Klaus Merz 1/2 Gespräch
Werkgespräche // Eine Stafette Wie entsteht ein Buch? Meist wissen wir Leser wenig über seine Entstehungsgeschichte, über das, was den Autor während des Schreibens antreibt, worüber er sich freut und woran er leidet. In den «Werkgesprächen» erzählen Schriftsteller über ihr Schreiben und stellen anschliessend einen Auszug aus einem Text vor, an dem sie gerade arbeiten.
Die Werkgespräche werden in dieser Ausgabe mit Klaus Merz weitergeführt. In der kommenden Ausgabe spricht er, das Staffelholz weitergebend, mit Friederike Kretzen über ihre schriftstellerische Arbeit.
In deinem Erzählband «Am Fuss des Kamels» heisst es: «Wir auf dem Land sind für jedes Motorrad dankbar, das die Stille zersägt und ein bisschen Realität in die Dörfer trägt.» Wir sind hier bei dir in Unterkulm auf dem Land, der Blick geht talaufwärts, ins Weite − Bäume, viel Grün. Was hat die Landschaft mit deinem Schreiben zu tun, ist sie der Teppich des Erzählens?
Es gab so Exkursionen in den Sechziger- und Siebzigerjahren, man pilgerte nach Jammers, nach Schilten, ging langsam auf Amrein zu. Und ich habe immer gedacht, diese Literaturwanderei wird man mit mir nie machen können. Bei mir ist Landschaft eher ein «Vorwand», um von einem
bestimmten Punkt aus abzustossen oder abzuheben. Bis ich mir dann im Laufe der Achtzigerjahre eingestehen musste, dass es auch bei mir ein eigentliches Epizentrum gibt: zeitlich in den Fünfzigerjahren, geographisch gesehen oberhalb von Menziken, auf den Höhenzügen zwischen Schwarzenbach und E(h)rlosen, im Grenzgebiet von Protestantismus und Katholizismus, von Kanton Aargau und Luzern. Mein Vater hat diese Gegend gegen Ende seines Lebens immer wieder umrundet. – Die lange Erzählung «Im Schläfengebiet» ist seinem Andenken gewidmet. Sie schliesst den Band «Am Fuss des Kamels» ab. – Von dieser Gegend aus überblickt man ein grosses Stück Mittelland. Man sieht die Alpenkette, Jura und Schwarzwald, sieht zwei Atomkraftwerke dampfen, schaut auf den Hallwilersee hinunter. Und in der Nacht leuchtet Zürich über den Lindenberg zu uns herüber. Das ist eine geräumige Landschaft mit zuverlässigem Anschluss an die grosse, weite Welt, aufrechterhalten rund um die Uhr durch den filigranen Turm des Landessenders Beromünster.
Die Weite dieser Landschaft ist auch für den Leser ein Wiedererkennen, er kommt in ihr an, schreitet weiter oder stürzt ab in einen der Abgründe, die sich auftun. Denn diese Landschaft hat einen doppelten Boden. Sie ist eine gebrochene Idylle. Mitten in ihre Ruhe fallen sechs Schuss, ruft man zum «Saustich» auf. Passiert dieses Aufbrechen schon in der Wahrnehmung oder erst später im Schreiben?
Ich glaube, die «irritierte» Wahrnehmung ist bereits Teil der Initialzündung zu jeder neuen Geschichte. Mein letztes Buch «Der Argentinier» beispielsweise geht auf eine alte Notiz zurück. Eine Frau erzählte mir von ihrem Vater, der nach Argentinien ausgewandert, dann aber zurückgekommen und Fabrikant geworden sei, wie seine Vorfahren auch. Er hätte zwar stets angedeutet, Tango tanzen zu können, hätte es aber nie unter Beweis gestellt. Fast schon dement, tanzte er dann an der Hochzeit seiner Enkelin doch noch einen Tango, dass den Leute Hören und Sehen verging. Diese Geschichte hatte sich acht Jahre lang in mir bewegt, bis sie dann lange genug durch mich hindurchgesintert war und zum Buch werden wollte. Ich kann nur von dem ausgehen, was ich mir in- und auswendig vertrautgemacht habe, die Abgründe inbegriffen.
Ein Merkmal deiner Arbeit ist, dass die Idylle wohl als gebrochen gezeigt wird, dass sich die Menschen aber in dieser Landschaft auch immer wieder aufgehoben fühlen. Ich denke an Thaler in «Los» und auch an den Argentinier im gleichnamigen Buch.
