Kein Roman, sondern ein Phänomen
Wei Zhang: Satellit über Tiananmen.
Die aus China stammende und seit 1990 in der Schweiz lebende Schriftstellerin Wei Zhang hat mit «Satellit über Tiananmen» etwas geschaffen, das weit mehr ist als ein Buch. Die Geschichte des «Harmoniedorfes» und seiner Bewohner im übergrossen Schattenwurf der Hochöfen von Dongshan-Stahl und des «Grossen Sprungs nach vorne» ist fiktiv, real und symbolisch zugleich. Ein Kondensat liebevoll, zauberhaft und humorvoll gezeichneter Lebensweisheit und Menschentorheit. Fast kindlich tritt die bunte Landschaft des Alltags und Denkens der Leute an den Leser heran und hat es doch zu keinem Zeitpunkt nötig, das ganz «Erwachsene» der jedem totalitären System innewohnenden Abgründe der Korruption, des Neids, der Unaufrichtigkeit, der Härte und der Armut zu verhehlen.
Das Harmoniedorf besteht aus einer einzigen Strasse – der Neubergstrasse. Eingebettet zwischen den zerfallenden Villen der Altbergstrasse, wo die neuen Klassenfeinde von Wolke sieben direkt ins solidarische Fegefeuer gestürzt sind, und der oberen Ringstrasse, in welcher die Kader, die politisch absolut Makellosen residieren, lebt in den vier Häusern der Neubergstrasse auf 15 Quadratmetern pro Familie die neue gesellschaftliche Elite: die befreite Arbeiterklasse unter der Führung der pausbäckigen, oft unter viel bösem Qi leidenden Parteisekretärin Grossmutter Guo, die im Schlingerkurs zwischen menschlicher Unvollkommenheit, Kreativität und Mangelwirtschaft ihren ganz eigenen Weg an den Ort zu finden sucht, wo der «Grosse Sprung nach vorne» als sanfte Landung im kommunistischen Paradies oder als Absturz in der Wirklichkeit ökonomischer und sozialer Fundamentalgesetze enden wird.
Erzählung wie Sprache sind auf das Wesentliche angelegt, dicht und von einer Authentizität, die es erlaubt, das Buch als bunt bebilderte, märchenhafte Geschichte – auch für Kinder – zu lesen, aber auch als die gerade heute wieder drängende Frage nach Segen und Zerstörungspotenzial von Sozialklempnerei und Weltgestaltungsfantasien. Ein im besten Sinn merkwürdiger Roman, der auf mich jenen seltenen Reiz ausübt, ihn wieder zu lesen. Und wieder. Weil es viel mehr ist als lesen – man lebt in und mit dieser Geschichte wie in einem Land.