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Kants Botschaft

Die Permanenz der Aufklärung «Aufklärung» ist nicht nur die Bezeichnung einer von Kant entscheidend geprägten Epoche. «Aufklärung» ist auch der bis heute anhaltende Prozess des Ringens um eine postreligiöse und postmetaphysische Orientierung. Ein Experiment ohne Gewissheit, jemals mündig zu werden.

Vor 200 Jahren starb Immanuel Kant – gegenwärtig Anlass für zahlreiche Würdigungen und die Publikation einer Reihe von neuen Biographien. Doch Kant ist nicht nur historisch und im Rückblick von Interesse; sein Werk bietet noch immer, und in der Gegenwart eher zunehmend, eine Inspirationsquelle für die aktuelle Philosophie. Aus diesem Grund eröffnen wir mit dem Beitrag von Helmut Holzhey, der die Bedeutung des Philosophen für das 18. Jahrhundert umreisst, eine Folge, die nach der Relevanz der «Revolution der Denkart» für das philosophische und politische Denken in der Gegenwart fragt. Hans-Johann Glock (University of Reading), Anton Leist (Universität Zürich), Andrea Esser (Fachhochschule Pforzheim) und Thomas Pogge (Columbia University, New York) werden in den nächsten Ausgaben der «Schweizer Monats-hefte» Kants nachhaltige Wirkung für die gegenwärtigen Diskussionen in der theoretischen Philosophie, der Ethik, der philosophischen Ästhetik und der Philosophie der internationalen Beziehungen einzuordnen suchen. (Red.)

Gewiss sagt man etwas Richtiges, wenn man die Periode zwischen 1690 und 1790 als das Jahrhundert der Vernunft beschreibt, das heisst als das Zeitalter, in dem sich die Vernunft anschickte, Denken und Leben der Menschen in Europa zu bestimmen. Doch bleibt diese Kennzeichnung unzureichend. Schon im 17. Jahrhundert findet sich ein ausgeprägter Rationalismus. Der schärfere Blick auf den Geist des dixhuitième lässt es als ein Zeitalter des Menschen erscheinen. «Was ist der Mensch?» wird zur Leitfrage; die Anthropologie tritt ins Zentrum der geistigen Interessen. Besonders ausgeprägt zeigt sich das in Schottland, wo durch Autoren wie David Hume, Adam Smith und Adam Ferguson eine «Wissenschaft vom Menschen» entwickelt wird. Diesem Trend zollt auch der alte Kant nochmals Respekt, wenn er in seiner 1800 veröffentlichten «Logik» äussert, dass man «im Grunde» die philosophischen Fragen – was ich wissen kann, was ich tun soll und was ich hoffen darf – mitsamt ihrer Beantwortung in Metaphysik, Moral und Religion zur Anthropologie rechnen könnte. Der Mensch wird nicht mehr nur philosophisch in seinem Wesen, sondern ebenso nach seiner physischen, psychischen, sozialen und geschichtlichen Erscheinung zum Thema. Neuartig ist dabei sowohl die Breite, in der das geschieht, wie insbesondere die methodische Autonomie, in der Wissenschaft und Philosophie das Menschsein zum Gegenstand von Beobachtungen und Forschungen machen: Die neue Anthropologie entwickelt sich unabhängig von der christlichen Lehre, die den Fokus auf den Menschen als ebenbildliches Geschöpf Gottes und erlösungsbedürftigen Sünder richtet. Das theologische Bild vom Menschen verblasst. Auch wenn atheistische Tendenzen, wie sie insbesondere in der radikalen französischen Aufklärung auftreten, eine Ausnahme bleiben, gibt die religiöse Tradition nicht mehr die methodische Orientierung vor. Die anthropologische Wissbegierde kann sich frei entfalten. Neben dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen kommt in der Analytik des Menschen ganz neu die Relevanz seines Gefühlslebens zur Geltung. Einschlägige Zeugnisse dafür liefert der Pietismus, aber auch die zeitgenössische Philosophie, und zwar zunächst in Grossbritannien, wo Shaftesbury den Gefühlszugang zur Natur als Alternative zur wissenschaftlichen Naturerkenntnis preist und Francis Hutcheson eine Ethik begründet, in der das moralische Gefühl als Instanz der Beurteilung von «gut» und «schlecht» fungiert.

