Keine Angst vor Kontrollverlust
Statt jedem Shitstorm auszuweichen oder Redaktionen steuern zu wollen, sollten sich Unternehmen darauf konzentrieren, nachhaltig Wert zu schaffen. So stellt sich die gute Reputation von alleine ein.
Die Medienlandschaft befindet sich im Umbruch. Neue Informationsplattformen, der Trend zu kostenloser Information und ein sich veränderndes Konsumentenverhalten zwingen klassische Medienhäuser, sich in der digitalisierten Welt neu zu orientieren und zu definieren. Covid-19 und sinkende Werbeeinnahmen beschleunigen ihre Transformation zu digitalen Medien. Werbebudgets werden zunehmend auf international ausgerichtete Plattformen wie Facebook oder Google verlagert.
Fragen tauchen dabei auch auf für die Entscheidungsträger in Unternehmen und Organisationen: Sinkt der Einfluss der klassischen Medien auf politische, gesellschaftliche und unternehmerische Entscheide? Werden die Meinungen zukünftig in den sozialen Medien gebildet? Worauf sollen wir kommerziell, aber auch informationsseitig setzen? Gewinnen oder verlieren wir an Einfluss in der neuen Medienwelt? Wer ist künftig in Besitz der Deutungshoheit?
Der Wunsch nach Kontrolle
Unternehmen streben generell danach, die eigene Kommunikation zu kontrollieren. Die sozialen Medien lassen das aber nicht zu, denn Einwegkommunikation funktioniert auf den offenen Plattformen nicht. Stattdessen wird ein aktiv geführter und zeitnaher Dialog erwartet, was die Führungskräfte vor neue Herausforderungen stellt. Sie müssen Kommunikationsaufgaben delegieren und ihre Mitarbeiter entsprechend ausbilden.
Die aktuelle Diskussion um die Sperrung von Inhalten und Konten auf sozialen Medien oder um Editierschlachten auf offenen Plattformen wie Wikipedia betrifft nicht nur Politiker. Auch Unternehmen sollten sich darüber im Klaren sein, dass es nie das erste und einzige Ziel sein kann, Kontrolle über die Kommunikation zu erlangen. Der Fokus jeder Kommunikationsarbeit muss darin liegen, treffende Botschaften zu vermitteln, mit starken Argumenten zu überzeugen und die Zielgruppen zu überzeugen. Dies gilt unabhängig der künftigen Entwicklungen und der Frage, ob soziale Medien und Informationsplattformen stärker reguliert werden müssen.
Meinungsbildende klassische Medien lassen sich ebenso wenig kontrollieren oder steuern wie soziale Medien. Die Versuche, Redaktionen über monetäre Aspekte zu steuern, gelingen selbst in Zeiten einer verstärkten Kommerzialisierung nur bedingt. Auch wenn neue, semikommerzielle Formate entstehen, die bisher feste Grenzen zwischen Redaktion und Verlag aufweichen, können Medien nur begrenzt «gekauft» werden. Zumindest bei den Qualitätsmedien bestehen heute zu Recht noch klare Vorgaben, wie kommerzielle Beiträge deklariert werden müssen.
Bei harten Auseinandersetzungen kürzen Entscheidungsträger in Organisationen gerne die Werbebudgets für Medienpräsenz. Es ist keine neue Praxis; bereits im März 1979 entzog Walter Frey dem «Tages-Anzeiger» die Inserate. Verlagsboykotte folgten von Globus 1980, Migros 1987, Denner 1994, Toyota 2002. Der Entzug von Werbegeldern lässt sich jedoch langfristig nicht aufrechterhalten. Spätestens bei einem Managementwechsel entkrampfen sich solche Machtkämpfe.
