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Kein Gott in Weiss

Der Medizinische Direktor eines Zentrumsspitals ist Manager, Ökonom, Diplomat, Politiker und Troubleshooter in Personalunion. Aber zuerst ist er immer noch: Arzt. Eine Reportage.

Kein Gott in Weiss
Martin Nufer, photographiert von Michael Wiederstein.

«Sechs Zentimeter», sagt Martin Nufer. «Ich feilschte schon um sechs Zentimeter mehr Platz für neue Notfallräumlichkeiten.» Dann ist es still. Seine Antwort auf die Frage, welchen Unterschied es mache, ob er eine leitende Funktion in einem Privatspital oder in einem öffentlichen Spital innehabe, hängt im Raum. Er überlegt. Die Finger des medizinischen Direktors der St.-Anna-Klinik in Luzern zeichnen einen groben Grundriss des vor zehn Jahren neu geplanten Notfallbereichs auf den Tisch zwischen uns. «Nicht, um mehr Betten hineinzubringen, sondern weil ich vom Platz für Geräte neben den Betten bis zum absehbaren Glasbruch aufgrund zu enger Durchgänge versucht habe zu berechnen, was einerseits im Sinne des Patientenwohls wichtig, andererseits aber auch ökonomisch und also effizient ist.» Er macht eine erneute Pause.

Bevor er herkam, sagt er, plante er unter anderem am Triemli in Zürich. Dort spielen die 24 000 Franken, die besagte sechs Zentimeter finanziell letztlich bedeuten, keine Rolle – es wird mit deutlich grösserer Kelle angerührt. «Für einen reinen Planer mag es angenehm sein, wenn man sich nicht allzu sehr um die Kosten kümmern muss», sagt Nufer. «Aber für Patienten, Kanton und Steuerzahler ist es mehr als unangenehm, wenn einerseits an Bedürfnissen vorbeigeplant wird und dann eben auch die öffentlichen Budgets aus dem Ruder laufen.» Sein Pager vibriert, Nufer steht auf, entschuldigt sich, er komme gleich wieder. Kurz bevor sich die Tür hinter dem grossgewachsenen schlanken Mann in seinem weissen Kittel schliesst, drückt er sie aber noch mal auf und sagt: «Sechs Zentimeter hier, ‹Too big to fail› da. Sie merken den Unterschied.»

 

Mediziner oder Manager?

Martin Nufer ist 51, verheiratet, Arzt – an diesem sonnigen Dienstag im Oktober bin ich sein Schatten und sein persönlicher Reporter. Immer wieder sitzen wir im Verlaufe dieses Tages beisammen, mal bei einem Kaffee, mal zum Mittagessen, mal zum Feierabendbier. Schon früh stelle ich fest: er weicht keiner meiner Fragen aus. Der vierfache Familienvater studierte Medizin in Zürich, wo er auch aufwuchs, hat einen Master of Science vom MIT und beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Aufbau des medizinischen Systems und der Entwicklung von organspezifischen Zentren in der Klinik St. Anna in Luzern, die zur Hirslanden-Gruppe gehört.