Ich kann es auch so formulieren: Im 18. Jahrhundert gewinnt der aus seiner vorgängigen Einbindung in das System einer göttlich verbrieften Weltordnung gelöste Mensch erstrangiges Interesse. Dieses Interesse bezieht sich vor allem auf die empirischen Momente des Menschseins, d.h. auf Erkenntnisse, die mittels Erfahrung von der körperlichen Natur des Menschen, seiner Psyche und seinem Verhalten, seinem Leben in der Gesellschaft, seiner Geschichte usw. zu gewinnen sind. Eine Anthropologie, die dieses Interesse verfolgt, gerät dabei in Konkurrenz zu einer theologisch-metaphysisch fundierten Philosophie des Menschen. Und genau hier setzt Aufklärung ein; denn sie ist der – bis heute unabgeschlossene – Prozess des Ringens um eine postreligiöse und postmetaphysische Orientierung aus dem Fundus des Menschseins. Welche Rolle spielt die Vernunft in diesem Prozess?

Das 18. Jahrhundert gilt auch als Jahrhundert der Kritik. Die Ablösung von der Metaphysik, zu der – selbst für aufgeklärte Geister – die allen Menschen zugängliche «natürliche» Gotteserkenntnis gehörte, vollzieht sich nicht ohne Widerstände seitens der alten Ordnung der Dinge. Diese Widerstände gehen ebenso von der Kirche und dem absolutistischen Staat als den institutionellen Repräsentanten dieser Ordnung wie von verbreiteten individuellen Glaubensüberzeugungen aus. Die Auseinandersetzung des Neuen mit dem Alten steht unter dem Leitwort «Kritik». Was unter diesem Namen in Philologie, Ästhetik und Logik methodisch bereits geläufig war, wird nun – zumindest in Frankreich und Deutschland – zum Erkennungszeichen des Philosophen überhaupt, der als Subjekt der Kritik die Vernunft des Menschen etabliert. Alle Meinungen und Interessen, für deren Rechtfertigung man sich bloss auf Autoritäten berufen kann und auf undurchschaute Vorurteile abstützen muss, werden vor ein Tribunal der Wahrheit gezogen.

Kants Werk

Mit den Stichworten «Vernunft», «Mensch», «Kritik» und «Aufklärung» sind auch die Eckpunkte im Denken des Philosophen Immanuel Kant genannt. Sein Werde- und Bildungsgang verläuft entlang den massgeblichen Orientierungslinien des Jahrhunderts; die dreifache Vernunftkritik seiner Hauptwerke bildet die Krisis der Aufklärung in Deutschland, das heisst ihren Höhe- und Wendepunkt. 1724 in Königsberg geboren, wächst Kant unter pietistischem Einfluss auf, atmet aber auch während seiner Schulzeit und dann an der 1740 besuchten Universität seiner Heimatstadt den Geist der von Christian Wolff geprägten akademischen Philosophie. Neben Philosophie studiert er insbesondere Mathematik und Naturwissenschaften.

Unter seinen frühen Publikationen ragt die «Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels» heraus, in der er die Entstehung des Kosmos und des Planetensystems nach den Grundsätzen Newtons erklärt. Die Newton’sche Physik bildet fortan die Basis seiner Naturphilosophie. Johann Gottfried Herder, der von 1762 bis 1764 in Königsberg studierte, erinnert sich an den jungen Privatdozenten Kant: «Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. … Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Emile und seine Héloïse, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen.»

Die Vorlesungen über physische Geographie und über Anthropologie machen Kant bei einem weiteren Publikum bekannt. Aber seine philosophische Liebe gilt doch der Metaphysik und in dieser der Suche nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Naturerkenntnis und den Prinzipien der Moral. Nach dem Durchgang durch eine skeptische Phase, in der ihm Metaphysik auf Gespensterglauben hinauszulaufen scheint, nimmt sein philosophisches Projekt um 1770 sichtbar Gestalt an. Seine Basis bildet die Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, genauer: zwischen Raum und Zeit als den Formen der sinnlichen Anschauung einerseits und den Begriffen des erkennenden Denkens andererseits. Nach mehr als zehn Jahren des Schweigens erscheint 1781 die «Kritik der reinen Vernunft», ein epochales Werk, mit dem acht Jahre vor der Französischen Revolution eine «Revolution der Denkart» einsetzt.

