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Kein kaltgestellter Frosch

Der Künstler Raoul Marek

Kein kaltgestellter Frosch

«Virtuoses Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpf desperieren.» Mit diesem Satz erledigte Friedrich Nietzsche das «l’art pour l’art». Raoul Marek, selbst kein solcher Frosch, verknappt dies zum Verdikt: «Bloss keine kunstimmanente Kunst!» Der aus Bern stammende Künstler spottet gern über Kunst, die sich nur um sich selbst dreht und Galeriewände schmückt, vor denen sich unter zustimmendem Gequatsche und Gequak ein Kreis von Eingeweihten sammelt. Kunst – das ist seine Überzeugung – sollte aus «einer gesellschaftlichen Perspektive» heraus handeln und der Ästhe­tik kein uneingeschränktes Vorrecht vor der Funktion einräumen. «Kunst ist nicht zur Dekoration da», sagt er streng, «sondern auch, um sich gesellschaftlich einzumischen.»

Sein Anspruch ist eindeutig, die Umsetzung vielfältig. So vielfältig, dass seine künstlerische Handschrift nicht ohne weiteres gleich zu erkennen ist. Kennt man einen Marek, dann kennt man sie noch lange nicht alle. Raoul Mareks Kunst mag vordergründig aus nichts als einem Werbeplakat bestehen. Oder aus Tellern und Weingläsern. Oder aus kunstvoll in- und übereinandermontierten Fotografien. Oder aus einer Zeichnung, fast wie von einem Kind. Und die Ausstellungsorte? Raoul Mareks Kunst braucht – er wäre kein Künstler, würde es nicht auch Ausnahmen geben* – ­öffentliche Räume und öffentliche Anteilnahme. Dann wird sie interessant.

Wenn ein Kunstwerk eine gesellschaftliche Funktion erfüllen soll, dann muss der Künstler die gesellschaftlichen Anliegen aufspüren. Rumlungern etwa wie ein Privatdetektiv an Orten, an denen er eigentlich nichts zu suchen hat. Oder wie ein Sozialwissenschafter mit Protokollbogen recherchieren. Beides ein bisschen war Raoul Marek, als er von einem Krankenhaus eingeladen wurde, Kunst herzustellen. Vermutlich erwarteten die Verantwortlichen eine Bilderserie, mit der sie einen der langen Flure schmücken könnten, oder eine Skulptur, die sich in der Eingangshalle gut machen würde. Doch der Künstler ersuchte um die Erlaubnis, zwei Wochen an allen Sitzungen teilzunehmen, alle Räume zu betreten und mit allen Menschen – Patienten, Personal, Besuchern – zu sprechen. Irgendwann während dieser Zeit kam er mit der Angestellten ins Gespräch, die in einem tristen Kellerraum das Zimmer mit den persönlichen Gegenständen der verstorbenen Patienten betreute. Sie sammelte Dinge wie die Armbanduhr, die Lesebrille, die Zahnbürste oder Wäsche jeweils in eine graue Plastiktasche, die dann den Angehörigen des Verstorbenen übergeben wurde. Gingen die Plastiktaschen aus, dann nahm sie Mülltüten, optisch machte das ohnehin kaum einen Unterschied. Raoul Marek hatte sein Thema gefunden.

Er schuf die Mondtaschen – Papiertüten, wie wir sie vom Einkaufen kennen, die auf der einen Seite einen abnehmenden Mond vor blauem Hintergrund, auf der anderen Seite einen zunehmenden vor gelbem Hintergrund zeigen, Symbol für den ewigen Zyklus von Geburt und Tod **. Die Mondsichel wählte er, weil sie sprach-, kultur-, religions- und bildungsübergreifend ist, so demokratisch wie der Tod eben auch; auf dem Sterbebett landen wir früher oder später alle. Eine freundliche Papiertasche statt Mülltüten: es ist nur eine Kleinigkeit. Doch wenn Kultur etwas ist, das die Gesellschaft menschlicher macht, dann haben die Mondtaschen ihre Aufgabe erfüllt. Deutsche Krankenhäuser haben übrigens zugegriffen und die Taschen bestellt, schweizerische hingegen noch nicht.

Dafür besitzen die Schweizer «La Salle du monde»: Kunst als gesellschaftlichen Anlass für jedermann. In Radio, Zeitung, Fernsehen und Flugblättern erging im Jahr 2004 die Aufforderung an die Berner Bevölkerung, sich um die Mitgliedschaft bei einer Zufallsgesellschaft zu bewerben, die sich zukünftig jedes Jahr im September zu einem grossen Festessen treffen würde, ähnlich wie eine Grossfamilie zum Geburtstag des Patriarchen. Aus mehr als 1’200 Personen, die sich meldeten, wurden 100 ausgelost. Für jede dieser Personen wurde ein persönliches Tafelgedeck hergestellt: ein flacher Teller mit ihrem eingebrannten Gesichtsprofil und ein Weinglas mit ihrer eingravierten Unterschrift ***. Noch im selben Jahr wurde in Berns Innenstadt eine lange Tafel aufgebaut, festlich mit diesen individualisierten Tellern und der Gläsern gedeckt, und an die 100 Zufallsgesellschafter erging die Einladung zum Abendessen. Neben den Speisenden standen leere Schrankkoffer bereit, um die Gedecke bis zur Wiederholung des Essens im folgenden Jahr aufzubewahren. Ein Memento mori der besonderen Art: wer zum Essen nicht erschien, dessen Teller und Glas verblieb im Koffer. Irgendwann an einem zukünftigen Jahrestag des Festessens werden alle Stellplätze der Koffer gefüllt und alle Plätze um die Tafel leer bleiben.

«Salle du monde», nicht etwa «Salle de Suisse»: der Name ist Programm, sollen doch mit der Zeit in allen Teilen der Welt solche Gesellschaften entstehen, ein globales Netzwerk aus Zufallsbekanntschaften, das sich gegenseitig zum Essen einlädt. Im französischen Oiron gibt es bereits eine weitere Gemeinschaft dieser Art (sie tafelt in einem Schloss und besitzt zusätzlich Servietten mit den aufgedruckten Handlinien); in Deutschland soll bald eine in Berlin gegründet werden. Die oft beklagte Anonymisierung der globalisierten Welt wird auf diese Weise durch die Intimität eines jährlichen Rituals unterlaufen; vorher einander unbekannte Menschen entwickeln eine gemeinsame Geschichte. Und wer es gerne privater mag, für den hat Raoul Marek «La Salle privée» im Angebot, ein Doppelporträt von Liebespaaren, Freunden oder Verwandten, realisiert als Vase (siehe Titelblatt). Zwei Gesichter im Profil blicken sich in die Augen, der Zwischenraum manifestiert sich als blaues Porzellan. Physisch greifbar sind die Gesichter nur über ihre Beziehung.

«La Salle du monde» und «La Salle privée», zwei Projekte ganz nach dem Herzen von Raoul Marek. Sie sind auf den Alltag bezogen und nicht abstrakt, das eine schafft – zwischen Menschen, Gegenständen und Orten – Beziehungen, die sonst nicht zustandegekommen wären, das andere verdeutlicht sie. In beiden Fällen stammt vom Künstler das Konzept, umsetzen kann er es jedoch nur mit Menschen, mit jedem, der dazu Lust und Zeit hat (und im Fall der Vase auch Geld für ihre Herstellung). Öffentlich und genussbezogen das eine, als Behältnis zu Hause brauchbar das andere. «Bloss keine kunstimmanente Kunst!» Hier scheint es gelungen.

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