Kants Ethik, verwerfen oder retten?
Ein pragmatischer Vorschlag Unter Kants vielfältigen Hinterlassenschaften an die Gegenwart ist seine Ethik, neben seiner Friedenspolitik, die heute vielleicht lebendigste. Die sich abzeichnenden Möglichkeiten von Humangentechnik und Gentechnologie motivieren auch zur Suche nach Grenzen des Verfügbaren im Menschen. In striktem Gegensatz zu allem Nutzendenken verspricht Kants Vernunftethik Auswege aus dieser zwiespältigen Situation.
Wir können Kant nicht aufgeben, weil er wie kein anderer unsere heutige Menschenrechtskultur artikuliert. Wir müssen Kant aufgeben, weil wir seinem Rationalismus nicht folgen und seine Moral nicht teilen können. Wir können Kant nicht aufgeben, weil er wie kaum ein anderer die Gefahren der modernen Kultur gesehen und im Begriff der Vernunft ein unerlässliches Heilmittel offeriert hat. Wir müssen Kant aufgeben, weil wir seinen Transzendentalismus, die Idee der Begründung der Vernunft aus sich selbst heraus, nicht akzeptieren können. Das klingt nach einer schwierigen Situation, in die uns Kant gebracht hat. Versuchen wir zunächst zu verstehen, wie das geschehen ist.
Kant wurde nicht als Autor der «Kritik der reinen Vernunft» (KrV) von 1781 geboren. Sein Weg hin zu diesem epochalen Werk ist lang und windungsvoll. Wie jedes Buch ist auch dieses eine Antwort auf davor-liegende Fragen – Fragen, die erst formuliert werden mussten, ohne dass das Buch bereits zur Verfügung gestanden hätte. Welche Bedeutung können die Erkenntnisziele der traditionellen Metaphysik angesichts der modernen Wissenschaft, insbesondere der Physik Newtons, noch besitzen? In welchem Ausmass können Philosophen, die Alternativen für metaphysische Grundlagen suchen, sich auf die menschliche Natur berufen? Wenn die Metaphysik nicht mehr trägt, wie vertrauenswürdig ist die menschliche Natur? Mit diesen Fragen sehen wir Kant 1765 in einer rundum skeptischen Haltung – gegenüber der in Deutschland dominanten Metaphysik, die in den Gestalten von Leibniz, Wolff und Baumgarten den Anspruch vertritt, Einsichten in die rationale Ordnung der Welt gewinnen zu können, und ebenso gegenüber den schottischen Wissenschaftern der Menschennatur, Hutcheson, Hume und Smith, die alle metaphysischen Absichten aufgegeben haben und dennoch für Mensch und Gesellschaft vorteilhafte psychologische Kräfte freilegen zu können glauben. Kant ist beiden Schulen gegenüber kritisch, und das Ausmass seiner Kritik bestimmt das Niveau und die Dramatik seines eigenen Entwurfs.
Diese kritische Haltung gegenüber der Metaphysik erschliesst sich bereits einem oberflächlichen Verständnis von Kants berühmtem Buch, anhand von dessen Absicht, die «dialektischen», sprich selbstwidersprüchlichen Verwirrungen zu klären, in die sich die Vernunft anhand der «absoluten Ideen» von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit verwickelt. Kants konstruktive Analyse des menschlichen Erkennens führt zu dem Fazit, dass die Gegenstände solcher Ideen nicht erkannt werden können, weil jede Erkenntnis auch den Sinnen entspringen muss. Es bei diesem negativen Ergebnis zu belassen, bedeutete allerdings nicht nur eine Kritik, sondern eine Selbstaufgabe der Vernunft. Wenn wir unser sinnvolles Fragen auf die engeren Themen der Wissenschaft beschränken müssten, würden wir jede umfassendere Lebensorientierung verlieren und gerieten gar in Gefahr, zum Opfer eines seinerseits undurchschauten Wissensprozesses zu werden. In einem Programm der Vernunft, das diesen Namen verdient, müssen die metaphysischen Ideen deshalb auch nach der Metaphysik einen positiven Sinn gewinnen und können nicht einfach gestrichen werden.