Kant bestimmt in ihm positiv, was wir dank dem Gebrauch unserer Vernunft wissen können, und negativ, wo unserem Wissen prinzipielle Grenzen gezogen sind. Da wir Zugang zu den Dingen nur durch sinnliche Anschauung in Raum und Zeit finden, können sie uns nicht in ihrem An-sich-sein, sondern nur so, wie sie uns erscheinen, präsent werden. Die empirische Erkenntnis der Erscheinungen ist ihrer Form nach nichtempirisch; sie hat zur Voraussetzung: Raum und Zeit als die Formen, in denen unsere Sinne die Natur erschliessen, und die Kategorien (wie Kausalität) als die begrifflichen Formen, mit denen wir die Natur in ihrer basalen Gesetzmässigkeit erfassen. Kant weist zugleich nach, dass sich unser Denken in haltlosen Spekulationen verliert, wenn es sich nicht um den Bezug zur Erfahrung in den Grenzen von Raum und Zeit schert. Die metaphysischen Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, mit denen sich unsere Vernunft über die sinnlichen Bedingungen der Erkenntnis hinwegzusetzen versucht, finden keine positive Antwort mehr, theoretische Vernunft besitzt, wird sie ohne Rückhalt in sinnlicher Erfahrung, d.h. spekulativ, praktiziert, keine Erkenntnismacht. Der Verfasser der «Kritik der reinen [theoretischen] Vernunft» erscheint deshalb Moses Mendelssohn – der wie sein Freund Lessing ein Hauptvertreter der Aufklärung in Deutschland war – als ein «Alleszermalmer».

Die «Kritik der praktischen Vernunft» (1788) setzt die Idee der Freiheit wieder in ihr Recht ein. Wie Freiheit möglich ist, bleibt theoretisch uneinsehbar, aber das ethische Konzept eines sich selbst bestimmenden Willens steht und fällt mit der Annahme, dass der Mensch, der sich dem Gesetz der praktischen Vernunft unterstellt, ein frei handelndes Wesen ist. Auch Gott und Unsterblichkeit werden, wenngleich nicht gleichermassen zwingend, als Postulate eines praktischen Vernunftglaubens rehabilitiert. In der «Kritik der Urteilskraft» (1790) widmet sich Kant dem Problem der systematischen Verknüpfung von theoretischer und praktischer Vernunft, indem er einerseits die ästhetische Erfahrung untersucht, andererseits eine Theorie des Lebendigen entwirft. In den Schriften der 90er Jahre arbeitet er vor allem an der konkreten Ausgestaltung seiner praktischen Philosophie («Metaphysik der Sitten»), indem er nebst einer Tugendlehre eine Rechts- und Staatslehre entwickelt, die in einer Theorie des «ewigen Friedens» kulminiert; ausserdem macht er in der – von der preussischen Zensur verbotenen – Schrift «Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft» (1793) die Konsequenzen namhaft, die die «Kritik» für den christlichen Glauben hat. Umfangreiche handschriftliche Aufzeichnungen zeugen von fortdauernden Studien zur Philosophie der Naturwissenschaften. Als er 1796 seine Lehrtätigkeit beendet, ist er längst zum berühmtesten Philosophen in Deutschland avanciert. Er hat es selbst erleben können, wie sein Werk einen einzigartigen geistigen Umschwung herbeiführte, ist aber auch bereits damit konfrontiert, dass mit dessen Rezeption die Tendenz einhergeht, das von ihm gelegte Fundament in einer Richtung zu revidieren, der er als «kritischer» Philosoph seine Zustimmung versagen muss. Man würde es ihm gönnen, wenn er erfahren könnte, dass er heute der einzige deutsche Philosoph ist, dessen Werk auf der ganzen Welt studiert wird.

Aufklärung in der kantischen Kritik

Als Kant 1784 die Frage der Berlinischen Monatsschrift, was Aufklärung sei, mit seinem berühmten Beitrag beantwortet, ist die Epoche der Aufklärung schon fast an ihr Ende gekommen. Es gibt noch ihre Verfechter (wie Friedrich Nicolai oder Johann Jakob Engel), die sogar bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hinein tätig sind, aber sie werden zunehmend diffamiert oder mindestens belächelt. Für Hegel drückt die Aufklärung schon 1802, zwei Jahre vor Kants Tod, nur noch «die Gemeinheit des Verstandes und seine eitle Erhebung über die Vernunft aus», weil sie nicht «über sich selbst aufgeklärt» ist. Auch die Kirchen sind an der weiteren Abwertung der Aufklärungsphilosophie im 19. Jahrhundert beteiligt. Der konservative Historiker Heinrich Leo prägt 1840 das Wort «Aufkläricht», um «dem ‹Satanswesen der Aufklärlinge› den ihm gebührenden Namen zu geben»; ein Wort, das beispielsweise auch Friedrich Engels wieder verwendet, wenn er Ludwig Büchner als «Dogmatiker des plattesten Abspülichts des deutschen Aufklärichts» bezeichnet. Erst gegen Ende des Jahrhunderts findet der Kampf um den Aufklärungsbegriff mit seiner neutralen Verwendung zur Bezeichnung einer Epoche sein vorläufiges Ende.

