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Kant war Rassist
Dieter Schönecker, zvg.

Kant war Rassist

Das sollte uns nicht daran hindern, ihn zu lesen.

 

Die Frage, ob und in welchem Sinne der Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant Rassist gewesen sei, beschäftigt die Kant-Forschung schon sehr lange. Neuerdings interessiert sich aber auch eine breitere Öffentlichkeit ­dafür. Das liegt an der andauernden Rassismusdebatte und ganz konkret am Fall George Floyd, der diese noch einmal extrem ­befeuert hat. Es ist dabei verschiedentlich angemerkt worden, dass die Rassismus­forschung und erst recht der öffentliche, politische Rassismus­diskurs sich nicht eben durch begriffliche Klarheit auszeichnet. Dabei hängt die Antwort auf die Frage, ob Kant Rassist gewesen sei, davon ab, was es bedeutet, ein Rassist zu sein oder, nicht ganz dasselbe, was Rassismus ist. Im deutschen Feuilletonstreit um Kants angeblichen Rassismus fand man dazu so gut wie gar nichts.

Das ist, wie ich zeigen möchte, auch deshalb besonders misslich, weil man in bezug auf Kant vier verschiedene Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unterscheiden muss: den biologischen Rassismus, den Semirassismus, den Ethnizismus und den Kulturchauvinismus. Radikal ist dieser Rassismus, weil seine Wurzel tief in Kants Verständnis der menschlichen Natur reicht – zwar nicht der Gattung, aber der Rassen. Sollte Kant ­Rassist sein, schliessen sich zwei weitere Fragen an, die ich hier aber nur stichwortartig behandeln kann: Schliesst Kant, wie etwa Charles Mills behauptet, grundsätzlich bestimmte Rassen aus dem Personenbegriff aus, so dass sein Rassismus gravierenden Einfluss auf seine Moralphilosophie hat? Und wie umgehen mit Kants Rassismus in Forschung und Lehre?

Eine Begriffsklärung

Zunächst also begriffliche Propädeutik. Erstens ist die Rassenthese, also die These, es gebe biologisch unterscheidbare menschliche Rassen mit substantiellen, erblichen Unterschieden, nicht per se rassistisch. Denn es könnte solche Rassen geben, und wenn es sie gäbe, wäre die These, dass es sie gebe, wahr und also nicht rassistisch. Die Tatsache allein, dass Kant zumindest hypothetisch dachte, es gäbe menschliche Rassen, macht ihn also nicht zum Rassisten; es muss mit der Rassenthese ein Abwertungsmerkmal verbunden sein. Wer, zweitens, Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert, ohne dies mit der These zu verknüpfen, verschiedene Hautfarben entsprächen verschiedenen Rassen, legt für seine Diskriminierung ein biologisches Merkmal zugrunde. Aber nicht jedes biologische Merkmal ist eben als solches verknüpft mit Rasse (umgekehrt gibt es Rassismus ohne Hautfarbe, so Egon Flaig). Denn selbst wenn es keine Rassen gibt, lässt sich nicht bestreiten, dass es verschiedene Hautfarben gibt. Wer, wie etwa der Hallenser Anthropologe Cengiz Barskanmaz, sagt, Hautfarbe existiere nicht und sei vielmehr eine «soziale und ideologische Konstruktion», begeht einen genetischen Fehlschluss. Denn die Tatsache, dass bei vielen das Motiv dafür, Hautfarben zu unterscheiden, diskriminierend sein könnte, impliziert nicht, dass Hautfarben nicht existieren, ebenso wenig wie die ­Tatsache, dass Menschen die (angebliche) Unterschiedlichkeit von Rassen für rassistische Zwecke nutzen, implizieren würde, dass es keine Rassen gibt. Die Rede vom kulturellen Rassismus ist, ­drittens, insofern irreführend, als sie nahelegt, es könnte einen «Rassismus ohne Rassen» geben. Da der Rassebegriff aber im Kern biologisch ist – wie man bei Kant sehr gut erkennen kann –, kann es Rassismus ohne Rassen, oder jedenfalls ohne die Überzeugung, es gebe menschliche Rassen, nicht geben. Der biologische Rassismus ist zwar eine Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, aber nicht jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist rassistisch. Sonst wäre auch der «Ableismus» rassistisch.