Rousseaus Kulturkritik
Warum kann hierfür nicht dennoch die menschliche Natur eine Handhabe bieten, wie die optimistischen Schotten dachten? Mit «menschlicher Natur» ist bei ihnen das menschliche Begehren und Fühlen gemeint, auf das sie sich mit Begriffen wie «moralischer Sinn», «Sympathie» oder «Selbstinteresse» beziehen. Hume und Smith entwerfen auf diesen Grundlagen ein hoffnungsvoll ausbalanciertes Reich einer ökonomisch prosper-ierenden Gesellschaft. Ihre Hoffnungen sind freilich einseitig. Rousseau setzt diesen Selbstverständigungsschriften des Frühkapitalismus in seinen zwei «Preisschriften» und im «Emile» die sozialkonstruktive Einsicht entgegen, dass alle menschlichen Wünsche und Gefühle sozial formbar und Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft sind. Hobbes’ berühmter «Naturzustand» ist ihm zufolge gerade kein Naturzustand, sondern die Eigennutzplattform der ökonomisch dominierten Gesellschaft. Einzig die Vernunft, allerdings verwickelt in die Leidenschaften, kann für eine – notgedrungen immer begrenzte – Distanz zu den Formierungskräften der Gesellschaft sorgen. Rousseaus Kulturkritik hat auf Kant eine tiefere Wirkung als der häufig genannte Skeptizismus Humes. Die zunächst mit Hutcheson geteilte Gefühlsethik wird aufgegeben, die Formbarkeit der menschlichen Natur als Herausforderung an die gesamte Vernunft begriffen und als deren wichtigste Aufgabe die Orientierungshilfe für die Gesellschaft und ihre Institutionen, Moral, Recht und Politik, gesehen. Der Geschichte trotz allem eine rationale Botschaft zu entlocken, wird als Möglichkeit nicht verworfen.
Solche weitreichenden Pläne werden durch Rousseaus Hinweise auf die Selbstzerstörungskraft der instrumentellen Vernunft, die künstliche Expansion der unersättlichen Begierden und die Manipulierbarkeit der Wünsche allererst angestachelt. Kant übernimmt Rousseaus sozialen Konstruktivismus, die These der Selbsterzeugung der Kultur und insbesondere Rousseaus Fokus auf die Triebkräfte «Vernunft» und «Freiheit» in diesem kulturellen Prozess. Mit der für Kants gesamtes Spätwerk zentralen Verbindung von Vernunft und Freiheit, koppelt sich die moderne Philosophie dezidiert ab von der Antike, die Kant phasenweise intensiv studiert hat, insbesondere die ihm nahestehende Stoa, die er aber letztlich als ungenügend empfindet. Die moderne Gefahr der instrumentellen Selbstversklavung ist zu drastisch geworden, die stoische Besänftigung der Natur unglaubhaft und impraktikabel. In Kants Kritik der spätantiken Schulen als «unpraktisch», kündigt sich ein eigener, radikalisierter Lösungsversuch an, der sich bewusst und entschieden dem Massstab unterstellt, praktisch zu sein.
Kant hält an Rousseaus Kulturkritik zeitlebens fest, sucht aber gleichwohl eine Möglichkeit, ihr Vernunft und Freiheit zu entziehen. Sein Lösungsversuch stützt sich auf den Gegensatz von Passivität und Aktivität, Rezeption und Konstitution. Die Menschen sind sich selbst teilweise zwar gegeben, sie müssen sich aber auch erst zu Menschen bilden. Gegeben sind sie sich in ihren Sinnen, einschliesslich ihrer begehrenden sinnlichen Natur, bilden können sie sich mit Hilfe ihrer Vernunft. Eine Einheit der beiden Teile ergibt sich nur anhand der Vernunft. Die wichtigsten Elemente von Kants kritischer Philosophie erschliessen sich aus diesen Thesen. Die Vernunft ist selbständig und nicht auf die Sinne rückführbar. Die Vernunft ist aktiv und praktisch, und letztlich gibt es nur eine Vernunft, eben die praktische. Das Ziel des Erkennens, des Lebens, der Kultur, der Gesellschaft, der Geschichte, ist eine anzustrebende Einheit von Sinnlichem und Vernünftigem unter Leitung des letzteren. Kants Antwort lautet, dass Erkenntnis, Moral, Recht, Religion als menschliche, genauer vernünftige «Erzeugnisse» aufgefasst werden müssen, und nicht als Gegebenheiten. Diese «kopernikanische Wende» ist jedoch doppeldeutig; Kant hat sie sowohl theoretisch wie praktisch verstanden, während es doch einzig die praktische Wende sein kann, die aus der erkannten Problematik herausführt.