Wie steht Kant zum Geist der Aufklärung? Er definiert sie als den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» insbesondere in «Religionssachen» und versteht sie als einen unabgeschlossenen Prozess, den er unter die Forderung stellt: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Worauf soll man aber seinen eigenen Verstand anwenden? Nun, in erster Linie – im Sinne einer «Selbstkultur» – reflexiv auf sich selbst, zum Zwecke der Prüfung des eigenen Denkens auf unbegründete Meinungen und Vorurteile. Damit vertritt Kant zunächst nur ein generelles Postulat der Aufklärung, mit dem er an ihre erste, in Deutschland durch Christian Thomasius (1655-1728) begründete Phase anschliesst. Es geht um die institutionelle Sicherung und individuelle Einübung der Freiheit zu eigenständigem, von Schulautoritäten und religiösen Bindungen unabhängigem Vernunftgebrauch. Und beiden, Kant wie Thomasius, macht im Hinblick auf die Realisierung dieses Programms die Einsicht in die notorische Schwäche der menschlichen Vernunft zu schaffen.

Kant vertieft aber nun das Programm der Aufklärung in entscheidender Weise, indem er es zu einer Kritik der Vernunft, d.h. zu einer Prüfung des mit «letzten» Fragen befassten menschlichen Denkens, umgestaltet. Diese Prüfung kann – man muss sagen: paradoxerweise – nur von der Vernunft selbst geleistet werden. Es gibt keine übergeordnete, auch keine göttliche Instanz mehr, vor der menschlicher Vernunftgebrauch zur Verantwortung gezogen werden könnte. Das ist ein Grundtheorem der Aufklärung und zugleich das bei Kant sichtbar werdende Grundproblem des mündig gewordenen Denkens.

«Aufklärung» entbindet nicht nur den Wissenstrieb, sondern setzt für Kant auch kritisch bei diesem grenzenlosen Trieb an. Die Kritik richtet sich nicht auf die

empirische Erweiterung unseres Wissens, sondern wie gezeigt auf metaphysische Höhenflüge, bei denen der Bereich der Erfahrung spekulativ verlassen wird. Aufklärung leistet diese Kritik, indem sie die Totalisierungen, Hypostasierungen und Syllogismen, deren sich die metaphysikversessene Vernunft bedient, als scheinerzeugende Verfahren entlarvt. So demonstriert die «Kritik der reinen Vernunft»: Der Versuch, der menschlichen Seele Unsterblichkeit zuzusprechen, lebt vom erschlichenen Konzept einer substantiellen Seele; die kosmologische Behauptung der Unendlichkeit der Welt kann ebenso bewiesen werden wie die gegenteilige Behauptung ihrer Endlichkeit; der wichtigste Gottesbeweis basiert auf der falschen Auffassung, dass man irgendeiner Sache und so auch dem höchsten Wesen die Existenz genauso wie andere Eigenschaften zuschreiben kann.

Illusion des Verstandes

Motiviert wird bei Kant solche Kritik durch Erfahrungen, die er selbst mit dem spekulativen Denken gemacht hat. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist die von ihm selbst erlebte und bezeugte Verführbarkeit seines eigenen Geistes zum Spiritualismus. Erzählungen über Geschehnisse im Leben des schwedischen «Geistersehers» Swedenborg schienen einwandfrei spirituelle Erfahrungen unter Beweis zu stellen, sodass Kant – obwohl nicht «von einer zum Wunderbaren geneigten Gemütsart» – plötzlich den Weg zu einer metaphysischen Lehre von Geistern gebahnt sah. Die Ernüchterung folgte alsbald, und mit ihr wurde ihm der zur Metaphysik tendierende Vernunftgebrauch überhaupt suspekt. Die Konsequenz lag auf der Hand; mit Voltaires «Candide» forderte Kant sich selbst auf: «Lasst uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten», d.h. auf das Nachdenken über Fragen verzichten, auf die wir keine allgemein zustimmungsfähigen Antworten finden werden.

