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Knappheit oder Überfluss?

Wie sich die anschwellende Pensionierungswelle auf Arbeitsmarkt und Arbeitsleben auswirken wird.

Wenn es in den Schweizer Medien um den Arbeitsmarkt geht, dominieren zwei entgegengesetzte, gar widersprüchliche Ansichten. Einerseits herrscht die diffuse Angst, dass der technologische Wandel zwangsläufig mit einer Vernichtung von Arbeitsplätzen einhergeht. Andererseits beklagen viele Unternehmen einen permanenten Mangel an Fachkräften, die sich mit der Pensionierung der Babyboomergeneration noch zuspitzen könnte. Nun, was stimmt?

Es lohnt sich, ein paar Fakten zu vergegenwärtigen. Ende 2016 gaben 18 Prozent der Schweizer Unternehmen Schwierigkeiten bei der Einstellung von Fachkräften an; 16 Prozent beklagten einen spezifischen Mangel an Akademikern. Vor zehn Jahren hatten weniger als 10 Prozent der Betriebe entsprechende Rekrutierungsschwierigkeiten. Kürzlich vermeldeten Wirtschafts- und Berufsverbände sogar einen akuten Ingenieurmangel. Es geht aber nicht nur um Spezialisten. Die Gesamterwerbsquote liegt momentan auf rekordhohem Niveau: Im Jahr 2016 nahmen etwas mehr als zwei von drei Personen am Arbeitsmarkt teil. Dieser Anteil hat in den letzten 20 Jahren um 1,4 Prozentpunkte zugenommen, trotz der wachsenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnern. Die um 4,2 Prozent höhere Erwerbsquote von Personen im «erwerbsfähigen Alter» (von 15 bis 64 Jahren) hat die Pensionierungswelle mehr als kompensiert.

Das ist zuerst auf die vermehrte Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen zurückzuführen. Die (etwas) bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber auch das höhere Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes haben dazu beigetragen. Ebenfalls positiv auf die Erwerbsquote der Frauen wirkte sich die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters aus. Dazu kam die Zuwanderung. Seit 1997 wurde eine Million Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen, die Hälfte davon von Ausländern besetzt. Insgesamt hat die Erwerbsbevölkerung in der Schweiz in nur 20 Jahren um mehr als ein Viertel zugenommen. Eine beachtliche Leistung.

All dies spricht nicht für die «Arbeit geht aus»-These. Wer dennoch davon überzeugt ist, dass Maschinen und Roboter die menschliche Arbeit ersetzen werden, sollte sich umso mehr vor seinen Mitmenschen fürchten. Denn was ist ein besseres Substitut für menschliche Arbeit als andere menschliche Arbeit? Die jüngste Entwicklung in der Schweiz (man könnte aber auch weiter in der Geschichte zurückgehen) beweist, dass es keine fixe Menge an Arbeit gibt, die aufgeteilt werden muss. Im Gegenteil: mehr Beschäftigung generiert mehr Einkommen, was eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeit auslöst. Arbeit erzeugt Arbeit, sozusagen.

Es wäre allerdings falsch, die positive Dynamik des Schweizer Arbeitsmarktes als selbstverständlich anzunehmen, Alterung hin oder her. So nimmt der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen laufend zu. Dies könnte auf einen steigenden «Mismatch» zwischen nachgefragten und angebotenen Kompetenzen hinweisen. Davon sind ältere Beschäftigte eher betroffen, da sie in der Regel spezialisierter sind.

In den letzten Jahren mögen aber auch die sogenannten flankierenden Massnahmen (FlaM) zur Personenfreizügigkeit die Funktionsweise des Arbeitsmarktes beeinträchtigt haben. Mit den FlaM hat die Zahl der allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge (GAV) stark zugenommen. Die darin enthaltenen Mindestlöhne erschweren die Integration von Berufseinsteigern und Tiefqualifizierten in den Arbeitsmarkt und leisten Automatisierung und Auslagerung Vorschub. Wenn sie zudem – ähnlich Besoldungsreglementen – Lohnskalen festlegen, die mit der Anzahl Erfahrungsjahre zunehmen, bilden sie neue Hürden für den Wiedereinstieg von älteren Mitarbeitern in den Arbeitsmarkt. So sehr, dass diese im Wettbewerb mit weniger erfahrenen Kandidaten chancenlos bleiben.

Die wichtigste Herausforderung für den Schweizer Arbeitsmarkt der Zukunft wird also nicht so sehr darin bestehen, ob genügend Stellen oder ausreichend viele Aufgaben geschaffen werden können. Roboter hin oder her, die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Vielmehr wird es darum gehen, die richtigen Investitionen in Bildung und Weiterbildung zu sichern und die Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes aufrechtzuerhalten.

Die Digitalisierung – diese wichtige, wenn auch keineswegs einzige Quelle des Strukturwandels – wird der Schweizer Arbeitsmarkt nicht ohne tiefgreifende Veränderungen meistern können. Die Symptome des Wandels sind bereits heute ersichtlich: So hat die Verweildauer im gleichen Betrieb bei den Jüngeren (leicht) abgenommen. Es ist auch nicht mehr unüblich, gleichzeitig für mehrere Arbeitgeber zu arbeiten. Neue, flexiblere Arbeitsmodelle machen sich langsam breit. Dank Technologie ist die Produktion nicht mehr an einem Ort gebunden, Teams werden also ad hoc für ein gegebenes Projekt zusammengesetzt.

Diese Neuerungen beunruhigen die Gewerkschaften, die flexible Arbeitsmodelle als prekär einstufen. Aber sie täuschen sich: Die Hoheit über die eigene Agenda bietet mehr Vorteile für die Arbeitnehmer als für die Arbeitgeber. Letztere bevorzugen grundsätzlich feste Arbeitszeiten; zum einen lassen sich so ihre Angestellten besser kontrollieren und koordinieren, zum anderen sind sie oft an fixe Öffnungs- oder Präsenzzeiten gebunden. Bestimmt, Uber und die anderen Plattformen der Sharing Economy bieten vielleicht nicht die besten Perspektiven für eine Langzeitkarriere. Trotzdem könnten sie eine wichtige Ergänzung sein, insbesondere für Jugendliche und weniger gut situierte Personen.

Anpassungen sind aber auch seitens der Unternehmen fällig. Die Treue der Mitarbeiter ist ihnen nicht garantiert. Viele Junge meiden zusehends Vollzeitstellen. Sie wollen beim Inhalt der Arbeit vermehrt mitreden. Anders noch als die Babyboomer legen sie einen hohen Wert auf «Autorenschaft», wie ihre Faszination für die Start-up-Szene und für Kultfiguren wie Elon Musk oder Steve Jobs beweist. Dafür sind sie bereit, auf Sicherheit und garantierte Lohnerhöhungen zu verzichten. Oder zumindest auf einen Teil davon.

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