Die Angst vor negativen Schlagzeilen
Unternehmen fürchten sich vor kritischen Berichterstattungen. Analysiert man beispielsweise die Berichte und Kommentare im vergangenen Jahr zum Thema «Mohrenköpfe», so ist festzustellen, dass die Deutschschweizer kein Problem mit der traditionellen Produktbezeichnung hatten, weder auf den Medienplattformen noch in den sozialen Medien. Laut Befragungen auf den grossen Schweizer Onlineplattformen wünschten sich zwischen 85 und 96 Prozent der Konsumenten, die Produktbezeichnung «Mohrenkopf» beizubehalten. Trotzdem nahm die Führung der Migros das populäre und gefragte Produkt im Juni 2020 kurzfristig aus dem Regal. Das Vorgehen stand klar im Widerspruch zum Interesse der Kundinnen und Kunden. Weshalb sind die Entscheidungsträger der Migros dem Kundenwunsch nicht gefolgt und weshalb handelten sie so rasch? War es die Angst vor einem Shitstorm?
In den klassischen Medien wurde kolportiert, dass die Entrüstung in den sozialen Medien über eine nicht mehr zeitgemässe Produktbezeichnung zum Entscheid beigetragen habe. In der Tat war es nur ein einziger Eintrag auf Twitter, der den Stein ins Rollen gebracht hatte. Dennoch lautete die Einordnung der Massenmedien am Ende, die Migros habe auf einen Shitstorm reagiert – gestützt auf die Unternehmensmeldung, die auf Twitter wie folgt verbreitet wurde: «Wir haben uns dazu entschieden, das Produkt aus dem Sortiment zu nehmen. Die aktuelle Debatte hier hat uns dazu bewegt, die Situation neu zu beurteilen. Dass dieser Entscheid ebenfalls zu Diskussionen führen wird, ist uns bewusst.» Es waren in diesem Fall nicht die Debatten, die den Entscheid herbeigeführt hatten, sondern die Einschätzung von Migros und klassischen Medien.
Der Fall ist nicht einzigartig. Immer wieder sind es Schlagzeilen der Medien, die Medienabteilungen, Rechtsdienste, Governance- und Complianceverantwortliche zu raschen, wenn auch nicht immer klugen Handlungen bewegen. In den Geschäftsleitungen werden Überschriften sehr ernst genommen. Die Aussage «Das gibt eine dicke Headline» ist immer noch ein Killerargument auf der Teppichetage. Gerade in Drucksituationen tendieren Führungskräfte dazu, die eigentlichen unternehmerischen Aufgaben und Ziele aus den Augen zu verlieren.
Unternehmerischer Mut und Klartext
Auch wenn ein Thema in den sozialen Medien aufkommen kann, haben die Medien bei den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft immer noch ein grosses Gewicht. Es geht dabei nicht nur um die Frage der Reichweite, sondern auch um die Bedeutung der Einordnung und der Erwartung, dass sich die klassischen Medien stärker der Wahrheit verpflichtet haben. Reputation ist wichtig, und ja, sie entsteht auch über die Medien. Dennoch darf es nicht darum gehen, geschmeidig jeder Konfrontation auszuweichen, den Journalisten in jeder Lage gefallen zu wollen, oder darum, Schlagzeilen zu vermeiden. Es geht darum, nachhaltig und verantwortungsvoll Wert für das Unternehmen zu schaffen. Eine gute Reputation kann dazu beitragen.
Medienvielfalt ist eine wertvolle Errungenschaft. Sie garantiert, dass sich Fake News, Hoaxes, aber auch Kampagnen- oder Thesenjournalismus eingrenzen lassen. Zu einer gesunden Medienlandschaft zählen neben den privaten Qualitätsmedien auch staatliche Medien und Nachrichtenagenturen, welche daran zu messen sind, ob sie den journalistischen Kodex beachten, also der Korrektheit, Fairness und Ausgewogenheit verpflichtet sind.
Führungskräfte und Entscheidungsträger tun gut daran, sich in der sich verändernden Medienwelt immer wieder neu zu orientieren und die gebotenen Chancen zu nutzen. Dazu zählt auch, Klartext zu sprechen und Negativberichte im Interesse einer übergeordneten Strategie sowie der unternehmerischen Zielsetzungen in Kauf zu nehmen und nicht dem Wunsch zu verfallen, allen und immer gefallen zu wollen.