Dieser Grossvater kommt nach dem Krieg aus einem kaputten Europa nach Südamerika. Es ist ja dann nicht wirklich der Heuschnupfen, der ihn zur Rückkehr zwingt. Dem gehen nur die fröhlichsten Leser auf den Leim. Es ist vielmehr so, dass er dort keine andere, neue Welt findet. Daher kommt er zurück und baut sich selbst eine eigene, auch geistige Welt auf. Und er stellt sich der «Arbeit der Liebe» mit seiner Amelie.
Viele deiner Texte können auf eine Notiz zurückgeführt werden. In «Latentes Material» sind es die Aufzeichnungen des Photographen, in «Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein?» die Diktate von Dubois, der «Argentinier» beginnt mit einem Bild, einer Photographie. Ein Einfall, der das Buch durchträgt. Steht am Anfang deiner Texte eine Notiz oder ein Bild, eine Wunde?
So ist es. Oder eine Leuchtstelle, die den Glanz behalten hat – unter all den lebenslangen Notaten, die ich eher selten und eigenartig unwillig jeweils wieder «konsultiere».
Sind diese Notizen auch Haltepunkte in gewissen Momenten, Möglichkeiten des Überlebens? Ich denke wieder an deine Romanfigur Dubois, der mit inneren Verletzungen auf der Notfallstation liegt und sagt: «So lange ich diktiere, bin ich unverletzbar.»
Ja, schreiben oder diktieren als Spurensicherung. Spuren sichern, um zu schauen, wohin es mit einem geht. Mit 24 Jahren habe ich einen Mann in mein Notizbuch gezeichnet, der ein Holzbein hat. Aber dieses Holzbein ist ein Bleistift. «Am Schreiben gehen», hat Paul Nizon Jahre später für sich formuliert.
Es fällt bei dir auf, dass aus der Notiz nie eine banale Geschichte wird. Zur ersten Schicht der Notiz kommt eine zweite hinzu, in der das Notieren reflektiert wird, etwa bei Thaler in «Los», der selber schreibt und auch noch einen Erzähler erhält. Das führt zu einer dritten Schicht, in der das Dargestellte auch wieder in Frage gestellt wird, indem es nur eine Möglichkeit, eine Fiktion und damit ungesichert ist. Wie bei einer Zwiebel, von der der Leser eine Schicht nach der anderen ablöst. Das heisst, vom Notat zum erzählten Text passiert etwas, kannst du dazu etwas sagen?
Darf ich es wieder am letzten Buch aufhängen? Die erste «Fassung», die ich vom Argentinier schrieb, war nur eine Seite lang. Doch am nächsten Tag habe ich weitergebaut, zwiebelmässig eben, und immer besser gespürt, dass das ein grösserer Stoff ist.
Ein Stoff, der öffnet. Es gibt Texte, die schütten meine Phantasie als Leser zu, deine Texte öffnen.
Ich schreibe wohl, wie man Kupfer treibt. Immer ein bisschen weiten, weiten. Immer nahe am Material. Ich lasse auch keine Sätze raus, die sich nicht schon zuvor in mir gesetzt haben. Deshalb verändert sich von Fassung zu Fassung oft nur wenig. Beim «Argentinier» beschäftigte mich die Frage, wie ich diesen Johann Zeiter in einem indirekten Licht und dennoch unmittelbar erscheinen lassen könnte. Dafür konnte ich ihn nicht schon fünfzehn Jahre tot sein lassen. Denn das milde Licht, das auf einem frischen Toten liegt, muss noch da sein: unter diesem Vorzeichen erzählt die Enkelin die Geschichte ihres Grossvaters einem Freund, der dann später als eigentlicher Erzähler im «Argentinier» auftritt. Und während Lena erzählt, entspinnt sich, sozusagen unterschwellig, wiederum eine zarte Liebes- oder mögliche Lebensgeschichte zwischen diesen beiden jungen Menschen.
Man könnte sagen, es sei eine Schachtel und in dieser noch eine Schachtel und noch eine… und diese Mehrschichtigkeit wird durch gebrochene Perspektiven erreicht oder gar durch einen Perspektivenwechsel.
Ja, so wie der Grossvater einst über seine Stiefel und in eine unverhoffte Beziehung hineinstolperte, als seine Tänzerin sagte, «Du bist der Goucho, führe mich», so fühlt sich auch der Erzähler am Schluss des Buches von Lena buchstäblich «in Pflicht genommen», als diese «Tango!» in den Saal hinausruft und den Erzähler am Ärmel packt. Es ist die Wiederholung des alten Satzes. – Wenn man meine schmalen Bücher langsam genug liest, müsste man dies alles schon mitkriegen. Ich möchte möglichst nichts zerreden.