Doch war damit auch zugegeben, dass sich der im Medium vernünftigen Denkens arbeitende Philosoph in einer Krise befand. Ehrlicherweise musste er nämlich bemerken: Wird unsere Vernunft ihrem Erweiterungstrieb überlassen und hat dabei, wie vorauszusehen, keinen dauerhaften Erfolg, so gerät sie philosophisch in den Abgrund einer radikalen Skepsis, in dem sie sich selbst aufhebt. Kant holte sich aus dieser Krise heraus, indem er der Gartenarbeit wieder absagte und sich erneut der Metaphysik widmete, um sich zunächst selbst auf das Werk der Selbstzerstörung der Vernunft einzulassen: «Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil.» Das aber nun nicht, «um eine Zweifellehre zu errichten», sondern um eine hier vermutete «Illusion des Verstandes» zu entdecken. «Das Jahr 69 gab mir grosses Licht». Kant erkannte, dass Kritik gefordert sei.

Paradoxie der Kritik

Die kritische Antwort auf die Krise eines Denkens, das sich dem Bedürfnis der menschlichen Vernunft nach metaphysischen Einsichten kritiklos überlassen hat, besteht in einer vorsichtigen Abstandnahme vom problematischen Vorhaben. Statt sich skeptisch mit dem Misserfolg abzufinden, prüft der «kritische» Philosoph, ob bzw. wieweit die Vernunft ihre eigenen Erkenntnisziele zu erreichen in der Lage ist. Dieselbe Vernunft tritt dabei doppelt auf: als geprüfte und als prüfende. Die Selbstkritik ist also nicht total, vom metaphysischen Vernunftgebrauch hebt sich der kritische ab, der die Bestimmung der Grenzen unserer Einsichtsfähigkeit anvisiert. Der Prozess der Kritik führt von der Zerstörung vermeintlicher Erkenntnisse über die Krise zum konstruktiven Umriss dessen, was wir tatsächlich wissen können. Kants Vernunftkritik hat eine negative und eine positive Seite. Sie ist in diesem ihrem doppelten «Nutzen» vergleichbar mit der Funktion der Polizei, die die Gewalttätigkeit unter Bürgern verhindert und so deren sicheres Leben gewährleistet.

Wie gewinnt sich aber Vernunft aus ihrem selbstdestruktiven Gebrauch zurück? Ich wage den Vergleich mit einem suizidalen Menschen, der sich – von «letzten» Fragen bewegt – dem Eindruck der völligen Sinnlosigkeit seines Lebens ausgesetzt findet. Die Sinnangebote des alltäglichen Lebens sagen ihm nichts mehr; eine pragmatische Orientierung am Leitfaden des common sense scheint ihm nicht mehr möglich. Wenn aber der «grosse», der umfassende Sinn nicht zu finden ist, bleibt für ihn nur der Suizid. Diese «logische» Konsequenz dürfte von ihm nahestehenden Menschen, so unterstelle ich, als unvernünftig eingestuft werden. Sie nehmen ein Kriterium vernünftigen Denkens und Handelns in Anspruch, das sich nicht mit dem den Alltag mit seinen Freuden und Leiden «überfliegenden» Gebrauch von Vernunft beim Suizidalen deckt. Der Freund, der den Suizidalen zur «Vernunft» zu bringen versucht, versteht unter «Vernunft» offensichtlich etwas anderes als der Suizidale selbst. Er setzt Vernunft kritisch gegen einen in der Konsequenz selbstdestruktiven Gebrauch der Vernunft ein, der darin besteht, sich voll und ganz dem metaphysischen Bedürfnis nach einer heilen Welt voller Sinn hinzugeben. Wie lässt sich aber demjenigen, der sich auf diesem gefährlichen metaphysischen «Trip» befindet, beibringen, dass für Welt und Mensch kein umfassender Sinn vernünftig auszuweisen ist und dennoch kein Anlass zum Suizid besteht? Psychotherapeutisch wäre es wohl geraten, dass der Suizidale mit kundiger Unterstützung lernt, die selbstdestruktive Dynamik seines Seelenlebens explizit nachzuvollziehen: dass er sich etwa der narzisstisch hochgradigen Idealisierung der eigenen Person und Umwelt stellt und sich seine Phantasien bewusst macht, in einen harmonischen Primärzustand zurückkehren zu können. Am glücklichen Ende dieses zweifelsohne riskanten Prozesses der Selbsterkundung sollte die Fähigkeit erworben sein, mit sich und seinem metaphysischen «Vernunftbedürfnis» umzugehen, ohne auf eine zweifelsfrei sinnerfüllte Welt angewiesen zu sein.

