Kathedralen des Wohlstands
Ob in Zürich, Paris, Berlin oder London: im Warenhaus träumen sich Europas Städter von Etage zu Etage. Doch wie viel mondänen Duft versprühen Jelmoli, Lafayette, KaDeWe und Harrods – abgesehen von ihren Parfümabteilungen – auch heute noch? Eine urbane Kulturgeschichte.
Das Erdgeschoss eines Warenhauses im Grossstadtzentrum an einem beliebigen Sommervormittag: Parfumfahnen wehen, ein leichter Geruch von Schreibblöcken und Farbstiften.
Am Rolex-Stand streitet ein Mann über den Preis einer Gummilitze, die Verkäuferin ist ratlos in ihrem braunen Cordkleid:
«Wenden Sie sich doch bitte an den Hausmechaniker …», bescheidet sie ihm.
An einem Grabbeltisch durchsuchen zwei ältere Frauen das Strumpfsortiment. «Was für Gierlappen… – da würde ich nie im Leben meine Hand reinstecken», murmelt ein Mann im Vorbeigehen. Eine der Frauen schaut empört hoch, dabei fällt ihr Spazierstock auf den Boden.
Etwas entfernt begutachtet eine junge Frau im blumigen Sommerkleid die Wolford-Farbpalette. Ein weisshaariger Mann schlurft auf sie zu und sagt mit selbstbewusst strahlendem Gesicht:
«Darf ich die Dame zu Kaffee und Kuchen in den fünften Stock einladen?» – Die junge Frau blickt auf, verwundert; sie errötet.
«Warum eigentlich nicht?», sagt sie.
Im Keller – die Anfänge des Kaufhauses
Jelmoli, Lafayette, Harrods, KaDeWe, Bloomingdale’s – Warenhäuser, Orte des Staunens, Orte der Gier. Wie mittelalterliche Kathedralen liegen sie im Herzen der Städte. Im Inneren sind sie Orte der Zeitlosigkeit und Zuversicht, nehmen den Besuchern die Angst vor dem Verfliessen der Zeit. Wie funktionieren sie? Warum setzten sie Europäer stets in die Herzen ihrer Städte?
Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris. Im Jahre 1848 wurde in Frankreich die bürgerliche Republik unter Napoleon III. gegründet. Dieser sah sich mit einer überbevölkerten und «kranken» Hauptstadt konfrontiert, deren Infrastruktur (enge, kleine Strassen, wenig offene Räume) die Menschenmassen unkontrollierbar machte. Er ordnete eine Sanierung der Stadt an, um Sicherheit und Hygiene des öffentlichen Raums zu verbessern. Die folgenden Umbauten unter dem Präfekten Baron Haussmann machten Paris zu der Stadt, die man noch heute kennt: es entstanden Boulevards, Parks und Plätze, Wassersystem und Kanalisation wurden rundum saniert, ein Verkehrsnetz und Nachtbeleuchtung strukturierten fortan den Raum.
Das Warenhaus ist nicht direkt Haussmann zuzuschreiben, doch fällt seine Erscheinung in jene Zeit des Umbaus von Paris. Im Jahre 1827 war «La Belle Jardinière» gegründet worden – zunächst nur ein kleines Geschäft, das Kleider von der Stange verkaufte, 1866 expandierte und in ein palastartiges Gebäude am Pont Neuf zog. Im Jahre 1858 «erfand» Charles Frederick Worth in seinem «House of Worth» in der Rue de la Paix die Haute Couture. Er entwarf saisonale, massgeschneiderte Mode, arbeitete mit Models und organisierte an den Jahreszeiten orientierte Modeschauen.