Beim Lesen bewundere ich, dass dahinter ein Vertrauen von dir als Autor steht: mein Bild, so wie ich es gesehen habe, stimmt. Ich nenne ein Beispiel: der Photograph in «Latentes Material» schreibt in seinen Notizen vom «retardierenden Blick», der so genau sein müsse, dass nichts mehr erklärt zu werden brauche. Es entstehen Bilder, die einzigartige Momente festhalten. Etwa in der «Obligatorischen Übung», wo die beiden Protagonisten tanzen: in dem Moment, in dem ihre Blicke sich treffen, fallen sie aus dem Takt. Schon hier, wie dann auch im Argentinier, eine Klassenzusammenkunft. Hat das auch damit zu tun, dass in der Gegenwart dieser Klassenzusammenkunft quasi eine Vergangenheit präsent wird?
Stimmt. Spuren, die man zu kennen meint, laufen hier zusammen. Und es kommt zu einer neuen, auch nur behaupteten Gegenwart für eine Weile; das ist äusserst spannend. Aber ich verstehe gut, dass es Leute gibt, die sagen, da gehe ich nie hin, dem setze ich mich nicht aus.
Auch Lebenslügen. – Du nennst den Erzähler in «Latentes Material» auch Lichtschreiber. Da grüsst Kleists Schreiber Licht. Einer, der Licht in die Sache bringt. Ist Erzählen auch eine Form von Erhellen, Licht in die Sache bringen? Darf man das so wörtlich nehmen?
Um das Sichtbarmachen geht es mir schon. Um das Helle gar im Sinne von Heiterkeit. Wenn auch oft wider besseres Wissen; denn ich möchte mich nicht nur im Finstern suhlen.
Helligkeit in der Dunkelheit. Das fällt auf, gerade wenn ich an «Jakob schläft» denke, diese Geschichte, die mir jetzt beim Wiederlesen wieder unter die Haut ging. Da ist viel Tragik drin, da sind auch Lebenstragödien erzählt. Mir fällt auf, dass du die Wucht dieser Tragödien abfängst, nicht im Sinne einer billigen Tröstung, doch so, dass der Leser davon nicht erschlagen wird. Er erfasst diese Tragik zwar, aber so, dass er mit einer tröstlichen Gelassenheit aus dem Buch hinausgehen kann. Und ich frage: Hat das mit deiner Sprache zu tun, mit deinem Temperament, mit deiner Haltung zum Leben?
Ich glaube, es hat etwas mit der Einübung ins Leben zu tun. Mit diesen ersten fünfzehn bis zwanzig Jahren. «Jakob schläft» liegt nah an meiner Biographie. Ich habe das Buch erst mit fünfzig geschrieben, aus grosser Distanz. Mit fünfundzwanzig wäre es vermutlich ein Lamento geworden. Jetzt sind sie alle tot, meine Schmerzensleute. Doch wie sie mit dem Schmerz und der Krankheit umgegangen sind, das war widerständig. Das Zentrale war wohl, dass unsere Familie eine Art von Wärmekraftwerk war. Man hätte dort ja auch erkalten können. Aber – wir hatten einander ja gern. Wir vier und der tote Jakob, der auch immer irgendwie dabei war. Unsere Familie war in ihren besten Zeiten ein Widerstandsnest gegen den Schmerz und gegen die Fatalität. Mutter hat über Gummistrümpfe und eingebundene Beine auch mal die Pumps angezogen und ist durch Luzern balanciert. Auch bei Vater gab es diesen Widerstand. Vielleicht zu selten. Ich habe gespürt, die Kräfte reichten einfach nicht aus. Zwischen meinem fünfunddreissigsten und zweiundvierzigsten Lebensjahr sind dann alle gestorben: Mutter, Bruder, Vater. Dann war ich plötzlich ohne Last. Das war dann das schwierigste.
Mir geht das sehr nahe. In meiner Familie war auch einiges an Tragik. Doch so ein Wärmestrom war nicht vorhanden. Jeder war einsam für sich und hat gelitten. Wenn ich dich erzählen höre, wird mir bewusst, dass in meiner Familie nichts von diesem trotzigen Dennoch zu finden war. Ich habe ein Bild aus deiner Familie in Erinnerung. Deinen Bruder Martin habe ich noch gekannt − nicht nur über seine Gedichte − und ich habe erlebt, wie er mit zwei Fingern auf die Maschine eingehackt hat. Das war eine eindrückliche Geste, dieses trotzige Dennoch. In «Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein?»» kommt das Alter Ego deines Vaters vor, der erzählt. Im Erzählen des Vaters, im Tippen des Bruders, sehe ich eine Form von Widerstand gegen die Umstände oder ein Schicksal, gegen das, was einem da aufgegeben ist.
