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Kompositionen fordern den Geist auf allen Ebenen heraus
Sebastian Kiefer, zvg.

Kompositionen fordern den Geist auf allen Ebenen heraus

Moderne Musik ist intellektuell verarmt. Was es braucht, sind echte Komponisten, um Zuhörer wirklich zu erfreuen. Wer Musik geniessen will, muss zudem den Geist einschalten und die Ohren spitzen.

Das Wort «komponieren» war keineswegs, wie es der Ursprung im lateinischen componere, «zusammenstellen» oder «-fügen», suggeriert, von alters her die selbstverständliche Bezeichnung für kunstgerechtes Musikschaffen. Die Lemma-Liste des Grimm’schen Wörterbuchs springt von «Komplexion» zu «Kompost» und lässt alles rund um das «Komponieren» einfach aus. Die Konjunktur des Wortes dürfte im 19. Jahrhundert schwach gewesen sein, wiewohl die Deutschen das Wort schon zu Luthers Zeit entlehnt hatten. Doch es wurde zunächst in Chemie und Medizin, später für den Aufbau von Bildwerken verwandt, und die spätantike Tradition der «compositio» einer wortsprachlichen Rede wurde bis in die jüngere Zeit fortgeführt. Je mehr sich im 18. Jahrhundert eine «absolute Instrumentalmusik» aus der Bindung an Wortsprache und Tanz löste, um ihr autonom «Schönes» zu schöpfen, desto mehr muss man die Begriffsfamilie rund um das Komponieren in der Musik als Lehn- und Behelfsworte empfunden haben. Der «Tonsetzer» und der «Tonkünstler» waren unübersehbar deutsch, doch Ludwig van Beethoven, Robert Schumann oder gar Richard Wagner waren keine «Tonsetzer» und eigentlich auch keine «Komponisten»: den ersatzreligiösen Künstlerkulten im 19. Jahrhundert waren allenfalls «Tonschöpfer» oder «Tondichter» würdig.

Der Schock des Ersten Weltkriegs liess solche Kulte verstummen. Das nüchterne Verb «komponieren» war nie verschwunden; jetzt setzte sich die substantivierte Form dauerhaft durch. Die für das Selbstverständnis der schönen Künste seit dem späten 18. Jahrhundert so fundamentale, kategoriale Differenz der «Kunst-» und der Gebrauchsmusik indes blieb weitgehend erhalten: Ein DJ «komponiert» keine Streams für die Club-Night. Man «komponiert» keine Popsongs, sondern «schreibt» sie. Man «komponiert» keine «Klangkunst», sondern stellt sie her. KI «komponiert» keine Musik; allenfalls erzeugt sie Simulacren. Die Phrase von der Instant Composition, die in der Free-Music-Szene kursiert, ist auf bezeichnende Weise verfehlt: Man verkennt die Logik des (modernen) Konzeptes der Werk-Komposition – und damit seinen utopischen Kern.

Für Erlebnisfähigkeit

Wer heute Kunstmusik vom aufgezeichneten, auf Wiederholbarkeit zugeschnittenen Individualwerk her denkt, steht unter dem ideologischen Verdacht, rückwärtsgewandt an Hierarchien, Schriftzentrierung, Identitäten und Essentialismen zu kleben, anstatt zeitgemäss «Offenheit», Subversion, Mixturen, Amorphes, Grenzüberschreitungen, Ambivalenzen und Queerness zu suchen. Tatsächlich steht das durchkomponierte Einzelwerk quer zu populären, postmodernen Rhetoriken und ist als solches pikanterweise selbst eine Provokation: Der Traum einer Partitur ist das Vertrautwerden von Aufführenden und Rezipienten mit allen Klangereignissen durch Wiederholung, bis nichts mehr überraschen kann. Was neu, provokativ, unkonventionell war, sehnt sich im Werk nach seiner eigenen Aufhebung. Partituren sind der Ausdruck grösster Hochachtung vor der Individualität der Klänge, die sich, wie jede bedeutsame Individualität, nur in der Wiederholung zeigen kann.

Im Zentrum des Konzeptes komponierter Individualwerke wirken keine Ideologie der Identität und kein hierarchisches Denken, sondern eine Utopie der wissend erfüllten Erlebnisfähigkeit. Phänotypische Kunstmusikwerke definieren sich durch eine individualisierte Idee von Klangorganisation, die nur durch deutend wiederholendes Hören erschliessbar und erst dann ästhetisch unverkürzt erlebbar ist. In diesem Entwurf von Kunstmusik wird eine jede einzelne Musikschöpfung zu etwas, was sie zu keiner anderen Zeit war und ist: ein Objekt begriffsvermittelnden Verstehens der emphatisch und planhaft individualisierten Klangordnungsidee. Doch das wird und kann sie nur werden durch das (utopische) Versprechen darauf, am Ende alle Begriffe und abstrahierenden Verbalisierungen wieder ausblenden zu können, um das Glück einer Art zweiten Unschuld zu erleben: ein durch Wissen erfülltes, jedoch von Abstraktionen ungestörtes, reines Hör-Erleben. Gelingt das nicht, hätte man es allenfalls mit einer pädagogischen Übung oder technischen Exerzitie zu tun. Gelingt es, wird jedes Mal eine vor zweihundert Jahren, nicht lange, nachdem aufklärerische Optimisten die Menschenrechte ausgerufen und die Selbstbestimmung des Menschen zur Leitmaxime der Zivilisation erkoren hatten, qua Spekulation geborene Utopie wahr.