«Nicht nur verstehen wir und die zukünftigen Generationen unsere

eigene Geschichte nicht mehr, sollte man Kant aus dem Kanon der ­

philosophischen Weltliteratur canceln; wir verlören damit einen der

grössten Philosophen und ­Ideengeber aller Zeiten.»

Wir müssen also differenzieren. Mein Vorschlag lautet, vor dem Kant’schen Hintergrund zwischen Rassismus, Semirassismus, Ethnizismus und Kulturchauvinismus zu unterscheiden. Für alle vier Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gilt, dass nicht die mit ihnen einhergehende Gruppenidentifizierung problematisch ist, sondern erst eine hierauf folgende Gruppendiskriminierung. So ist etwa die Rassenthese erst dann rassistisch, wenn sie mit evaluativen Thesen verbunden wird, die menschliche Rassen in bezug auf ihre unausbleiblichen erblichen Merkmale abwertet oder diskriminiert oder sogar hierarchisiert; Rassismus entsteht durch rassebasierte Despektion. Rassistisch ist beispielsweise die These, Mitglieder der (angeblichen) schwarzen Rasse seien als solche, also von Natur aus, nicht zur Entwicklung einer Hochkultur fähig. Diese These wäre aber nicht deshalb rassistisch, weil sie voraussetzt, dass es Hochkulturen gibt im ­Unterschied zu primitiven Kulturen (denn das wiederum könnte unter Inanspruchnahme bestimmter Merkmale wahr sein), sondern weil sie eine These aufstellt, die selbst dann offenkundig falsch und abwertend wäre, wenn es eine schwarze Rasse tatsächlich gäbe. Semirassistisch sind Kants abwertende Bemerkungen über Völker, sofern er sie mit seiner Rassentheorie verknüpft oder aus ihr ableitet. Semirassistisch nenne ich sie deshalb, weil Völker, auch für Kant, von Rassen zu unterscheiden sind. Die diskriminierende Abwertung von nicht unausbleiblich erblichen Eigenschaften von Völkern – etwa die Haarfarbe –, die keine Rassen sind, sondern Varietäten, ist ethnizistisch. Dort, wo Kant Völker, Nationen und Kulturen in bezug auf nichterblich fundierte kulturelle Leistungen und Ausprägungen herabsetzt, bietet sich der Begriff des Kulturchauvinismus an. Meine These lautet: Kant war all dies. Er war Rassist, Semirassist, Ethnizist und Kulturchauvinist, und er war es in allen Phasen seines Denkens.

Über die Unterschiede der Menschengattung

Kant hat sich wiederholt zur Rassethematik geäussert. Die wichtigsten Texte sind «Von den verschiedenen Racen der Menschen» (VRM, 1775 bzw. 1777), die «Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace» (BBM, 1785) und «Über den Gebrauch teleolo­gischer Principien in der Philosophie» (GTP, 1788). Daneben gibt es eine Vielzahl von Stellen vor allem in den anthropologischen ­Mitschriften und in der 1798 publizierten «Anthropologie in prag­matischer Absicht» (A) wie auch in der in Vorlesungen behandelten «Physischen Geographie» von 1802. Zu beachten ist also, dass Kants Rassismus keineswegs nur in Mitschriften oder zweifelhaften Ausgaben zu finden ist und dass der Status der Rassetheorie schwer zu bestimmen ist; Kant spricht, das wird oft übersehen, wiederholt von «Hypothesen».