Dass er Arzt werden wollte, wusste er schon mit 18, erzählt er, als wir uns um halb acht treffen, um seinen Tagesplan durchzugehen. Zunächst sei er auf der Chirurgieschiene gefahren: ein «nützlicher Umweg», wie er sagt – schliesslich habe er so seine Frau kennengelernt. Wenig später fand er aber heraus, dass eine Internistentätigkeit ihm beruflich doch eher liege, als den ganzen Tag im OP zu stehen. «Ich hatte auch immer eine Affinität zum Wirtschaftlichen», fügt er an, was ihn – nach Stationen an verschiedenen Spitälern in Winterthur und Zürich – nach Boston ans MIT brachte. «Und da merkte ich wiederum: ich vermisse meine Patienten. Natürlich, ich lernte enorm viel. Aber die Vorstellung, mit diesem Studium das Ticket zur Karriere des gutbezahlten, aber patientenfernen Beraters im Gesundheitswesen zu lösen, machte mir eher Sorgen als Freude.» Als Arzt wolle Nufer auch weiterhin die «Front» kennen, regulären Dienst machen und den eigenen Patienten helfen. Oder doch immerhin wissen, «in wessen Hände ich einen Fall mit gutem Gewissen legen kann, sofern es sein muss». Als das Angebot kam, nach Luzern zu wechseln, in ein Privatspital, erkannte er darin die geschickte Kombination beider Welten. Etwas zwiespältig allerdings war die Sache zu Beginn schon. «Ich fragte mich: was machen die da? Schwere, komplexe Medizin? Oder handelt es sich doch eher um eine Art Sanatorium für Gutbetuchte?» Nufer lacht, rührt in seinem Kaffee, klopft den Löffel auf dem Rand der Tasse ab. «Ich wäre nicht mehr hier, wenn letzteres der Fall wäre.»

 

8.00 Uhr: Wir besuchen den morgendlichen Report der Internisten, wo alle Eintritte und Austritte des Tages besprochen werden. Vom Stolpersturz bis zum Karzinom, von der 97-Jährigen, die wieder nach Hause darf, bis hin zum jungen Mann, der wohl zwecks Abklärung unerwartet länger bleiben muss – die aktuelle Zusammensetzung wird in ruhiger, nüchterner Atmosphäre aufgearbeitet. Anschliessend findet jeweils der «Journal-Club» statt, ein Ausbildungsformat, bei dem Assistenzärztinnen und -ärzten abverlangt wird, eine aktuelle medizinische Studie im Plenum vorzustellen, sie zu interpretieren und auch zu bewerten. Heute stellt sich heraus: glutenfreie Ernährung schützt nicht vor Fettleibigkeit und auch nicht vor koronarer Herzkrankheit. Warum allerdings Menschen, die eine Glutendiät machen, plötzlich dazu neigen, mehr zu rauchen, lässt sich auch im Kreise der Experten nicht eruieren.

 

9.00 Uhr: Weiter zum «System-Rapport»: aus dem kleinen Vortragsraum im ersten Untergeschoss eilen wir drei Treppen hinauf, um die Bettenbelegung des heutigen Tages und die dazugehörenden Patientendaten zu besprechen. In dem kleinen Zimmer herrscht reger Betrieb, und nach einem Austausch zur Belegung der einzelnen Stationen wird klar: An diesem Dienstagmorgen ist die Klinik St. Anna mit 196 belegten Betten voll ausgelastet. Aufgrund einiger angekündigter Eintritte am Nachmittag stellt sich also die Frage nach den baldigen Austritten. Eine Station kündigt an, nach 14 Uhr wieder freie Kapazitäten zu haben, so denn alles nach Plan läuft. Sie also könnte Patienten aufnehmen, die nicht stationär behandelt, aber unter medizinischer Beobachtung stehen müssen. Nufer lehnt sich zu mir herüber und flüstert: «In meinen zehn Jahren war es immer oberstes Ziel, keinen Patienten abweisen zu müssen. Wenn es irgendwie geht, finden wir eine Lösung.» Und schon schwärmen die Weisskittel wieder aus – der nächste System-Rapport steht dann um 17 Uhr an. Morgen Mittwoch ist die Situation mit 180 belegten Betten voraussichtlich etwas entspannter. «Ist das im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit eines Privatspitals überhaupt wünschenswert?», will ich auf dem Gang von ihm wissen. Nufer überlegt nicht lang. «Ich würde die, die unsere Hilfe brauchen, im Ernstfall lieber stapeln als wegschicken», antwortet er lachend und fügt an: «Genau das würde ich doch auch als Patient erwarten, wenn ich medizinische Hilfe brauche. Uns hilft, dass wir immer mehr Arbeit ambulant leisten können – die Versorgung daheim ist im Sinne der Patienten, der Kassen und auch der politischen Vorgaben. Die Zukunft des Spitals liegt auch jenseits des Spitals.»

