
Kompositionen fordern den Geist auf allen Ebenen heraus
Moderne Musik ist intellektuell verarmt. Was es braucht, sind echte Komponisten, um Zuhörer wirklich zu erfreuen. Wer Musik geniessen will, muss zudem den Geist einschalten und die Ohren spitzen.
Das Wort «komponieren» war keineswegs, wie es der Ursprung im lateinischen componere, «zusammenstellen» oder «-fügen», suggeriert, von alters her die selbstverständliche Bezeichnung für kunstgerechtes Musikschaffen. Die Lemma-Liste des Grimm’schen Wörterbuchs springt von «Komplexion» zu «Kompost» und lässt alles rund um das «Komponieren» einfach aus. Die Konjunktur des Wortes dürfte im 19. Jahrhundert schwach gewesen sein, wiewohl die Deutschen das Wort schon zu Luthers Zeit entlehnt hatten. Doch es wurde zunächst in Chemie und Medizin, später für den Aufbau von Bildwerken verwandt, und die spätantike Tradition der «compositio» einer wortsprachlichen Rede wurde bis in die jüngere Zeit fortgeführt. Je mehr sich im 18. Jahrhundert eine «absolute Instrumentalmusik» aus der Bindung an Wortsprache und Tanz löste, um ihr autonom «Schönes» zu schöpfen, desto mehr muss man die Begriffsfamilie rund um das Komponieren in der Musik als Lehn- und Behelfsworte empfunden haben. Der «Tonsetzer» und der «Tonkünstler» waren unübersehbar deutsch, doch Ludwig van Beethoven, Robert Schumann oder gar Richard Wagner waren keine «Tonsetzer» und eigentlich auch keine «Komponisten»: den ersatzreligiösen Künstlerkulten im 19. Jahrhundert waren allenfalls «Tonschöpfer» oder «Tondichter» würdig.
Der Schock des Ersten Weltkriegs liess solche Kulte verstummen. Das nüchterne Verb «komponieren» war nie verschwunden; jetzt setzte sich die substantivierte Form dauerhaft durch. Die für das Selbstverständnis der schönen Künste seit dem späten 18. Jahrhundert so fundamentale, kategoriale Differenz der «Kunst-» und der Gebrauchsmusik indes blieb weitgehend erhalten: Ein DJ «komponiert» keine Streams für die Club-Night. Man «komponiert» keine Popsongs, sondern «schreibt» sie. Man «komponiert» keine «Klangkunst», sondern stellt sie her. KI «komponiert» keine Musik; allenfalls erzeugt sie Simulacren. Die Phrase von der Instant Composition, die in der Free-Music-Szene kursiert, ist auf bezeichnende Weise verfehlt: Man verkennt die Logik des (modernen) Konzeptes der Werk-Komposition – und damit seinen utopischen Kern.
Für Erlebnisfähigkeit
Wer heute Kunstmusik vom aufgezeichneten, auf Wiederholbarkeit zugeschnittenen Individualwerk her denkt, steht unter dem ideologischen Verdacht, rückwärtsgewandt an Hierarchien, Schriftzentrierung, Identitäten und Essentialismen zu kleben, anstatt zeitgemäss «Offenheit», Subversion, Mixturen, Amorphes, Grenzüberschreitungen, Ambivalenzen und Queerness zu suchen. Tatsächlich steht das durchkomponierte Einzelwerk quer zu populären, postmodernen Rhetoriken und ist als solches pikanterweise selbst eine Provokation: Der Traum einer Partitur ist das Vertrautwerden von Aufführenden und Rezipienten mit allen Klangereignissen durch Wiederholung, bis nichts mehr überraschen kann. Was neu, provokativ, unkonventionell war, sehnt sich im Werk nach seiner eigenen Aufhebung. Partituren sind der Ausdruck grösster Hochachtung vor der Individualität der Klänge, die sich, wie jede bedeutsame Individualität, nur in der Wiederholung zeigen kann.
Im Zentrum des Konzeptes komponierter Individualwerke wirken keine Ideologie der Identität und kein hierarchisches Denken, sondern eine Utopie der wissend erfüllten Erlebnisfähigkeit. Phänotypische Kunstmusikwerke definieren sich durch eine individualisierte Idee von Klangorganisation, die nur durch deutend wiederholendes Hören erschliessbar und erst dann ästhetisch unverkürzt erlebbar ist. In diesem Entwurf von Kunstmusik wird eine jede einzelne Musikschöpfung zu etwas, was sie zu keiner anderen Zeit war und ist: ein Objekt begriffsvermittelnden Verstehens der emphatisch und planhaft individualisierten Klangordnungsidee. Doch das wird und kann sie nur werden durch das (utopische) Versprechen darauf, am Ende alle Begriffe und abstrahierenden Verbalisierungen wieder ausblenden zu können, um das Glück einer Art zweiten Unschuld zu erleben: ein durch Wissen erfülltes, jedoch von Abstraktionen ungestörtes, reines Hör-Erleben. Gelingt das nicht, hätte man es allenfalls mit einer pädagogischen Übung oder technischen Exerzitie zu tun. Gelingt es, wird jedes Mal eine vor zweihundert Jahren, nicht lange, nachdem aufklärerische Optimisten die Menschenrechte ausgerufen und die Selbstbestimmung des Menschen zur Leitmaxime der Zivilisation erkoren hatten, qua Spekulation geborene Utopie wahr.
Eine kunstmusikalische Komposition fordert daher vom Subjekt, nicht einfach «Rezipient» zu sein und «aufmerksam zuzuhören», sondern sich eigenaktiv suchend und am Individuellen abarbeitend in allen Dimensionen geistiger Aktivität…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1111 – November 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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