Am Anfang des Warenhauses im engeren Sinn steht «Au Bon Marché», 1838 von den Gebrüdern Videau gegründet. 1848 wurde Aristide Boucicaut Teilhaber bei den Videaus, ehe er 1852 die Mehrheit übernahm und das Konzept nach seinem Geschmack anpasste. Unter seiner Leitung fand eine Expansion statt – so wurden ab 1869 neben Wäsche auch Möbel, Teppiche und weitere Einrichtungsgegenstände angeboten. Was dieses erste Warenhaus auszeichnete, gilt bis heute auch für alle anderen als Massstab: ein möglichst breites Sortiment (Neuheiten und Althergebrachtes, Luxusgüter und billig produzierte Massenware), feste Preise und Ausverkaufsstrategien, Umtausch- und Reklamationsmöglichkeiten, Überfluss ohne Kaufzwang.
Im Jahre 1883 schrieb Émile Zola den ersten Kaufhausroman «Au Bonheur des Dames». Die zwanzigjährige Denise Baudu kommt aus der Provinz nach Paris, um als Verkäuferin des Warenhauses «Au Bonheur des Dames» zu arbeiten. Der Beginn des Romans beschreibt ihren ersten Eindruck: «Denise nickte zustimmend. Sie hatte bei Cornaille, dem ersten Modewarenhändler von Valognes, zwei Jahre gearbeitet. Als sie jetzt plötzlich vor diesem Haus, vor diesem grossartigen Geschäft stand, vergass sie in ihrem Staunen alles Übrige. An der stumpfen Ecke, die auf die Place Gaillon ging, befand sich eine hohe Glastür, die bis zum Zwischenstock reichte, umrahmt von kunstvoll zusammengesetztem, reich vergoldetem Zierrat. Zwei sinnbildliche Figuren, lachende Frauengestalten, entrollten ein Band, auf dem zu lesen war: ‹Zum Paradies der Damen›.»1
Im Untergeschoss – das Kaufhaus als Kathedrale
«Kathedralen des Kommerzes» nannte Zola Warenhäuser wie «Au Bon Marché». Tatsächlich gleicht die Struktur des Eingangsportals von «Au Bonheur des Dames» derjenigen der Abteikirche von Saint-Denis, und sie ruft bei der Protagonistin Denise ein ähnliches Staunen hervor, wie es der Erbauer Abt Suger für diese gotische Kathedrale beschrieb. In der Mitte des zwölften Jahrhunderts war Saint-Denis bei Paris das reichste Kloster Frankreichs und Grabstätte sowie Salbungsort der französischen Könige. Während der Regierungszeit Ludwigs VII. erfand Kirchenfürst und Staatsmann Abt Suger von Saint-Denis die Formel der neuen «gotischen» Ästhetik, und er machte sich an den Umbau der romanischen Klosterkirche. Sein Ziel: die Feier des Königsgeschlechtes der Kapetinger, dem Ludwig VII. entstammte, und die Feier Gottes und seiner Schöpfung.2 In sieben Jahren (1137–1144) öffneten und erhellten Baumeister die Kirche: niedrige Decken, dicke Mauern und dunkler Stein wichen dünnen Wänden, grossen Fenstern, auseinanderstehenden Säulen und hohen Spitzbögen, um das Gebäude, so Suger, «in die Höhe zu reissen».
Am wichtigsten waren Suger die Fenster: aus Buntglas hatten sie zu sein, zahlreich und hoch; sie schufen den Eindruck eines «neuen Lichtes». An der Westfassade über den neuen drei Eingangsportalen entstand ein Rosettenfenster, Symbol Marias, das auch von den auf Suger folgenden Kathedralenerbauern übernommen wurde. An der Ostfassade wurde, wie Suger schrieb, ein «halbkreisförmiger Kapellenkranz» gebaut, «der die ganze Kirche in einem wunderbaren, ununterbrochen fliessenden Licht erstrahlen liess, das durch leuchtend helle Fenster hereindrang». Denn Gott war Licht und die Offenbarung des Johannes beschrieb das himmlische Jerusalem als Stadt aus Licht, Gold und Edelsteinen. In Saint-Denis sollte daher Gott selbst im Licht der Kirche unter den Menschen erstrahlen – ja im Licht anwesend sein. Auf dem Eingangsportal von Saint-Denis findet sich eine Inschrift Sugers: «Wer du auch bist, der du die Herrlichkeiten dieser Türen rühmen willst: bewundere das Gold – nicht die Kosten! – [und] die Leistung dieses Werkes! Edel erstrahlt das Werk, … [es] soll die Herzen erhellen, so dass sie durch wahre Lichter zu dem wahren Licht gelangen.»