Hier ist der Grundgedanke von Kants Rassetheorie: Es gibt nur eine Menschengattung. In ihr stecken Anlagen und Keime für ­verschiedene Teile und deren Grösse und Verhältnis zueinander. Abhängig von der Umwelt, in der die Menschen leben, entwickeln sich verschiedene Menschenrassen, die sich vor allem durch ihre Haut unterscheiden. Es gibt viele erbliche Eigenschaften, die sich in Familien (z.B. Schwindsucht) und Völkern (z.B. Haarfarbe) vererben, die aber nicht zur Gattung gehören und auch keine Rasse definieren; keine davon «artet unausbleiblich an» (BBM: 94). Das trifft nur auf die Haut (und Hautfarbe) zu, und nur eine solche unausbleibliche Vererbung begründet den Begriff unterschiedlicher Menschenrassen, deren Kant vier unterscheidet, nämlich die Rasse «der Weissen, der gelben Indianer, der Neger und der kupferfarbig-rothen Amerikaner» (BBM: 93). Übrigens meint Kant mit den «Weissen» keineswegs nur Menschen, die heutzutage unter dem Schlagwort «weisser (alter und neuer) Europäer» rassifiziert werden, sondern unter anderem auch die von ihm sogenannten Mohren, die Araber, die Perser und die Türken (vgl. VRM: 432 und BBM: 93). Das berüchtigte (editorisch zweifelhafte) Zitat aus der «Phy­­sischen Geographie» «Die Menschheit ist in ihrer grössten Vollkommenheit in der Race der Weissen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften» (316) liest sich dann schon etwas anders.

Schauen wir uns die Hauptschriften nun mit Blick auf die Frage, welche Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sich darin findet, etwas genauer an. Kant schreibt in «Von den verschiedenen Racen der Menschen» den vier von ihm postulierten biologischen Rassen jeweils einen «Charakter der Rasse» (VRM: 442) auf eine Weise zu, die eindeutig rassistisch ist. So schreibt er: «Es entspringt der Neger, der […] unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist» (VRM: 438). Und diese Rassencharaktere übertragen sich: «Von diesen vier Racen glaube ich alle übrige erblichen Völkercharaktere ableiten zu können» (VRM: 432, m.H.). Aber auch in der ­«Anthropologie» von 1798 heisst es z.B., dass die Engländer und Franzosen je einen «angeborenen Charakter» hätten, «von dem der erworbene und künstliche nur die Folge ist» (A: 312; vgl. 315, 27/31). Nimmt man diese Ableitungsthese Kants ernst, so müssen die diskriminierend-abwertenden Beschreibungen Kants bei seinen Ausführungen über Völkercharaktere wohl als semirassistisch eingestuft werden und nicht nur als ethnizistisch oder kulturchauvinistisch.

In seiner Schrift «Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie» betont Kant wiederholt, dass Rassen, aber auch Varietäten («Volksschlag»; GTP: 165) sich aus einem ursprünglichen Menschenstamm und aus in ihm liegenden, auf eine zweckmässige Anpassung an Boden und Klima ausgerichteten Keimen und Anlagen entwickeln, und zwar die Rassen mit unausbleiblich vererbbaren, die Varietäten mit nicht unausbleiblich vererbbaren Merkmalen. Diese evolutionäre Anlagentheorie, die nicht per se rassistisch ist, bietet zugleich den theoretischen ­Boden für einen expliziten Rassismus in bezug auf die sogenannten «Neger», «Zigeuner» und «Amerikaner»: Die sogenannten «creolischen Neger» etwa, vertrieben aus ihrer Heimat, würden es auf dem neuen Boden (als ehemalige Sklaven) an einem «Trieb zur Tätigkeit» (GTP: 174) fehlen lassen, dessen ausgeprägte Entwicklung aus einer jener ursprünglichen Anlagen in ihrer Heimat nicht notwendig gewesen sei, dann aber auf dem neuen Boden als Mangel sich bemerkbar mache. In seinen «Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen» (1764) schreibt Kant: «Dieser Kerl war vom Kopf bis zum Fuss ganz schwarz, ein deutlicher ­Beweis, dass das, was er sagte, dumm war» (255). Dabei ist zu beachten, dass solche angeblichen Eigenschaften als natürliche dauerhaft sind: «Der Neger kann disciplinirt und cultivirt, niemals aber ächt civilisirt werden. Er verfällt von selbst in die Wildheit. Amerikaner und Neger können sich nicht selbst regiren. ­Dienen also nur zu Sclaven» (Reflexion 1520).

