trendveränderung hindeuteten; die Menschen erreichen sozusagen unaufhaltsam ein zunehmend höheres Alter. Gelang es der Medizin früher, Infektionskrankheiten unter Kontrolle zu bringen, bilden heute Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Krebsleiden die nächste Front, an der man für eine laufend höhere Lebenserwartung kämpft.
Deutlich politischer waren Fragen nach den Auswirkungen der Altersverteilung auf gesellschaftliche Spielregeln und Prozesse. Wenn die Gruppe der Älteren derart an Gewicht gewinnen wird, kann dies nicht ohne Konsequenzen auf die Richtung der Politik und die Reformfähigkeit der Gesellschaft bleiben. Werden die Betagten dereinst einen grossen Teil der Gesellschaft ausmachen, werden Reformen beispielsweise in der Sozialpolitik noch möglich sein? Die Antwort war ebenso offen wie die letztlich zentrale Frage: Wenn die Gesellschaften in der gegenwärtigen Zusammensetzung, also mit grösserer Präsenz der Jüngeren, keine anständigen Reformen zustandegebracht haben – ist da die Hoffnung berechtigt, dass die älteren Jahrgänge solche Reformen mit mehr Energie in Gang bringen würden?