Karl S. Guthke: Sprechende Steine: Eine Kulturgeschichte der Grabschrift.
Göttingen: Wallstein Verlag, 2006
«Geweiht dem Gedächtnis an Herrn Jared Bates, der am 6. August 1800 starb. Seine Witwe, 24 Jahre alt, die trauert, sich aber trösten liesse, wohnt am Ort in der Elm-Street Nr. 7 und hat alle Voraussetzungen für eine gute Ehefrau.» – so die Grabschrift einer lustigen Witwe aus Lincoln im amerikanischen Bundesstaat Maine für ihren gerade verstorbenen Mann, zitiert von dem in Harvard lehrenden Germanisten Karl S. Guthke in «Sprechende Steine. Eine Kulturgeschichte der Grabschrift».
Die Übergänge zwischen Grabschrift und Heiratsannonce können offenbar fliessend sein. Die tröstungswillige Trauernde verfügte neben beträchtlichem Witz indes auch über jene Ehrlichkeit, die auf den steinernen Zeugnissen der Begräbnis-Gedächtnis-Kultur sonst eher zu kurz kommt. «Gelogen wie auf einem Grabstein», ist geradezu sprichwörtlich geworden. Ambrose Bierce kommentiert etwa in seinem «Wörterbuch des Teufels» sarkastisch: «Epitaph, Substantiv. Inschrift auf einem Grab, die zeigt, dass durch den Tod erworbene Tugenden rückwirkende Kraft haben.». Und Samuel Johnson nennt als Grund für die freundliche postume Wendung der Dinge, dass in Grabschriften nicht unter Eid gesprochen werde. «Die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit», lautet die humane Maxime. So verwundert es nicht, wenn der Romantiker William Wordsworth fragt: «Wo sind all die schlechten Menschen begraben?» Und Guthke kommentiert: «Könnten die Toten am Auferstehungstag ihre Grabschriften lesen, würden viele von ihnen sicher glauben, man hätte sie im falschen Grab bestattet.»
Man sieht, es geht ziemlich vergnüglich in diesem kulturhistorischen Kompendium der Grabschrift zu. Ein ganzes eigenes Kapitel ist unter dem Titel «Wer zuletzt lacht» den «komischen Grabschriften» gewidmet. Wo sonst nichts mehr hilft, kann nur noch der schwarze Humor weiterhelfen, und das tut er denn auch reichlich in diesem mit sprechenden witzigen Zitaten gesegneten Buch. Aber anders als zahlreiche einschlägige Anthologien, die sich nach dem unwiderleglichen Motto: «Hin ist hin!» das Überleben von Witz und Humor gerade auf den Friedhöfen angelegen sein lassen, hat Guthke auch durchaus Ernsthafteres im Sinn. Die «Epithaphologie», wie der eindrucksvolle Name des Faches lautet, die Wissenschaft von den Grabsteinen – und da zumal den Grabschriften – ist für ihn zu Recht eine seriöse Wissenschaft. Ein eigenes Kapitel über Grabschriften für Tiere («Fast menschlich, aber treu») widerspricht dem nicht.
Kultur- und literaturhistorische Themen verbinden sich mit denen einer historischen Anthropologie, die nach den Konstanten, aber auch dem tiefreichenden historischen Wandel der Begräbniskultur fragt. Die Studie ist umsichtig, reflektiert und klug. Sie ist auf vielen, ja, wie es scheint, auf fast allen Begräbnisfeldern aller Kontinente zu Hause – vielleicht manchmal auf zu vielen. Die unüberschaubare Vielzahl der Belege geht bisweilen etwas zu sehr ins Detail. Das viel zu kompakte, absatzarme Druckbild des Buches tut ein übriges: der Leser fühlt sich an den Pariser Friedhof Père Lachaise erinnert, wo sich die Grabmonumente schon bald nach der Eröffnung 1804 ins Gedränge kamen, «von der steinernen Trübseligkeit der kargen und überfüllten innerstädtischen Friedhöfe» ganz zu schweigen.
Guthke spannt den zeitlichen Rahmen von der Antike bis zur jüngsten Gegenwart. Seine enorme Belesenheit profitiert auch von seinem 1990 erschienenen Buch «Letzte Worte», deren steinerner Ausdruck die Grabschriften oft, aber keineswegs immer sind. Die kulturhistorisch und anthropologisch zentrale Frage nach Dauer und Wandel in der Geschichte der Grabschrift beantwortet Guthke differenziert. Mit dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky betont er den Unterschied zwischen der «retrospektiven» antiken Grabschrift, die das ehrenvolle innerweltliche Gedächtnis der Verstorbenen pflegt, und der «prospektiven» christlichen, die Auferstehung und Jüngstes Gericht im Blick hat und alle «Hybriditätsgesten» von Ruhm und Stolz zugunsten der Demutsgesten verpönt.
Besonders eindrucksvoll sind Guthke neben einem Kapitel über den skandalösen Ausschluss der Selbstmörder aus der Friedhofsruhe einer christlichen Liebesreligion die Passagen über die Bedeutung des «Todes des Anderen» (Levinas und Ariès) für die Überlebenden gelungen. Gräber, Grabsteine, Grabschriften sind neben der Erinnerung und den kultischen Gegenständen liebevollen Andenkens das vielleicht wesentlichste, was den zurück- und alleingelassenen, verlassenen Überlebenden von ihren Toten bleibt – eine Existentialie des endlichen und doch nicht ganz toten Daseins.
Um so tiefer reicht der Bedeutungswandel der Grabschrift. Schon immer war sie, das Monument der Erinnerung, paradox vergänglichkeitsanfällig. Welch bittere Ironie: auch Denkmäler vergehen. Dieser natürliche Verfall aber wird von der Begräbniskultur, oder besser: Unkultur einer Moderne überboten, die im Zuge ihrer allgemeinen Todesverdrängung ihre Toten kommentarlos in ein immer unpersönlicheres Grab bringt, das schliesslich auch kein Pflegehindernis mehr für die Rationalität der Rasenmäher ist: «Kein Name, keine Lebenssumme, kein Leben: der Tod ist absolut.»
Doch ist das nicht Guthkes letztes Wort. Er entdeckt vielmehr etliche Anzeichen für die Wiederkehr des persönlichen Begräbnisses, und da auch der Grabschrift. Der Phönix, der in den vergangenen Epochen das Zeichen von Wiederkehr und Wiedergeburt war, ist heute das «Symbol der Grabschrift selbst geworden». Dieser verheissungsvolle Schlusssatz taugt schon fast für die Grabschrift eines «Epitaphologen».
besprochen von LUDGER LÜTKEHAUS, geboren 1943, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.