 

Oder Diplomat?

9.25 Uhr: Wir betreten sein Büro, das für den Trend zum ambulanten Arbeiten bereits bestens gewappnet ist. Der kleine Raum mit Aussicht auf Luzern beherbergt nicht mehr als ein Pult mit drei Bildschirmen, einen Bürosessel, einen Tisch und zwei weitere Sitzgelegenheiten. Hier entscheiden sich also alle administrativen Fragen zur Medizin im Hause? Der medizinische Direktor nickt, weist dann aber – nicht zum letzten Mal an diesem Tag – darauf hin, dass es nicht sein Ziel sein könne, zu warten, «bis einer mit einer Frage vorbeikommt», sondern medizinische wie administrative Probleme zu erkennen, bevor sie akut werden. Das ist auch nötig, denn die Klinik St. Anna ist ein sogenanntes Zentrumsspital mit entsprechend hochspezialisiertem Angebot – die einzige private Akutklinik mit diesem Status in der Zentralschweiz. Solche hochspezialisierte Leistungen verlangen ein gut eingespieltes, interdisziplinäres und interprofessionelles Zusammenarbeiten in jedem einzelnen Organzentrum.

Deshalb also das ständige Zusammenziehen vieler verschiedener Beteiligter im Terminplan: «Im Fokus steht wie in jedem anderen Spital der Patient und sein Wohl», sagt Nufer; die Leistungserbringung allerdings gilt es im Systemmodell von Hirslanden, das nahe an amerikanischen Organisationsmodellen liegt, gut zu koordinieren: Einerseits sind hochspezialisierte Ärzte belegärztlich selbständig und eigenverantwortlich tätig – also nicht angestellt. Andererseits stellt die Klinik diesen Spezialisten ein standardisiertes System an Fachpersonal zur gemeinsamen Leistungserbringung zur Verfügung. Dabei handelt es sich einerseits um Ärzte wie Narkoseärzte oder Radiologen, die es dem Spezialarzt erst ermöglichen, seine spezifische Leistung in der Klinik zu erbringen. Und andererseits tragen auch nichtärztliche Bereiche wie Pflege, Physiotherapie, im erweiterten Sinne auch Mitarbeiter der Küche oder der Infrastruktur zum Gesamten bei. Nur die gute Koordination von Spezialärzten und System führt zur gewünschten Patientenbetreuung. Diese wird unterstützt von einem medizinischen Qualitäts- und Performancemanagement. Die Ärzte der zentralen medizinischen Serviceeinheiten – von der Anästhesie bis zur Radiologie – sind vom Spital angestellt und werden im Chefarztmodell geführt. Wenn es also beispielsweise einen spezialisierten Wirbelsäulenchirurgen braucht, so ist dieser in der Regel Teil eines in die Spitalinfrastruktur integrierten «Wirbelsäulen-Zentrums», das unternehmerisch eigenständig ist und intern verschiedenartig organisiert sein kann.

Martin Nufer baut als medizinischer Direktor diese Zentren auf und vernetzt sie untereinander, wirkt also an der Schnittstelle von Service und System, wenn er einerseits Manager ist und andererseits behandelnder Arzt. Manager? Nufer lacht. «Mediziner drücken sich gern um den Begriff, aber das Changieren zwischen Fach- und Führungswelt öffnet neue Horizonte und dient zuallererst den Patienten und ihrer effizienten Versorgung.» Effizienz! – Sorgt nicht schon die Erwähnung derselben bei vielen Beteiligten im Gesundheitssystem für sich türmende Stirnfalten? «Man kann es nicht oft genug sagen: Die Ressourcenfrage ist und bleibt die zentrale Frage bei der medizinischen Qualitätssicherung. Wer sie nicht stellt, schadet dem ganzen Gesundheitssystem.»