Doppeldeutige Freiheit
In der «Kritik der reinen Vernunft» ist es die Unterscheidung zwischen den «Kategorien» und den «Ideen», in der sich diese Ambivalenz lokalisieren lässt. Die Ideen, wie die von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, gelten als nicht erkennbar, aber dennoch nicht als sinnlos, vielmehr als Aufgaben. Die mit ihnen verbundene Absolutheit wird unter dem Stichwort der «regulativen Ideen» praktisch uminterpretiert: sie sind nicht etwas, das erkennbar, sondern etwas, das herstellbar ist. Herstellbar freilich auch nur annäherungsweise; sie sind Handlungsziele, die nicht real erreicht werden können, die aber für die Möglichkeit des Handelns notwendig sind. Unter diesen Ideen ist Freiheit die für Kant wichtigste, weil er sie auch in ihrer alltäglichen Manifestation für «a priori» gegeben hält und sie deshalb glaubt mit seinem apriorisch-theoretischen Begriff verbinden zu können. Was mit «praktischer Interpretation» von Ideen gemeint sein kann, lässt sich deshalb anhand von Freiheit als der vorrangigen Idee am besten erklären.
Freiheit ist einerseits theoretische Freiheit und damit etwas, das nur gedacht werden kann. Wie bei den anderen Ideen, fehlt die Verankerung in den Sinnen, die für Erkenntnis nötig ist. Obwohl nicht erkennbar, ist Kant dennoch der Meinung, dass Freiheit für Naturwesen wie uns nicht unmöglich ist. Diese nicht unmögliche Freiheit ist die praktische Freiheit des Handelns. Kants Grundidee einer Versöhnung zweier Anforderungen ist die: wir Menschen gehören zwar der Natur an und sind insofern kausal bestimmt und nicht frei; weil wir aber auch denken können, haben wir teil an einer Sphäre, die der Kausalität entzogen ist. Inwieweit wir durch Einbezug in diese Sphäre frei sind, können wir nicht wissen, aber da wir es denken können, ist es nicht unmöglich, dass wir frei sind. Und sogar noch stärker: es kann nie bewiesen werden, dass wir nicht frei sind. So weit, so gut. Selbst wenn dem so ist: inwiefern ist die Idee der Freiheit nicht nur eine, deren Möglichkeit nicht widerlegt werden, sondern die konkrete Gestalt annehmen kann – so konkret, dass sie informative Aufschlüsse über Moral, Gott und Unsterblichkeit erlaubt?
Kant findet seine Antwort in drei Schritten. Erstens erweitert er den Begriff Freiheit so, dass er praktische Vernunft und diese wiederum so, dass sie Moral einbezieht. Freiheit, praktische Vernunft und Moral sind damit als extensional gleichbedeutend zu verstehen. Zweitens entdeckt er an der Alltagsmoral Züge, die berechtigen, ihr tatsächlich einen Freiheitscharakter zuzusprechen. Gemeint ist insbesondere die voraussetzungslos geltende moralische Pflicht als Kern der Moral, die (im Geist Rousseaus) verhindern soll, dass Menschen ihren Gefühlen ausgeliefert sind. Drittens beantwortet er die anhaltende Skepsis gegenüber der in seiner Antinomiendiskussion eindringlich demonstrierten Unzugänglichkeit der Freiheit mit praktisch nivellierten Wissensansprüchen. Ob wir vielleicht doch unfrei sind, «das geht uns im Praktischen (…) nichts an, sondern ist eine bloss spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können.» (KrV A803). Freiheit und Moral als alltägliche Phänomene so wieder eingesetzt, stützt er auch noch die Ideen von Gott und Unsterblichkeit durch den Nachweisversuch, die Forderungen der Moral müssten eine berechtigte Hoffnung auf ein Gelingen unterstellen, das seinerseits nur durch eine «höchste Vernunft» garantiert werden kann. Aus der alltäglichen Moral ergibt sich ein Glaube an Gott.