Plädoyer für eine genaue Kant-Lektüre

Nun ist es eine durch Pauline Kleingeld prominent gewordene These der Forschung, Kant habe seinen Rassismus seit Mitte der 1790er Jahre aufgegeben (vielleicht schon früher), was sich auch daran zeige, dass er sich zum Kritiker des Kolonialismus und der Sklaverei gewandelt habe. Ich halte diese aus mehreren Gründen für falsch: Erstens sind Sklavismus und Kolonialismus einerseits und Rassismus andererseits begriffslogisch unabhängig voneinander: Man kann die Sklaverei und den Kolonialismus auch ohne Rassismus gutheissen, und man kann trotz Rassismus Sklavismus und Kolonialismus ablehnen. Wenn es denn so war, dass Kant zum Gegner von Sklavismus und Kolonialismus geworden ist, beweist dies allein nicht, dass er kein biologischer Rassist mehr war. Zweitens kritisiert Kant zwar den Kolonialismus; aber er teilt die Völker nach wie vor ein in «wilde» und zivilisierte (RL: 266, A 316). Drittens und vor allem ist zweifelhaft, dass der späte Kant die hierarchisierende Rassencharakteristik aufgegeben hat. Es ist zwar wahr, dass Kant im Anthropologiekapitel zum «Charakter der Rasse» von 1798 die Charakteristik und Rassenhierarchie nicht mehr selbst thematisiert. Aber das liegt daran, dass er stattdessen auf das 1796 erschienene Buch «Über das Kantische Prinzip für die Naturgeschichte» von Christoph Girtanner verweist, der dieses Buch «meinen [d. h. Kants] Grundsätzen gemäss» (A: 320) verfasst habe, und zwar «schön und gründlich» (ebd.). Girtanner aber betreibt auf Hunderten von Seiten nicht nur eine Rassencharakteristik, er kennt auch eine Rassenhierarchie. So schreibt er, die Amerikaner seien «eine Menschenrasse, welche, in Rücksicht auf Fähigkeiten und Talente, die niedrigste Stufe einnimmt und sogar noch tiefer unter dem Neger steht» (139) – und dabei verweist ­Girtanner auf Kants Aufsatz «Über den Gebrauch teleologischer Prinzipen in der Philosophie», den er dabei ja auch fast wörtlich zitiert (GTP: 176: «… noch tief unter dem Neger selbst steht»).

Man hat eingewandt, dass Kants Rassismus seine universalistische Moral überhaupt nicht tangiere. Dies ist insofern richtig, als Kant das moralische Subjekt in einer Hinsicht als noumenale, rationale Person versteht. Umgekehrt scheint es mir interpretatorisch unhaltbar, dass bei Kant Weisssein eine Voraussetzung für Personalität wäre (wie Mills sehr textfern behauptet) und etwa Schwarze nur «Subpersonen» («Untermenschen») seien; Menschsein ist hinreichend dafür, Person zu sein, und es ist kein Zufall, dass Kant monogenetisch dachte. Aber als Wesen mit Fleisch und Blut unterliegt der Mensch Neigungen, Affekten, Trieben, die er überwinden muss, und er hat Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte, die zu entfalten er eine moralische Pflicht hat, so wie er auch die Pflicht hat zur Entwicklung seiner moralischen Vollkommenheit. Aus den rassistischen Prämissen Kants könnte folgen, dass die Mitglieder mancher Rassen (und Halbrassen, die Kant auch annahm) insofern keine vollwertigen moralischen Subjekte sind, als ihre physischen und moralischen Entwicklungsmöglichkeiten biologisch (als Mitglieder von Rassen oder Halbrassen) ein­geschränkt sind. Das wiederum hat geschichtsphilosophische ­Implikationen in bezug auf die Frage, «ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei». Vielleicht insgesamt, aber nicht alle, und auch nicht alle Rassen?

Kant war Rassist, und mehr als das; ich sehe nicht, wie man das sinnvoll bestreiten könnte. Aber nicht nur verstehen wir und die zukünftigen Generationen unsere eigene Geschichte nicht mehr, sollte man Kant aus dem Kanon der philosophischen Weltliteratur canceln; wir verlören damit einen der grössten Philosophen und Ideengeber aller Zeiten, von dem wir viel gelernt haben und immer noch lernen können. So wenig wie wir Grund haben, Aristoteles nicht mehr zu lesen, weil er Sklavist war, oder Marx, weil er Antisemit war, oder Nietzsche, weil er Sexist war (wie ja auch Kant), so wenig haben wir Grund, Kant nicht mehr zu lesen, weil er Rassist war.

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