Nufer steht auf, geht zum Fenster und deutet auf Luzern, das unter uns noch im Nebel liegt – die Sache ist ihm wichtig. «Wichtig zu verstehen ist, dass das System nicht an der Spitaltür endet. Wenn ich bisher etwas gelernt habe in meiner Position, dann sicher, dass es zunehmend wichtig wird, den Dialog mit der Politik und der Gesellschaft zu suchen. Luzern ist ein guter Ort dafür, denn die politische Kultur ist anders als in Zürich: ergebnisoffener und durchaus auch lösungsorientierter, wenn es um das Zusammenspiel öffentlicher und privater Akteure geht. Die Bürger definieren unseren Leistungsauftrag auf demokratische Weise, und das ist richtig so. Sie erkennen aber auch, dass sparen nicht zerstören bedeuten sollte. Wir müssen einfach mit allen Involvierten reden und auch klarmachen, was wir leisten können und was nicht. Die kommenden Jahre werden entscheidend sein für die Zukunft unseres ganzen Gesundheitssystems.»

Der medizinische Direktor ist also nicht nur Arzt und Manager, sondern auch noch Diplomat? Nufer setzt sich wieder, schaut auf die Uhr. «Ja, durchaus. Wenn ich hier zu passiv bin, also nicht sachpolitisch aktiv werde, mich nicht in laufende Debatten einmische, dann haben wir als Spital ein Problem. Also: vor allem die Patienten haben dann ein Problem.»

 

Vielleicht Politiker?

Obwohl wir schon bald zum nächsten Termin müssen, holt er noch einmal tief Luft. «Wenn es gesundheitspolitisch so weitergeht wie gerade, wird es in 20 Jahren in der Schweiz deutlich weniger Spitäler geben. Der Trend zur planwirtschaftlichen Staatsmedizin wird sich fortsetzen – in der Romandie ist es ja bald schon so weit. Es wird einige bedeutende Too-big-to-fail-Spitäler geben, und einige, die effizienter arbeiten und ausreichend kapitalisiert sind, um medizinische Entwicklungen vorwegzunehmen.» Nufer schüttelt mit dem Kopf. «Die gegenwärtige Entwicklung im Gesundheitswesen macht mir ernsthaft Sorgen: als Privatspital müssen wir ständig investieren können. Auf dem Markt kreditfähig sind wir aber erst, wenn wir eine Marge von ca. 20 Prozent erzielen. Fallen wir darunter, steht unsere Entwicklung fast still. Öffentliche Spitäler haben dieses Problem nicht.» Es sei ein enormer Wettbewerbsvorteil der Öffentlichen, meint Nufer. «Wer nicht laufend investieren muss, um seine Patienten auf dem neusten Stand behandeln zu können, senkt mittelfristig das Qualitätsniveau. Gewisse Spitäler können sich zudem auf ihre enorme Marktmacht verlassen: in Luzern sind es, was das Kantonsspital anbelangt, knapp 80 Prozent. Andererseits trägt doch die ganze hiesige Konkurrenzsituation dazu bei, dass das Leistungsniveau schweizweit hoch ist. Während die Auflagen und Ansprüche seitens der Politik und der Bürger immer weiter wachsen, werden die Limiten der finanziellen Ressourcen immer deutlicher spürbar. Die Unwucht wird dramatisch werden.»

 