Sich selbst Gesetze geben
Kant scheint damit das Unmögliche ermöglicht zu haben: einerseits die Metaphysik, ähnlich wie Hume, zu kritisieren, anderseits nicht in einen bodenlosen Skeptizismus zu verfallen, sondern ihre Inhalte praktisch zu rehabilitieren. Der Grundstein dieser Wendung, die Moral, beruft sich nicht auf einen transzendenten Gott, nicht auf ein theoretisch einsehbares Gut, aber auch nicht auf die wankelmütigen menschlichen Begierden. Die Ethik beruft sich einzig auf die in der Alltagsmoral in Erscheinung tretende Fähigkeit der «Selbstgesetzgebung», auf die praktische menschliche Fähigkeit, das eigene Handeln nach einem selbstauferlegten Gesetz zu leiten und zu entwerfen. Die so verstandene Moral erweist sich damit sogar als der einzige «objektiv reale» Stützpunkt der «Möglichkeit der Erfahrung» (KrV A808), insofern als die Einheit der Erfahrung einzig durch freiheitliches Handeln hergestellt werden kann.
Was man Kants halben Pragmatismus nennen könnte, hat Folgen für alle Aussagen seines Systems. Ein halber ist sein Pragmatismus deshalb, weil er erst an der Grenze des Erkennbaren einsetzt und auch gegenüber der Moral den Absolutheitsanspruch nicht völlig aufgibt. Beim Erkennen: Warum nur die Ideen und nicht auch die Verstandeskategorien unter ihrem «nützlichen Gebrauch» (KrV A799) betrachten? Warum nicht auch die Religion direkt befragen, wieweit sie nützlich sein kann? Und warum nicht die Moral, wieweit sie im Rahmen unserer heutigen Ansichten nützlich sein kann, unter Einbezug von Rousseaus Misstrauen? So weit will Kant nicht gehen. Er versucht, die Motive der Metaphysik zwar praktisch zu retten, stützt sich dabei aber selbst auf eine metaphysische Konzeption der Moral. Sehen wir genauer zu, wie das geschieht.
Kant entdeckt die praktische Vernunft in unserer Alltagsmoral. Eine solche Entdeckung wäre nicht ernst zu nehmen, wenn damit nur das kategorische Gebieten der durchschnittlichen moralischen Normen gemeint wäre. Dass diese Normen scheinbar voraussetzungslos gebieten, belegt noch nicht einmal irgendeine Vernünftigkeit, geschweige denn die von Kant gesuchte, jeder flüchtigen Natur gegenüber unabhängige und selbst voraussetzungslose Art «der» Vernunft. Der zweite Schritt, Vernunft, Freiheit und Moral gleichzusetzen, bedarf also einer theoretischen Rekonstruktion aller beteiligten Phänomene. Kants Schlüssel dafür liegt in einer neuen Fassung des Begriffs «Wille». Die übliche Auffassung von einem vernünftigen Wollen liegt darin, dass zwischen Ziel und Mittel, Wünschen und Handlung, ein angemessenes Verhältnis bestehen muss. Zu unterstellen ist dabei, dass mindestens die Ziele selbst, eben Wünsche oder Interessen, nicht unvernünftig sind und dass man zwischen guten und schlechten unterscheiden kann. Für Kants radikalisierte Skepsis ist das immer noch instrumentelle Vernunft. Eine intrinsische, sich selbst erzeugende und darin völlig makellose Vernunft ergibt sich nur dann, wenn das Wollen sich gleichsam an sich selbst läutert. In diesem Fall gebietet es sich selbst, oder – den berühmtesten Gedanken von Kants Ethik vorwegnehmend – es gebietet sich «kategorisch» und nicht nur «hypothetisch» (oder voraussetzungsvoll). Doch wie soll dieser Münchhausenaufstieg aus der befleckten Natur möglich sein?
