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Konjunktiv-Overkill: Hätte, könnte, dürfte

Wütende Bauern sollen versucht haben, eine Fähre mit dem deutschen Wirtschaftsminister Habeck an Bord zu stürmen. Neue Recherchen widersprechen diesen Berichten.

Konjunktiv-Overkill: Hätte, könnte, dürfte

Bauern blockierten am 4. Januar 2024 am norddeutschen Hafen Schlüttsiel eine Fähre mit Wirtschaftsminister Habeck an Bord. Die Stimmung sei «aufgeheizt gewesen», sagte ein Polizeisprecher dem «Spiegel». Beamte hätten Pfefferspray verwendet. Habeck weigerte sich, das Schiff für Gespräche zu verlassen, und fuhr weiter nach Hooge. Er war jedoch nach eigenen Aussagen dazu bereit gewesen, mit einzelnen Vertretern der Bauern an Bord zu sprechen.

Am folgenden Tag berichteten verschiedene Medien von einem Erstürmungsversuch. «Es war keine Minute zu spät, sonst wäre der Mob an Bord gewesen», zitierte die FAZ den Geschäftsführer der Reederei. «Komm raus, du Feigling!», hätten Bauern einer DPA-Meldung zufolge skandiert. Habeck sei daraufhin geflüchtet.

Auch Schweizer Medien nahmen den Vorfall auf. Der «Blick» titelte am 4. Januar: «Deutscher Vizekanzler Habeck flüchtet mit Fähre vor Wut-Bauern». Ähnliches war im «Tages-Anzeiger», in «20 Minuten» und in der NZZ zu lesen. SRF sprach zunächst in der abendlichen «Tagesschau» vom 5. Januar von einer «aufgeheizten Stimmung», nicht aber von einem Erstürmungsversuch. In der Mittagsausgabe der «Tagesschau» vom 8. Januar war dann doch von «gewalttätigen Szenen» die Rede.

Den Erstürmungsversuch stellten viele Medien als Tatsache dar. Zitate zum Ereignis erscheinen meist im Konjunktiv und stammen grösstenteils von denselben Personen: dem Geschäftsführer der Reederei, dem Kapitän der Fähre, einem Polizeisprecher und einer verängstigten Familie. Demonstrierende Bauern wurden keine interviewt. Handyvideos waren nebst Aussagen von Anwesenden eine bedeutende Quelle. Tatsächlich zeigen sie aufgeheizte Szenen am Hafen.

Neuere Recherchen, unter anderem des NDR, stellen den Erstürmungsversuch in Frage. Als das Schiff losfuhr, sei es lediglich wegen eines Gedränges zum «Durchbruch einiger Teilnehmer durch die Polizeikette gekommen», sagte Bauer Malte Massow, der am 4. Januar vor Ort war. «Ich kann ganz klar sagen, dass von unseren Landwirten keiner ihn [Robert Habeck] überhaupt angefasst hätte.» Die Stimmung sei «relativ entspannt» gewesen, sagte Thimo Silberschein, Steuermann der Fähre. «Was die genau wollten, kann ich natürlich nicht sagen, ob die [die Bauern] nur rumrufen wollten oder weiter angreifen, das Schiff, keine Ahnung.»

Jedoch spart auch der Bericht des NDR nicht mit Konjunktiven. Die Recherchen wurden von den anderen Medien mit neuen Fragezeichen und weiteren Möglichkeiten aufgenommen. Anzumerken ist, dass auch der NDR anfänglich von «wütenden Bauern» und einem Erstürmungsversuch berichtet hatte.

Was tatsächlich am 4. Januar geschah, weiss der Leser immer noch nicht. Die Medien befinden sich weiterhin im Kampf um die Deutungshoheit des Ereignisses. Für manche Medien ist es ein weiterer Ausdruck der Verrohung des politischen Diskurses in Deutschland. Andere Medien beschuldigen solche Medien, das Ereignis absichtlich aufzublähen, um gegen rechts zu schiessen.

«Unser Korrespondent hat sich für den Beitrag vom 5. Januar auf Aussagen des Reeders und der Polizei gestützt», sagt Regula Messerli, Leiterin der SRF-«Tagesschau», auf Anfrage – ein SRF-Korrespondent sei nicht vor Ort gewesen. Daniel Riedel, Mediensprecher der «Blick»-Gruppe, sagt: «Unsere Informationen fussten auf der Berichterstattung zahlreicher deutscher Medien und aus Inhalten einer DPA-Agenturmeldung.»

Der Leser stellt zu Recht die Frage, welcher Geschichte er nun glauben soll. Die verschiedenen Medienartikel im Konjunktiv lassen ihn im Unklaren. Ein Konjunktivjournalismus sorgt unbeabsichtigt für Desinformation oder könnte zu absichtlicher Verbreitung von Fake News beitragen. Ein Hoffnungsschimmer zur Rekonstruktion der Ereignisse vom 4. Januar könnte die Untersuchung der Staatsanwaltschaft Flensburg sein – Betonung auf «könnte».

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