Kein Dorf zu klein, eine Welt zu sein
Seine Heimat, das sind fünfundzwanzig Häuser, acht Heustalls, eine Autogarascha, der Bahnhof mit der Poscht, das Cuafförhaus, eine Telefoncabina, der Kiosk, der Usego und die Helvezia. Der Weiler am Berghang hinter dem Bahnhof ist sein Universum. Der Erzähler in Arno Camenischs neuestem Buch «Hinter dem Bahnhof» ist ein Junge im Vorschulalter. Seine Beobachtungen und Erlebnisse […]
Seine Heimat, das sind fünfundzwanzig Häuser, acht Heustalls, eine Autogarascha, der Bahnhof mit der Poscht, das Cuafförhaus, eine Telefoncabina, der Kiosk, der Usego und die Helvezia. Der Weiler am Berghang hinter dem Bahnhof ist sein Universum. Der Erzähler in Arno Camenischs neuestem Buch «Hinter dem Bahnhof» ist ein Junge im Vorschulalter. Seine Beobachtungen und Erlebnisse sind wie Miniaturen, die uns die Menschen des Bergdorfs mit ihren Gepflogenheiten und Marotten näherbringen. Das Dorf des erzählenden Jungen ist bevölkert von schrulligen, witzigen wie auch tragischen Dorforiginalen. Für den Lausebengel sind jedoch sein rauchender Tat, die Fraurorer aus Chur, der Giacasep vom Schrubasladen, der Gion Bi vom Usego, die Marina vom Kiosk und der Tonimaissen vom Bahnschalter Teil des alltäglichen Dorfinventars. Die Erzählung aus dem Kindermund ist in ihrer Arglosigkeit ungekünstelt, schonungslos und wertungsfrei.
Arno Camenisch stammt aus Tavanasa, einem Weiler des Dorfes Brigels im Bündner Oberland. Die Prosa des Zweiunddreissigjährigen ist vom Genre des spoken word geprägt. Wie bei seinem Erstling «Sez Ner», liegt auch in «Hinter dem Bahnhof» ein Augenmerk seines Schreibens auf der Sprachschöpfung, dem Sprachspiel und dem Sprachrhythmus. Camenisch kreiert aus der Verschmelzung des Schriftdeutschen, des Schweizerdeutschen und des Rätoromanischen ein sperriges Provinzpatois, das das Antiidyllische und Kantige seiner Erzählung widerspiegelt. Seine Kunstsprache zeugt davon, dass es sich um die Erzählung eines romanischsprachigen Kindes handelt, das des Schreibens noch nicht mächtig ist. Was im Deutschen als syntaktische Verrenkung dasteht, ist rätoromanischer Satzbau mit deutschen Worten. Was als schlechte Orthographie oder falsche Pluralendung daherkommt («Gurcas», «Cäfics», «Ohrawärmers», «Schrubzvingas», «Abcürzics»), ist eine vom Rätoromanischen markierte Aussprache deutscher Wörter.
Der eigentliche Clou an Camenischs Kunstsprache ist die Umkehrung: gerade diejenigen Substantive, die in der rätoromanischen Alltagssprache als Germanismen empfunden werden, fallen hier dem deutschsprachigen Leser als vom Romantschen verunstaltet auf. Es ist eine der vielen Qualitäten dieses Textes, dass es Camenisch ganz unaufgeregt gelungen ist, dem deutschsprachigen Leser die Irritation der Rätoromanen angesichts der vielen ihre Sprache durchdringenden Germanismen erfahrbar zu machen.
Arno Camenisch: «Hinter dem Bahnhof». Holderbank: Engeler, 2010