Kants Texte, vorrangig die «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» (GMS) von 1785, legen vor allem zwei Argumentationen nahe. Einmal das Argument, dass jedes Wollen auf ein Ideal in Gestalt eines Vernunftgesetzes rückbezogen sein muss, um ein sinnvolles Wollen sein zu können. Wie in der Erkenntnis die «Kategorien» vorausgesetzt sind, so im Handeln das «Gesetz». Und weil das Gesetz ein praktisches Gesetz ist, gebietet es universal. Dass es universal gebietet, heisst, dass sich das ihm sich unterstellende Wollen immer daraufhin kontrollieren und korrigieren muss, dass sein Wollen mit dem gleichen Wollen aller anderen Wollenden verträglich ist. Das eben ist die Forderung des «Kategorischen Imperativs» in seiner ersten und wichtigsten Version (GMS 421), wonach die eigene Maxime zum «allgemeinen Gesetz» muss werden können. In diesem Gedanken sind eine Reihe schwindelerregender Übergänge enthalten, und er lebt von der rationalistischen Suggestion, so etwas wie ein praktisches Gesetz müsse es ausserhalb der Handelnden bereits in der Welt irgendwo geben. Wünschenswert wäre deshalb eine Lektüre von Kants Argument, die von solchen Annahmen frei wäre und alle Voraussetzungen allein aus einer nicht-metaphysischen Beschreibung des Handelns gewänne.
Angestossen vor allem durch Arbeiten der amerikanischen Rawls-Schülerin C.Korsgaard, haben in den letzten Jahren einige Autoren versucht, einen solchen Nachweis allein unter Berücksichtigung der Mikrostruktur des Handelns zu erbringen.1 Eine vielversprechendere Lektüre umgeht die Rede vom «Gesetz» und versucht statt dessen zu zeigen, dass das überlegende Wollen zur Stabilisierung seines Wollens die Unterstellung eines Werts des Überlegens benötigt, sowie indirekt die Unterstellung der Werthaftigkeit der überlegenden Person und gleichfalls aller anderen, die zum Überlegen fähig sind. Dieser Vernunftwert, den Kant ebenfalls anzusprechen scheint in seiner Forderung, dass «vernünftige Wesen» als «Zweck an sich selbst, nicht bloss als Mittel» betrachtet werden sollen (GMS 429), könnte dann die Grundlage für die moralischen Pflichten im einzelnen sein, sowie insgesamt für eine kantianische Moral, deren Merkmal ja auch ist, dass Menschen einen «innern Wert» oder «Würde» besitzen, und nicht bloss einen «Preis» oder instrumentellen Wert (GMS 434). Die neueren Debatten über Embryonenforschung scheinen solcher Versicherungen dringend zu bedürfen.2
Obwohl auf den ersten Blick erfreulich schlicht, verwickelt sich auch diese Lektüre von Kants zentralem Begründungsversuch in eine Reihe von Schwierigkeiten, an denen sie letztlich scheitert. So verstärkt diese Lesart sogar noch die bereits bei Kant zu findende Tendenz, die Funktion der Moral darin zu sehen, weniger die konkreten Menschen, als vielmehr ihre Vernunftfähigkeit zu schützen; so bei einem Selbstmordversuch den möglichen Selbstmörder vor sich im Namen der «Menschheit». Anstatt vor Instrumentalisierung bewahrt zu werden, werden die konkreten Menschen zugunsten der in ihnen kostbar aufgehobenen Vernunft instrumentalisiert. Ausserdem folgt die noch eigenartigere Konsequenz, dass die Moral und nur die Moral zum Handlungs- und Lebensinhalt wird, während Kant eigentlich im «höchsten Gut» Moral und Glückseligkeit zu versöhnen hoffte. Wenn nämlich das Handeln sich nur anhand der vernünftigen Werthaftigkeit stabilisieren kann und das Ideal in dieser Vernünftigkeit liegt, dann sind die durchgängig vernunftlosen Wünsche nur noch störend, und sie im Namen des Glücks zu erfüllen, kann, ja muss am Ende ausgeklammert bleiben. Alle moralischen Pflichten sollten in diese eine Zielsetzung hineingesogen werden: die eigene Vernünftigkeit um ihrer selbst willen zu verfolgen, das ganze Leben der Vernunft zu widmen.