Eine kunstmusikalische Komposition fordert daher vom Subjekt, nicht einfach «Rezipient» zu sein und «aufmerksam zuzuhören», sondern sich eigenaktiv suchend und am Individuellen abarbeitend in allen Dimensionen geistiger Aktivität einzubringen: begrifflich, imaginierend, empfindend, fragend, schlussfolgernd, selbstvergessen hingegeben. Organisiert werden daher niemals blosse Materialien, Klänge, Töne oder Techniken, vielmehr (implizit) immer zugleich die mit diesen verbundenen Empfindungen, Erinnerungen und Erwartungen und eben auch Ordnungskonzepte als wesentliche Faktoren des erkennenden Gesamterlebens.

Ich-entrücktes Klangerleben

Der idealtypische Neue-Musik-Hörer dagegen sucht nicht nach musikalisch gelungenem Ausdruck. Ihm wichtiger sind aussermusikalische Präferenzen und Werthaltungen oder Musikstile, das Abenteuer einer eigenschöpferischen Kategorienbildung und Hörweise. Er transzendiert jene kontingenten, lebensweltlichen Werthaltungen, indem er sich an der individualisierten Ordnungsidee abarbeitet in der Hoffnung, am Ende in ein wissend erfülltes, im glücklichsten Falle ich-entrückendes Klangerleben freigelassen zu werden. Dass das in der Praxis selten möglich ist, weil die meisten neuen Stücke nach ihrer Uraufführung wieder verschwinden, gehört zu den unlösbaren Selbstwidersprüchen des Neue-Musik-Systems.

In der Praxis führt das die neue Musik unweigerlich in sektenartige Isolation: Niemand wird von sich aus einen komplexen, ergebnisunsicheren und eher Abenteuern als methodischem Training gleichenden Erschliessungsprozess auf sich nehmen. Es sei denn, er verfüge über einen idealistischen (oder eben: utopischen) Willen zur Bildung unserer Verstehens- und Erlebensfähigkeit jenseits lebensweltlicher Gestimmtheits-, Sinn- und Partizipationswünsche. Ein solcher Bildungswille ist, unnötig zu sagen, gerade im Bereich der Musik ein Anachronismus.

Musikalisch Geschulte konnten jahrhundertelang das, was veräusserlichend visualisiert wurde, innerlich aufführen und so das starr Verräumlichte in erlebte Klangzeit zurückverwandeln. Jeder gebildete Zeitgenosse Mozarts konnte dessen Partituren innerlich hörend lesen und spielen. Selbst Richard Wagners Musikdramen wurden noch in allen Salons der bürgerlichen Eliten per Klavierauszug studiert. Doch heute kann kaum jemand eine Partitur B. A. Zimmermanns oder Gérard Griseys lesen, von der Erschaffung eines präzisen inneren Klangbilds nicht zu reden. Für elektroakustische Musik sind allenfalls grafische Behelfspartituren verfügbar, zu Werken etwa mit liveelektronischer Zuspielung meist nicht einmal das. Elektronische Aufführungsaufzeichnungen gleichen den Verlust der verloren gegangenen Re-Internalisierung durch das Partiturstudium nur partiell aus.

Doch selbst wenn eine Verinnerlichung der objektivierten Klangordnung nur noch sehr fragmentarisch und detailarm möglich ist, bedeutet das kein Ende der Werk-Konzept-Utopie und ihrer Bedingung, sich Schritt für Schritt deutend vertraut zu machen mit einem Klang-Individuum, um es unverkürzt ins wiederholbare Erleben zu bringen: Wir können auch von sehr vertrauten Stadtlandschaften, geliebten Menschen oder Gemälden nicht alle Details der Haut, der Proportionen, der Geräusche und Stimmen erinnern oder visualisieren und tragen sie doch in uns, ohne einen Mangel zu fühlen oder ihnen Unrecht zu tun. Was man liebt, will man bei sich, jedoch nicht unter Kontrolle haben.

Der partielle Verlust der Werk-Utopie in der Gegenwart mag in einer Hinsicht sogar heilsam sein: Er lehrt Demut. Gerade weil auch komponierte Individualwerke der Gegenwart, je bedeutender sie sind, umso mehr das der Utopie des komponierten Individualwerkes eigentümliche Verlangen wecken, mit allen Klangereignissen des Werkes durch wiederholende Deutungsarbeit vertraut zu werden, lassen uns viele Werke der Gegenwart wohl oft ganz bewusst die Grenzen unseres Vermögens erfahren, das Individuelle innerlich in Besitz zu nehmen oder auch nur detailliert zu überschauen. Auch das können Weisen sein, Klängen Ehrerbietung zu zeigen.

Im Konzertsaal dürfen wir gleichsam leibhaftig erfahren, dass die abendländische Werk-Utopie dank ihres Grundprinzips der nur durch deutende Wiederholung erzeug- und erschliessbaren, individualisierten Klangordnungsidee Gestalten zu schaffen erlaubt, die durch und durch zu kennen es uns verlangt und die doch unser subjektives Vermögen wohlbedacht transzendieren – und die uns im glücklichen Fall gerade deshalb hörend entrücken.

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