10.00 Uhr: Das Thema Politik bestimmt auch grosse Teile der anschliessenden Geschäftsleitungssitzung, an der Nufer teilnimmt. Es geht um Pilot- und Bauprojekte. Um passgenaue Rekrutierung in Zeiten des Fachkräftemangels. Um den demographischen Wandel und was er für ein Spital auf Patienten- wie Mitarbeiterseite bedeutet. Um den ansteigenden politischen Druck seitens der Kantone und des Bundes – und die dahingehend angezeigten Anpassungen der eigenen Strukturen. Zwischen diesen grossen Themen geht es aber auch um interne Angelegenheiten, die nur indirekt damit zu tun haben. Die Frage «Digital oder analog?» wird im Hinblick auf die Lancierung des neuen Mitarbeitermagazins gestellt. Das Kader bespricht konkrete interne Weiterbildungsangebote für das Personal und einigt sich auf klarere Zuständigkeiten bei den laufenden strukturellen Anpassungen: Wer redet im Hinblick auf den anstehenden Anbau noch einmal mit den Nachbarschaftsvereinen? Soll man eine Kooperation mit einem Sportverband eingehen oder nicht? Was erwarten wir von der nächsten Patientenbefragung? Soll man den eigenen Notfall öffentlich bewerben? Die meiste Zeit wird für die Klärung von künftigen Zuständigkeiten aufgewendet und über Anliegen, die die Verbesserung der Transparenz für alle Beteiligten betreffen. Klar, denn ein Zentrumsspital mit all seinen Interdependenzen dürfte am Ende immer nur so gut sein wie die darin gepflegte Kommunikation.

 

13.30 Uhr: Das Mittagessen verbindet Martin Nufer mit einem Bewerbungsgespräch. Am Tisch sitzt ein potenzieller neuer Belegarzt, der kürzlich aus dem deutschen Heidelberg in die Schweiz kam und sich ausserstande sieht, für seine neue Praxis in Luzern geeignete Fachkräfte zu finden. «Am Ende musste ich in Deutschland suchen», sagt er. «Aber auch da ist es nicht einfach. Die Sache mit den hiesigen höheren Gehältern ist längst keine Garantie mehr – die Schweiz droht ihre Attraktivität zu verlieren.» Martin Nufer nickt, das Problem mit den Fachkräften kennt er bestens: Ein Teil seines Jobs besteht darin, die begehrten Fachkräfte selbst auszubilden, nach Mustern, zu deren Evaluation er die ganze Welt bereist. Pflegende, die Aufgaben der Ärzteschaft übernehmen oder Medizinstudenten ausbilden, ohne parallel dazu Forschung machen zu müssen – der offiziellen Schweiz passen viele dieser Ausbildungsmodelle bis heute nicht ins politische Konzept. «Oder dürfen nicht passen», ergänzt Nufer im Hinblick auf ein jüngst gescheitertes Kooperationsprojekt mit einer Universität, bei dem der alte ideologische Graben zwischen privat und öffentlich nicht ganz unerheblich gewesen sein dürfte. «Langsam tut sich aber was: niemand kommt mehr umhin festzustellen, dass wir im Aus- und Weiterbildungsbereich eher überperformen, als nur die notwendigen Vorgaben zu erfüllen, was Ansprüche und Leistungen angeht.»

Natürlich erschwert es seine Arbeit, wenn der Gesetzgeber immer neue Regeln vorschreibt. Die neu verpflichtende Arbeitszeiterfassung etwa stellt ihn, seine Kollegen, ja das gesamte Zentrumsmodell vor enorme bürokratische Herausforderungen. Nufer weiss aber selbst, dass politischer Übereifer nicht selten darauf zurückzuführen ist, dass offensichtliche Missstände in den Spitälern einfach zu lange ignoriert wurden: «In solchen Fällen fassen wir uns lieber mal bei der eigenen Nase, statt zu jammern.»

 

Doch Arzt!

15.50 Uhr: Beim Espresso auf der Spitalterrasse zwischen zwei Terminen frage ich Nufer, ob er überhaupt noch genügend Zeit für seine Patienten habe, bei all der koordinatorischen Arbeit, bei all den vielen Sitzungen. Er nickt und beteuert, er könne sich sogar an die Vor- und Nachnamen vieler Fälle aus den letzten zehn Jahren erinnern. An seine erste Patientin im «St. Anna» erinnert er sich besonders gut: «In Woche eins schauen dir natürlich alle auf die Finger: was macht der Neue? Wie hat er’s im Griff?» Da sei eine junge Mutter eingeliefert worden: Infektion der Herzklappe, Notfall. «Es war sehr bedrohlich. Wir haben ihr Antibiotika verabreicht, aber sie entwickelte heftige allergische Reaktionen erst gegen eines, dann gegen das nächste, dann das übernächste – also mussten wir abbrechen.» Am Ende blieb nur noch ein möglicher Wirkstoff übrig. Der Zustand der Patientin hatte sich aber derart verschlechtert, dass der Einsatz mit enormem Risiko verbunden war. «Die Kollegen schauten mir über die Schulter: ‹Bringt er die durch?› – Ich wusste: wenn wir nichts tun, verlieren wir sie. Aber der Einsatz des Antibiotikums könnte sie ebenso umbringen. Eine einsame Entscheidung.»