Inwiefern, so könnte man einwenden, sind diese Kant noch einmal überzeichnenden Folgen unausweichlich? Notgedrungen dann, wenn nicht eine Mischung von Vernunft und Wünschen, oder Wünsche einer bestimmten Art, sondern nur die Überlegenskraft in ihrer Abstraktheit wertspendend und damit zielführend sein soll. Schwächt man die von Kant so energisch betonten Gegensätze zwischen Vernunft und Neigung, Pflicht und Neigung, Moral und Glückseligkeit nur ein wenig ab, so bricht der ganze «transzendentale» Begründungsversuch zusammen, und Kant müsste sich mit den bei Rousseau bereits gesehenen «unreinen» Verbindungen von Gefühlen und Selbstkontrolle zufrieden geben. Die Heroik des Kantischen Entwurfs wäre dahin.
Ist Kants Moral stückweise zu haben?
Da die wenigsten der heutigen Leser Kants an einem minutiösen Grundlagenargument im Kantischen Stil interessiert sind, sondern vielmehr an bestimmten Kernaussagen der Kantischen Ethik, ist die zweitwichtigste Frage, wie viele dieser Bruchstücke gesondert bezogen werden können. So unterstützt Kant vor allem drei Überzeugungen, die wir heute in westlichen Gesellschaften öffentlich nicht in Frage stellen wollen und können: dass mindestens erwachsene Menschen eine eigene Würde besitzen, dass hinsichtlich dieser Würde alle Menschen gleich sind, und dass Moral eigenständig ist, ein Tun des Richtigen um des Richtigen willen. Daneben haben wir Schwierigkeit, die Pflicht nur um der Pflicht willen zu befolgen, nicht etwa aus Mitgefühl. Wir sind nicht bereit, mit Kant Verbote des Lügens oder Stehlens ausnahmslos einzuhalten, also auch dann, wenn durch Nichtbefolgen grosses Unheil zu verhindern wäre. So etwas wie Kants «selbstbezogene Pflichten», beispielsweise die eigenen Talente zu fördern, sind nichts, was uns im durchschnittlichen Alltag Kopfzerbrechen machen kann. Wir haben zu uns kein moralisches, sondern nur ein Klugheitsverhältnis.
Die zuletzt abgelehnten Züge der Kantischen Moral sind nicht Altersverirrungen Kants, sondern gültiger Ausdruck des transzendentalen Vernunftbegriffs. In der Pflicht handeln eigentlich wir, die wir Vernunftwesen sind, und demgegenüber sind die Unterschiede in den Gefühlen, ob angenehmen oder unangenehmen, belanglos. In der Vernunft verankert, ist jeder Pflichtverstoss gleichsam eine Selbstzerstörung und damit der «grösste anzunehmende Unfall». Unser Selbstverhältnis ist im optimalen Fall ein moralisches, denn im Selbstinteresse sind wir willkürliche Existenzen, uns selbst ein Zufall und eigentlich sinnlos. Aufgrund der sich so erweisenden hohen Kohärenz von Kantischer Moral und Theorie, können wir nicht umhin, auch die in der Theorie zweigeteilte Person abzulehnen. Alle meist mit «Kants Rigorismus» assoziierten Züge seiner Moral entspringen konsequent der banalisierten menschlichen Natur, der nur noch zu kontrollierenden «Sinnlichkeit». Wenn wir aber diese Seiten von Kants Moral nicht teilen können und wir überdies, soweit wir fundamentalistische Philosophen sind, seine Begründungsidee für widersprüchlich halten, müssen wir wohl auch die Theorie verwerfen.
