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Kleine Eiszeiten

«Unmenschlich, die Kälte in diesem Wien», sagt Veronika am Eingang des Kunsthistorischen Museums. «Es ist Winter», entschuldigt sich ihr Mann und hofft, sie würde sich gleich für prächtige Gemälde erwärmen. «Die Kleine Eiszeit – Winterlandschaften flämischer Meister», liest sie über dem Portal des Saals und folgt Heiko, der sich in respektvoller Entfernung zu einem Werk […]

Kleine Eiszeiten

«Unmenschlich, die Kälte in diesem Wien», sagt Veronika am Eingang des Kunsthistorischen Museums. «Es ist Winter»,
entschuldigt sich ihr Mann und hofft, sie würde sich gleich für prächtige Gemälde erwärmen. «Die Kleine Eiszeit – Winterlandschaften flämischer Meister», liest sie über dem Portal des Saals und folgt Heiko, der sich in respektvoller Entfernung zu einem Werk Brueghels des Älteren postiert hat. «Der Jahrhundertwinter von 1565 hat die ersten grossen Schneebilder der Kunstgeschichte inspiriert», lehrt ihn sein Audioguide, dessen Wissen er bereitwillig mit seiner Frau teilt: «Schau dir die Linearperspektive an, siehst du diese phantastische Diagonale!», raunt er, den Sprecher am Ohr. «Ganz vorne in der Mitte natürlich», sagt sie, ebenfalls in einen Hörer horchend, und macht ihren Mann dadurch näher ans Bild treten. «Du hast recht», flüstert er, «es ist die rote Mütze des Bauern im Vordergrund, die im Kontrast mit der weiss verschneiten Umgebung die sphärische Irritation erzeugt!» Halblaut fragt er, was das wohl für Farben gewesen seien,
die Brueghel da so mächtig kombiniert habe, und durchdrückt sein Gerät nach weiteren Auskünften. «Die teuersten natürlich», zischt Veronika in ihr Apparätchen, während Heiko den Freuden des Winters zu lauschen beginnt. «Ganz Holland tummelte sich mit neuen Sportgeräten auf zugefrorenen Grachten, und wer es im 17. Jahrhundert irgend vermochte, liess sich die Erinnerung an den winterlichen Spass bildlich festhalten», erfährt er und weist seine Frau auf das bunte Schlittschuhläufergewusel hin, diesen Querschnitt der Gesellschaft auf der Fläche des Eises. «Hauptsache fern des Pöbels, am besten erster Rang, der Preis spielt wirklich keine Rolle!», drängt Veronika, doch Heiko bedauert, irritiert, dass man sich einen Brueghel nicht leisten könne. «Einen anständigen Opernplatz aber hoffentlich schon noch», bemerkt seine Frau, nennt der Stimme am Ohr Heikos Kreditkartennummer, klappt das Handy zu und lacht: «Così fan tutte!» Etwas Kultur müsse man sich doch gönnen, wo man nun schon mal in dieser Stadt sei, fügt sie an, und bittet um eine Pause im Kaffeehaus. «Tritt man ganz nah ans Bild», zitiert Heiko dort über ein Stück Eistorte gebeugt aus dem Ausstellungskatalog, «erkennt man dessen Hintersinn. Was aus der Ferne als friedvolle Harmonie erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtung als brutales Chaos: Brueghels Eisläufer spielen nicht Haschen, sondern Prügeln; ihr lustiges Miteinander ist bissiger Kampf, ihr behäbiges Idyll nichts als fahler Schein.» Konsterniert beobachtet Veronika, wie der Schaum ihres Milchkaffees in sich zusammensinkt. «Gerade das Eis aber», fährt Heiko fort, «produziert den Schein; es bewahrt, was längst hätte verderben müssen, es lässt zu einer fragilen Tragfläche erstarren, was längst hätte weiterfliessen wollen.» Aufblickend stösst er die Gabel in seine Torte. Da endlich bricht das Eis – klirrend auseinander.

 

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