Man muss sich ja auch immer wieder neuerfinden, muss abstossen. Das tat mein Vater mit einer Handvoll Geschichten, die er alimentierte, nährte, aber nicht schrieb. Einige Geschichten, die mir damals erzählt worden sind, gehören zu meinem Grundstock, sie führten mich zur Sprache, zur Sprache als Vehikel, um das Leben zu durchmessen. Und das Credo vom Erzählen und Erzählenlassen, ist wohl wirklich das A und das O unter unseresgleichen. Erzählenlassen heisst ja auch zuhören, aufeinander hören. Das hat dir vermutlich gefehlt.
Bei uns herrschte in der Tat Schweigen, Stummsein. Dein Vater hingegen hat erzählt. Kannst du dich erinnern, wann du dir gesagt hast: Ich greif’ zum Stift?
Das war ganz klar im ersten Seminarjahr. Erstens kam ich da weg von zuhause. Ich wusste nicht, ob ich das aushalten würde. Und dann bin ich irgendwie dort doch angekommen. Wir waren zu dritt im Zimmer. Ich war noch sehr verbunden mit meinem kranken Bruder. Da nahm der Deutschlehrer zuerst moderne Literatur mit uns durch: Borchert, Bachmann, Eich, Celan. Später das «Marionettentheater» von Kleist oder den «Chandos-Brief» von Hofmannsthal. Das waren für mich neue, brauchbare Ausgangspunkte. Ich begann Gedichte zu schreiben. Habe gemerkt, dass das eine Möglichkeit ist, mich der Welt gegenüber zu verhalten und mich in ihr zu bewegen. Mit achtzehn habe ich Erika Burkart kennengelernt. Eines Tages sagte sie zu mir: Du bist ein Dichter. Ich errötete, wie die Maus Frédéric in der Kindergeschichte.
Wenn einer einem zutraut, dass man es kann, dann glaubt man es auch.
Wahrscheinlich hat mich das letztlich gar davon abgehalten, Germanistik zu studieren. Und von da an habe ich immer geschrieben. Immer sparsam. Immer knapp. Schon die Aufsätze bei Lehrer Vogelsang, da hiess es immer: Gut, sehr gut, aber zu kurz. Denn ich habe immer schon «einzukochen» versucht, eine halbe Seite, höchstens anderthalb.
Aber er hat doch festgemauert, was ein guter Aufsatz zu sein hat.
Er hat mir auch Mut gemacht. Und hat mir mit Handwerkszeug die Tür geöffnet.
Was war bei dir zu Hause vorhanden, das dich hätte zum Schreiben bringen können?
Es gab ja die Büchergilde Gutenberg. Und da ich oft krank war, habe ich viele ihrer Bücher gelesen: Tolstoi, Dostojewski, die Franzosen, die ersten erotischen Romane, Keller, Gotthelf. Wir haben zu Hause auch immer zusammen Hörspiele gehört.
Ein Satz von dir aus frühen Jahren, der mir in Erinnerung geblieben ist: «Den Tod büsst man lebend ab.» Ist Schreiben letztlich auch Auflehnung gegen Vergänglichkeit und Tod, gerade wenn ich an viele deiner Figuren denke, ich erwähne Dubois, ich denke aber auch an deinen Bruder?
Das ist mir ein wichtiger Satz. Von wem? Ich glaube, er stammt aus einem Gedicht der Sechzigerjahre. Ja, wenn ich Lebensnähe suche, dann ist auch die Todesnähe nie weit. Leben und Tod sind alte siamesische Zwillinge, unsere Existenz ist perforiert: gut, einverstanden. – Doch dann bekommt man Enkel, und die Angst vor den Abgründen, von denen die Kinder umstellt sind, ist erneut wieder da. Wir werden die Schatten nicht los.
Da sind dann auf der Gegenseite die Momente des Glücks. «Diese Zuversicht gestern, / als der Himmel / so blau war / und sich die Häuser / auf der flachen Hand / balancieren liessen.» Dieses Gedicht trägt den Titel «Glück». Und zum Glück gehört die Selbstvergessenheit… Ich denke an das Paar, das im Augen-Blick beim Tanzen aus dem Takt fällt. Und da kommt Zuversicht auf, auch für den Leser.