Suger fordert den Besucher zur Bewunderung der Schönheit und Handwerkskunst der Kathedrale auf. Voraussetzung des bewundernden Schauens ist das Licht, das den Blick in die Höhe in Richtung der Fenster, aber auch auf den strahlenden Innenraum lenkt. Kaum noch vorstellbar ist die Üppigkeit, mit der Suger Saint-Denis ausstattete. Er behängte Wände mit Teppichen, liess Säulen bemalen, unzählige Figuren auf Fenstersimse stellen, Mosaike verlegen und Blumenranken, Blätter, Tiere und Phantasiewesen in Stein hauen, während neue Buntglasfenster Bilder der Passion und Geschichten der Apostel zeigten. Saint-Denis sollte Gottes Reich durch den irdischen Nachbau seiner Schöpfung feiern, das Geschenk Gottes an die Menschen ebenso glanzvoll an Gott zurückgeben. Das bewundernde Schauen ist für Suger der wichtigste Akt; es solle so intensiv sein, schreibt er, dass beim Besucher der Wunsch entstehe, die im Innenraum ausgestellten Kostbarkeiten berühren, ja küssen zu wollen.
Im Lift – zurück auf den Boden der Gegenwart
Warenhäuser sind ähnlich wie einst die Kathedralen, denn auch sie laden die Besucher zum staunenden Schauen und, mehr noch als einst die Kathedralen, auch zum Habenwollen ein. Wie Kathedralen befinden sie sich im Herzen der Städte, an Verkehrsknotenpunkten wie Bahnhöfen oder Kulturstätten, die Besucherströme und Kaufkraft anziehen; wie Kathedralen sind sie öffentliche, für jeden zugängliche Räume. Auch ihre Architekturen gleichen sich: ungewöhnliche Glaskonstruktionen, glänzende Kuppeln in Christbaumkugeloptik, Kandelaber, bemalte Wände, Säulen und Geschosse, gewölbte Decken und Streben und vor allen Dingen Licht: warmes Licht in der Delikatessenabteilung, fahl sternenhaftes im Restaurant, gedimmtes in den Dessousumkleidekabinen, strahlend helles in den Zwischengängen… Ein Besuch im Warenhaus ist wie ein geblendetes Taumeln von Waren zu Preisetiketten, zu Spiegeln, zu Rolltreppen, stets mit Blick auf den Lichthof im Erdgeschoss. Nach einiger Zeit Aufenthalt entsteht ein verwirrt-verzaubertes Gestammel formloser Farben, ein synästhetisches Flimmern, gefolgt von erschöpftem Niedersinken auf einem der Besuchersessel.
Warenhäuser, Abbilder nicht eines himmlischen Jenseits, sondern des diesseitigen Wohlstands einer Gesellschaft, darin: Neuheiten, Trends, Regalien des modernen Lebens, alles Schöne der Welt (so war es einst zumindest vorgesehen), paradiesische Fülle, unter westliche, mit Stuckglas überhängte Nebelhimmel geholte orientalische Basare, Konglomerate von Einzelhändlern, kostbare Pelze, Parfums, Stoffe. Heute dann noch: schnittige, neon-grasgrüne Jelmoli-Tragtaschen, adelwappenhafte Harrods-Logos, die an alte Bibliotheken und Joseph Conrads Gesamtwerk erinnern, sowie Wartesessel im Louis-XVI-Stil.
Doch halt.