Dass wir unser sicher genug sind, bestimmte Pflichten nicht ausnahmslos einzuhalten, obwohl sie aus Kants Theorie folgen, mag auf den ersten Blick irritierend erscheinen. Welchen Anspruch trägt eine solche Ethik noch, wenn man sie durch Intuitionen einfach entkräften kann? Hat man jedoch die erste Verblüffung überwunden, sollte man akzeptieren, dass philosophische Theorien Kürzel von Ansichten sind, die auch ohne sie gelten und die, hinreichend geklärt, einer Stütze gar nicht bedürfen. Theorien helfen bestenfalls, die Ansichten zu klären, manchmal erreichen sie aber auch das Gegenteil. Mit dieser gemässigten Erwartung gegenüber einer philosophischen Theorie kann man nun auch gelassener dem Problem entgegentreten, das dadurch zu entstehen scheint, dass Würde, Gleichheit und intrinsisch Gutes, drei kaum entbehrliche Elemente der westlichen Moral, mit Kants Theorie ebenfalls dahin zu schwinden drohen. Wiederum ist der Zusammenhang stimmig. Die Würde käme, wenn moralischer Wert aus dem Wert der Vernunft entspränge, allen vernunftfähigen Menschen ungeachtet ihrer übrigen psychischen und physischen Erscheinungsweisen zu – eine säkulare Annäherung an die christliche Seele, wie sie optimaler wohl nicht konstruierbar ist. Entsprechend gibt es Skeptiker, die Würde für ein christliches Ideologem halten. Nicht selten sind sie auch politische Liberale, die in Würdeappellen nur Unterdrückungsmethoden sehen, sich selbst aber mit der Illusion behelfen, mit Interessen und instrumenteller Vernunft sei eine lebenswerte Gesellschaft schon hinzukriegen.3 Was lässt sich diesen leider allzu realen Skeptikern noch entgegenhalten, wenn die Berufung auf Kant nicht mehr zieht?
Kant, pragmatisch
Am besten die Berufung auf Kant, aber mit einem Augenzwinkern. Die Berufung auf einen Kant, der sich nicht durch einen impraktikablen Skeptizismus dazu hat verführen lassen, eine logische Theorie der Moral entwickeln zu wollen. Auf einen Kant, der eine völlig praktische Wende vollzogen hat und sich nicht genötigt sieht, eine transzendentale Voraussetzung allen Handelns zu finden. Der unsere Würde hinreichend darin belegt sieht, dass wir einander und uns selbst in unseren Lebensversuchen beachten; der unsere darin manifestierten menschlichen Eigenschaften als ausreichend ansieht, um sie moralisch zu schützen und der eine Gesellschaft für ärmer hält, in der die Menschen einander nicht achten, in der ihnen der Sinn für Würde fehlt. Dieser pragmatistische Kant hätte dem realen Würdeskeptiker die Augen über den Wert seines Tuns zu öffnen versucht, mit Vergleichen wie dem Farbsehen und dem Schwarzweiss-Sehen. Er hätte ihm vorgeschlagen, Würde letztlich als Konvention zu betrachten, die man nicht beweisen kann, aber die zu haben das Leben erträglicher macht. Vielleicht hätte er den Skeptiker damit überzeugt, vielleicht auch nicht.
Kants Position ist heute nicht mehr zu ändern. Wir können sie allerdings ehren, indem wir sie zum Anlass nehmen, seine halbe Wendung ganz zu vollziehen.
1 So auch der Schreibende: «Die gute Handlung», Teil IV. Akademie Verlag, Berlin 2000.2 S.C. Geyer (Hg.), «Biopolitik. Die Positionen». Suhrkamp, Frankfurt 2001. M. Kettner(Hg.), «Biomedizin und Menschenwürde». Suhrkamp, Frankfurt 2004. 3 S.N. Hoerster. «Ethik des Embryonenschutzes». Reclam, Stuttgart 2002; ders., «Ethik und Interesse». Reclam, Stuttgart 2003.
Anton Leist ist Professor für Philosophie am Ethik-Zentrum der Universität Zürich