Knappes Geld war gestern
Heute können wir es uns leisten, auf Geld zu verzichten. Genau das gefährdet den Wohlstand.
«Gerade in der heutigen Zeit», wird oft und unüberlegt dahingesagt, regiere Geld die Welt und rennten alle mehr denn je dem schnöden Mammon hinterher. Das ist doppelt falsch. Zum einen zeigt der Megatrend hin zur Teilzeitarbeit, dass viele zugunsten von Zeit und Musse, Familie und Freizeit auf Verdienst verzichten können und wollen. Komischerweise wird das sowohl von rechts (die Jungen sind faul!) als auch von links (das können sich nur die Reichen leisten!) kritisiert, statt dass man sich über diesen Beweis unseres breiten und hohen Wohlstandsniveaus freut.
Zum anderen war dies gerade früher anders, als das Einkommen unmittelbarer den Alltag prägte. Wer die vielleicht bekanntesten Sittengemälde der Schweiz im vorletzten Jahrhundert liest, die beiden Uli-Bücher von Jeremias Gotthelf, dem fällt das dominierende Thema praktisch aller Konversationen auf: Reicht das Geld? Nichts treibt die Protagonisten mehr um – ob die Bauern oder das Gesinde, die Jungen oder die Alten, die Versager oder die Helden der beiden Romane. Es sind übrigens fast ausschliesslich Heldinnen, die den Ton angeben und den Karren ziehen, was gleich noch die Mär entlarvt, Frauen seien früher generell unterdrückt gewesen.
Der Grund für diese Entwicklung liegt auf der Hand: Kämpften im vorindustriellen Zeitalter die allermeisten täglich ums materielle Überleben, hat der kapitalistische Wohlstandstsunami die allermeisten so reich gemacht, dass sich jedermann recht sorgenfrei um vieles anderes kümmern kann.
Alles paletti also? Eine Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen: Ist der eigene Verdienst einmal gesichert, wächst offensichtlich die Versuchung, die Sinnhaftigkeit anderswo zu suchen – und immer mehr bei einer antikapitalistischen Rettung anderer, ja der ganzen Welt vermeintlich zu finden. Dabei stellen wir den Wohlstand letztlich zur Disposition, wenn wir ihn als gegeben oder gar als Gegenstück zur Moral, neudeutsch «Purpose», betrachten. Das Geld hat die Schweiz nie weniger regiert als heute – leider.