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Keramische Überraschungen

Künstlerkeramik von Picasso bis Penck im Bellevue

Nicht umsonst heisst der Titel der derzeitigen Ausstellung im Museum Bellerive «The Unexpected». Die aus der Sammlung des Museums Het Kruithuis, des städtischen Museums für Gegenwartskunst im niederländischen `s-Hertogenbosch stammenden Keramiken sind Stück für Stück wahre Wunder in Ton: Viele bedeutende Maler des 20. Jahrhunderts hatten irgendwann Phasen, in denen sie in Ton arbeiteten, um die Erfahrung der mehrdimensionalen Gestaltung machen zu können.

Am Anfang der heute weltweit bekannten Spezial-Sammlung des Kruithuis stand die 1954 geschaffene «Vase Femme». Brillant verwendet Picasso hier die Krugform zur Gestaltung eines Frauenkopfes und modelliert den Krughenkel zum Haarschopf. In einer ebenfalls aus 1954 stammenden, nur 16 Zentimeter grossen Schüssel setzt der Künstler den Hohleffekt perspektivisch um: Die Stierkampfszene auf dem Boden des Gefässes wird von der Arena und einem Horizont samt brennender Sonne umrandet; der Betrachter erlebt sich als Teil der Szene. Auch das erst kürzlich erworbene Sammlungsobjekt aus dem Nachlass von Marc Chagall, eine Keramikvase «Femme et Fleurs» von 1962, ist in Zürich zu sehen. Hier macht die Vereinigung des Piktoralen mit dem Skulpturalen Chagalls Menschen und Fabelwesen fassbar.

Die in Zürich gezeigten Werke lassen sich in drei Gruppen einteilen: Die Klassische Moderne wird neben Picasso und Chagall von Künstlern wie Cocteau, Mirò, Dufy und Braque vertreten. Die zweite Gruppe ist die zwischen 1948 und 1951 gegründete internationale Künstlergruppe COBRA, zu der unter anderen Karel Appel, Asger Jorn und jener zählen, der sich nur Corneille nennt. COBRA (Copenhagen/Brüssel/Amsterdam) wollte nach dem Trauma des Zweiten Weltkrieges zu Neuem aufbrechen, war Experimenten gegenüber aufgeschlossen und interessierte sich deshalb auch für das «arme» Material Ton. Spontane, «kindliche» Zeichnungen waren charakteristisch für den Kreis, der damals stark polarisierte. Die dritte Gruppe schliesslich umfasst zeitgenössische Künstler wie Jan van den Dobbelsteen, Bruce McLean, Alphons Freijmuth und A.R. Penck, ein Pseudonym, das sich Ralf Winkler zur DDR-Zeit zulegen musste. Diese dritte Gruppe ist zwar stark von den ersten beiden Gruppen beeinflusst, geht aber auch ganz neue und experimentelle Wege.

Freijmuths grob geformte Verbindung zwischen Skulptur und Vase «Der Schrecken» suggeriert eine Gestalt, die an Edvard Munchs «Der Schrei» erinnert. Jan van den Dobbelsteen bricht mit seiner Installation «Glücksallee» radikal mit den Konventionen einer traditionellen, am ausgefeilten Handwerk orientierten Keramik. Wie Kurator Peter Stohler feststellt, verstösst Dobbelsteen gegen alle Regeln der Handwerkskunst, wenn er anstelle von perfekten Formen, Glasuren und subtilen Nuancen die aufgereihten Gefässe so bemalt, dass er ungewöhnliche, barocke Oberflächen-Schaueffekte erzielt, wie sie auf Keramikgefässen kaum zu erwarten sind.

Die Grenzen zwischen den Disziplinen sind heute fliessend geworden. Das Museum Het Kruithuis bietet deshalb immer wieder jungen Künstlern Gelegenheit, in einer ihnen zur Verfügung gestellten Werkstätte selber mit Keramik zu experimentieren. So wird sichergestellt, dass bewusst an dieser «Extra-Dimension» weitergearbeitet wird, was zu einem neuen Oeuvre führt und damit die Einmaligkeit der bestehenden Sammlung auch für die Zukunft gewährleistet. Zur Zeit schätzt sich das Museum Bellerive glücklich, noch immer in der Lage zu sein, hochkarätige Ausstellungen zu präsentieren. Die Zukunft des Museums ist jedoch durch rigorose Sparmassnahmen bedroht. In eigener Sache ist deshalb am Rande der Keramikexposition eine Ecke eingerichtet, wo unter dem Titel «Le grand vide» auf ein mögliches Ende aufmerksam gemacht wird.

Die Ausstellung «Künstlerkeramik des 20. Jahrhunderts» im Museum Bellerive, Zürich, dauert noch bis zum 4. Januar 2004.

Die Juristin Juliana Schwager-Jebbink lebt in St. Gallen.

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