 

17.15 Uhr: Dieser Lunge, denke ich, wird kein Antibiotikum der Welt helfen können. Beide Flügel, weiss gesprenkelt wie zerrissene Spinnennetze, füllen die Grossleinwand eines Vortragssaals. Bespielt wird sie von einem Herrn an einem Pult, der zu jedem Spezialröntgenbild, das er vors Plenum bringt, kurz eine Geschichte erzählt. «37, Raucher, klagte über starken Hustenreiz.» Danach Fremdworte aus dem Expertenpublikum: «Da Vinci von links», empfiehlt jemand, «flexible Bronchoskopie», heisst es von anderer Seite, «konservativ ist da nichts zu machen!», von dritter, während vorne schon wieder fragliche neue Krebszellen aufleuchten. Nufer lehnt sich zu mir herüber und sagt: «Das ist kein Karzinom, sondern wohl nur Schleim, der sich ungünstig sammelt.» Zwei Reihen vor ihm sitzt Professor Erich Russi, der ehemalige Chefarzt des Zürcher Unispitals, auch er ist Teil der diskutierenden Gruppe aus interdisziplinär zusammengesetzten Spezialisten, die wöchentlich an der Lungen-Board-Sitzung teilnehmen und ihr Wissen im «St. Anna» kanalisieren, damit die zuständigen Ärzte auch bei schwierigen Fällen vom Wissen anderer profitieren. Im Plenum stellt sich manch auffälliger Fleck im Computerröntgen als wahrscheinliche Narbe heraus, eine Frau Mitte sechzig hat hingegen weniger Glück: «Mehrere neue Herde: Bestrahlen oder Radiotherapie?» – Schweigen.

 

18.40 Uhr: Es ist dunkel, als ich Martin Nufer vor der Drehtür des Spitals die Hand schüttle und mich verabschiede. Er habe sich ehrlich über den Besuch gefreut, sagt er. Nun hat er «nur noch» zwei Termine auf der Agenda. Er deutet auf seinen Pager, hebt dann die Hand zum Abschied und betritt, ein Klemmbrett unter dem Arm, durch einen Nebeneingang wieder das Spital. Eine eindrücklich ehrliche, durch und durch humanistisch geprägte Person, denke ich. Eine, die auch in hektischen Momenten jene Ruhe und Zuversicht ausstrahlt, die ich mir wünschte, wenn meine Lunge einmal auf dem Bildschirm des Lungen-Boards vor ihm erschiene. Als ich meine Zigarette entsorge, taucht an der Zufahrtsrampe des Spitals ein Wagen mit Blaulicht auf, hält vor dem Eingang zum Notfall.

Martin Nufer hat die sechs Zentimeter für die dahinterliegenden Räume damals «durchgebracht». Dasselbe gilt für die junge Frau mit der infizierten Herzklappe: «Ich sehe sie heute manchmal noch in Luzern, auf der Strasse, mit ihren Kindern», hatte er mir am Nachmittag auf der Terrasse gesagt, mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht – gerade so, als könne er es bis heute kaum glauben. «Es hat tatsächlich funktioniert. Sie steht wieder mitten im Leben.»

 


Michael Wiederstein
ist Chefredaktor des «Schweizer Monats» und des «Literarischen Monats».

 

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