Warenhäuser bedeuten auch die trostlose Bürostempelästhetik des Manor-Logos, anzüglich schäkernde Obstsaftwerbungen, Gourmet-Verkäuferinnen mit Schaffnerkrawatte (Globus) sowie das Ziel, auch noch aus dem billigsten Schrott – Abgusssiebe, lappenartige Kleider der Hausmarke, Diddl-Tassen – den grösstmöglichen Gewinn herauszuschlagen. Mit dem Eintritt ins Kaufhaus kann der Wille zur Ästhetik genauso enden wie beginnen; an den Besucherzahlen eines Warenhauses misst sich ausserdem der Erfolg einer ganzen Stadt: kann man hier hingehen, lohnt es sich noch oder steht alles kurz vor dem Verfall? Warenhäuser, die wirre Konsumwelt umdrängter Kassen, brachten auch moderne Pathologien hervor wie Kleptomanie, Kaufrausch, Kaufsucht, ausserdem den Typus «ausgebeutete Verkäuferin», auf der gesellschaftlichen Skala der vorletzten Jahrhundertwende irgendwo zwischen Fabrikangestellter und Prostituierter anzusiedeln, dann noch das Mannequin, den Hausdetektiv…
Ob Orte der Modernisierung oder des Kulturverfalls, ob Herrlichkeit, Schrott oder Wahnsinn: im Warenhaus bleibt die Zeit stehen, wird ewig, wiederholen sich im immer gleichen Etagenaufbau die Gourmetabteilung im Untergeschoss, ebenerdig die Parfumauslagen und der Schmuck, darüber Damenmode, dann Herren- und anschliessend Kinderkleidung, Spielzeug, mit leichten Variationen irgendwo beigeordnet noch die Handtuchabteilung, Sportartikel, Pralinen, Küchenware, ganz oben das Restaurant mit Blick über die Stadt. Innen herrscht – abgesehen von der hektischen Eile im Schlussverkauf oder in der Weihnachtszeit – die Ewigkeit stundenlangen, ungestörten Umherstöberns. Dabei geht es nicht nur um wiedergewonnene Zeit, sondern auch um die Wiedererlangung verlorener Würde: es kann lässig-selbstbewusst das vorhin in der Innenstadt in der Boutique erblickte Designerkleid angezogen werden, das man nicht anzuprobieren wagte, da der Eisblick des Türstehers in seinem Vuitton-Anzug einen umgehend zum schamvollen Weiterhetzen zwang. Schamlos und ohne jegliche Kaufabsichten können immer mehr Parfum- und Crèmepröbchen erfragt werden («Gerne, die Dame …», dazu ein mildes Lächeln, noch mehr Parfum), alles lässt sich anfassen, durchwühlen und bestaunen. Am Kühlregal der Gourmetabteilung etwa arbeitet sich ein Mann durch die eingeschweissten Delikatessschinken, greift die hinterste Schachtel, lässt die vorderen achtlos zur Seite kippen. Eine Dame daneben:
«Da haben Sie bestimmt das Richtige erwischt. Sie denken wohl, das Gute sei unten versteckt. Wenn ich der Manager hier wäre, würde ich die Verfallenen ganz nach hinten stellen.»
Im fünften Stock – träumen Sie!
Oben im Restaurant des fünften Stocks teilt ein älteres Pärchen festlich einen Austernteller und eine Flasche Champagner; am Nebentisch bestellt der alte Mann der jungen Frau im Sommerkleid einen Bienenstich, ein paar junge Leute in Jeans und Schlappkleid essen Macarons, tippen auf iPhones, neben ihnen stehen bunte Tüten, Schachteln, irgendwo spielt Musik, es klirren Gläser, man hört ein Lachen. Mit siegesgewissem Spott schweift der Wasserspeierblick über die unten hinter den verzierten Glasfenstern grau und verloren daliegende Stadt, über ameisenhafte Passanten und Fahrzeuge. Und für einen kurzen Moment ist alles leicht und gut.
1 Émile Zola: Das Paradies der Damen. Übersetzt von Armin Schwarz. Bonn: Emil Vollmer, 1950.
2 Siehe auch: Sarah Pines: Gebete aus Stein. Weltwoche 16/2014.