In «Jakob schläft» fällt der Vater hin an einem Sonntagmorgen, weil er einen epileptischen Anfall hat. Und als dann alles vorbei ist, ordnet er seine Kleidung und zieht das Béret in die Stirn, schneuzt sich ins Sonntagstuch. Und dann sagt Lukas: Wir traten in den hellsten Morgen hinaus, den ich je erlebt hatte. Der Vater hatte ihn um die Schulter genommen und nach dem Kinderwagen des Bruders gegriffen. Ich halte auch meinen (dunklen) inneren Zuständen oft die Literatur entgegen und behaupte einfach, das Gegenteil sei auch wahr, wenigstens zeitweise.
Du hast als junger Mann mit Lyrik begonnen, hast dann Prosa geschrieben, bist aber immer wieder zur Lyrik zurückgekehrt. So auch jetzt. Nachdem die Polonaise des Argentiniers ausgeklungen ist, legst du nun in deinem nächsten Buch wieder Lyrik vor.
1972 erschien bei Artemis mein dritter Gedichtband «Vier Vorwände ergeben kein Haus». Danach habe ich begonnen, Prosa zu schreiben. Hans Boesch warnte mich damals davor, das Gedichteschreiben «unter der Hand» zu verlieren. Und tatsächlich war es so; bis in die Achtzigerjahre hinein schrieb ich nur noch Prosa, bis zum Gedichtband «Landleben» von 1982. Hier ist mir erstmals eine Sprengung meiner kurzen Gedichtformen gelungen durch das titelgebende Langgedicht «Landleben», eine Art Ballade. Und meine Lyrik ist wohl prosaischer geworden. Ich habe von da an stets versucht, beide Gattungen im Auge zu behalten. 1985 erschien der Band «Bootsvermietung», eine Mischung aus Prosa und Gedichten. – Und die wichtige Zusammenarbeit mit dem Maler Heinz Egger begann, die bis heute ungebrochen fortdauert. – Die Gedichte, die nächstes Jahr im Herbst herauskommen, sind im Lauf der letzten zehn Jahre entstanden. Auch Gedichte brauchen viel Zeit, um bei sich selbst anzukommen.
Wie ist das eigentlich bei der Lyrik? Wird da auch lektoriert?
Bei mir wird nicht viel lektoriert, auch bei der Prosa nicht. Ich drehe jedes Wort, jeden Satz oft hin und her. Meine Frau ist meine erste wichtige Leserin. Mit einem grossen Gespür für die wunden Stellen. Und dann gibt es auch den einen oder anderen Freund, Literaten zumeist, die hineinschauen und kritisieren.
Da wir gleich noch essen gehen werden, reden wir doch zum Schluss noch über das Essen. Im Nachbartal, wo ich aufgewachsen bin, gab es eine einfache Spezialität «Schnitz und Drunder». Gibt es dieses Menu im Wynental, also auf der anderen Seite des Böhlers, auch?
Ja, aber es ist etwas in Vergessenheit geraten. Was mir vermutlich von meiner Herkunft her als Bäckerssohn aber bis heute fast heilig ist, kulinarisch, sind die Kuchen: Käse-, Spinat-, Speckwähen. Und zum Nachtisch Aprikosen-, Kirschen-, Rhabarberkuchen. Sie halte ich hoch, immer freitags.
Werke u.a.:
«Der Argentinier» (2009)
«Der gestillte Blick» (2007)
«Los» (2005)
«Priskas Miniaturen» (2005)
«Adams Kostüm» (2001)
«Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein?» (1998)
«Jakob schläft» (1997)
«Am Fuss des Kamels» (1994)
alle Bücher bei Haymon, Innsbruck
Auszeichnungen u.a.:
Aargauer Kulturpreis (2005)
Werkpreis der CH-Schillerstiftung für «Los» (2005)
Gottfried-Keller-Preis (2004)
Hermann-Hesse-Preis für «Jakob schläft» (1997)
Solothurner Literaturpreis (1996)
Foto: S.-V. Renninger
Klaus Merz wurde 1945 in Aarau geboren. Er lebt als freier Schriftsteller im aargauischen Unterkulm.
// In der kommenden Folge der «Werkgespräche» spricht Klaus Merz mit Friederike Kretzen.
Bisher erschienen:
// Urs Faes: Werkgespräch mit Suzann-Viola Renninger; Auszug aus «Nachzeit» (Ausgabe 970, Juli 2009)