Aufklärung in der Krise

Kaum hatte Friedrich Heinrich Jacobi 1785 seine Schrift «Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn» veröffentlicht, in der er behauptete, dass Lessing ein heimlicher Anhänger Spinozas gewesen sei, erhielt Kant mehrfach Post aus Berlin. Man deutete dort Jacobis Vorstoss als Kampfansage an die Aufklärung mittels Nachweis ihrer spinozistischen Konsequenzen und suchte Hilfe bei Kant. In den Augen der Berliner Aufklärer suchte Jacobi am exemplarischen Beispiel des als Deist bekannt gewesenen Lessing zu demonstrieren, dass eine zu Ende gedachte Philosophie der Vernunft in einen Atheismus und Fatalismus führen müsse, wie man ihn Spinoza zuschrieb, während wahre Gotteserkenntnis nur durch einen Salto mortale der Vernunft zu gewinnen sein sollte. In Berlin hielt man das für philosophische «Schwärmerei» und beschwor Kant, das Publikum dahingehend zu informieren, dass er «nie ein Mitgenoss in der christlichen Gesellschaft zur Beförderung des Atheismus und Fanatismus sein» könne. Kant diagnostizierte im aufgeklärten Denken ein offensichtliches Orientierungsdefizit und schrieb, wiederum für die Berlinische Monatsschrift, einen Aufsatz mit dem Titel «Was heisst: Sich im Denken orientieren?».

Hatte er in der «Kritik der reinen Vernunft» die metaphysischen Illusionen noch als unausrottbar bezeichnet, so weist er der kritischen Vernunft nun die Aufgabe zu, diese «auf immer zu vertilgen». Das aber soll so geschehen, dass die Kritik das subjektive Recht zur Selbstillusionierung der menschlichen Vernunft zugesteht – als das Recht eines Bedürfnisses der menschlichen Vernunft, sich der grossen Ordnung der Dinge und der Möglichkeit des Glücks in ihr zu versichern. Gemäss Kants Analyse droht Aufklärung auf der einen Seite in Atheismus und Fatalismus als Resultate konsequenten Vernunftgebrauchs zu münden, auf der anderen Seite schwärmerische Ersatz-überzeugungen zu produzieren, die sich mit religiösem Fanatismus verbinden könnten. Er lässt sich auch in dieser bedrohlichen Situation in seiner Konzeption vernünftigen Denkens weder als Parteigänger Jacobis auf die postaufklärerische Position eines von der Vernunft abgelösten Glaubens in metaphysischen und religiösen Dingen festlegen, noch als Verfechter einer letztlich präkritischen Aufklärung abstempeln. Trotzdem verändert sich in diesem «Spinozismusstreit» sein Verständnis von Aufklärung. Stand bei seiner Beantwortung der Frage «Was ist Aufklärung?» zwei Jahre zuvor die Differenz zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft im Zentrum seines Einsatzes für die Denkfreiheit, so ist es jetzt das Selbstdenken in seiner Gefährdung durch «Gesetzlosigkeit», das ihn beschäftigt: er legt nun beim Selbstdenken den Akzent auf Orientierung an dem der Vernunft eigenen Bedürfnis und behauptet dessen Erfüllung in einem ethisch legitimierten «Vernunftglauben» an Gott und Unsterblichkeit.

Aufklärung heute

Michel Foucault hat sich erneut die Frage «Was ist Aufklärung?» gestellt. Es trifft ziemlich genau die Zielsetzung meiner Analyse von Kants Beitrag zur Aufklärung und ihrem philosophischen Begriff, wenn er schreibt, «dass nicht die Treue zu doktrinären Elementen der Faden ist, der uns mit der Aufklärung verbinden kann, sondern die ständige Reaktivierung einer Haltung – das heisst eines philosophischen Ethos, das als permanente Kritik unseres historischen Seins beschrieben werden könnte». Wenn Foucault von einer Haltung der Kritik spricht, die uns heute mit der Aufklärung verbindet, dann visiert er eine «Grenzhaltung» an, die sich nicht einfach diesseits der gesetzten Grenzen hält, sondern die Möglichkeit einer «Überschreitung» erkundet, die jedoch – anders als die kantische – nicht in einer metaphysischen Orientierung bestehen kann. In Experimenten des Schreibens, Denkens und Verhaltens müsste sich «Aufklärung» fortsetzen, ohne dass wir wissen, «ob wir jemals mündig werden».

Helmut Holzhey, geboren 1937, ist Ordinarius für Philosophie an der Universität Zürich

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