Kant und die freie Form
Das Wahre, das Gute und das Schöne je als autonome Bereiche zu begründen, ist Kants Verdienst. Dieser fünfte Beitrag zu Kants Wirkung auf das philosophische Denken unserer Zeit zeigt, dass seine Begründung der Autonomie der Kunst nichts von ihrer argumentativen Kraft eingebüsst hat. Anhand eines zunächst negativen Massnahmenkatalogs
kann ein Kunstwerk daraufhin befragt werden, ob sein vermeintlich ästhetischer Wert sich nicht doch aus fremden Quellen, aus moralischem oder aus bloss privatem Interesse speist. Statt eine dogmatische Definition «des Schönen» zu liefern, ruft Kant zum selbständigen, ästhetischen Reflektieren auf.
«Über Geschmack lässt sich nicht streiten» heisst es im Sprichwort, und so scheint jede Diskussion über verbindliche Kriterien des Schönen oder ästhetisch Wertvollen ganz überflüssig zu sein. Freilich lassen sich psychologische und soziologische Untersuchungen darüber anstellen, welche sozialen Gruppen welchen Stil zu welcher Zeit oder auch in welchem Alter bevorzugen. Doch viele vordergründig wegen ihrer Schönheit geschätzten Gegenstände erweisen sich gerade im Rahmen solcher Analysen als blosse «Prestigeobjekte», die nur der Selbstpräsentation des Individuums oder seiner Zuordnung zu sozialen Gruppen dienen. Die Ursachen zu Übereinstimmungen in Geschmacksfragen scheinen also vor allem sozialer Natur zu sein. Unsere ästhetischen Vorlieben, so könnte man schliessen, entstammen weniger einem reflektierten Urteilsvermögen, sondern sind die Wirkung gesellschaftlicher Prägungen. Ganz so muss wohl auch Kant in seinen früheren Jahren gedacht haben. Denn in der «Kritik der reinen Vernunft» von 1781 liest man: «Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Wortes Ästhetik bedienen, um dadurch zu bezeichnen, was andere Kritik des Geschmacks heissen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein, diese Bemühung ist vergeblich.»
Bemerkenswert aber erschien Kant das Phänomen, dass wir in unserem Sprechen einen Unterschied machen zwischen angenehmen und schönen Dingen. Die Schönheit schreiben wir einem Gegenstand fast wie eine Eigenschaft zu, so Kant, und wir sind auch gar nicht bereit, von unserem Urteil abzurücken, wenn jemand eine andere Meinung äussert. Vielmehr «fordern» wir, wie Kant bemerkt, von allen anderen, sie sollten auch so urteilen wie wir, ja wir «tadeln» sie sogar, wenn sie anders sprechen. Ein merkwürdiges Phänomen, das darauf schliessen lässt, dass Urteile über die Schönheit einen höheren Verbindlichkeitscharakter besitzen als etwa Urteile, in denen wir nur über unsere persönlichen Vorlieben sprechen.
Dieses Phänomen (und die Herausforderung, die bereits ausgeführten Teile seiner Philosophie in einen systematischen Zusammenhang zu setzen) regte Kant zum Überdenken seiner frühen Position an. Woraus man sehen kann, dass er «kritisches» Denken nicht nur im Allgemeinen propagierte, sondern auch bereit war, es schonungslos auf die eigenen Überzeugungen anzuwenden. In seinem Spätwerk, in der «Kritik der Urteilskraft» von 179 , und auch in vielen Briefen kann man lesen, dass ihn dieses kritische Überdenken «ganz zu seiner eigenen Überraschung», wie er es formuliert, viele Jahre nach der «Kritik der reinen Vernunft» – neben unserem Vermögen zur Erkenntnis und zur moralischen Beurteilung – noch ein weiteres Vermögen mit «vernünftiger» Grundlage entdecken liess: das Vermögen des Geschmacks bzw. der ästhetischen Beurteilung.
Die Frage, die Kant in diesem Zusammenhang interessierte, lautet: Mit welchem Recht fällen wir Urteile, die sich ganz offensichtlich nicht durch allgemeine Gesetze beweisen lassen, mit denen wir aber dennoch den Anspruch erheben, dass andere ihnen zustimmen sollen? Anders formuliert: Lassen sich Bedingungen angeben, unter denen wir einen Gegenstand – zum Beispiel ein Werk der Bildenden Kunst – zu Recht als ästhetisch wertvoll bezeichnen? Dabei muss man sich klarmachen, dass diese Fragen nach dem Rechtsgrund einer Urteilsform nicht darauf abzielen, eine psychologische oder soziologische Antwort beizubringen. Von solchen Formen des Erklärens hat Kant nämlich nicht viel gehalten. Sie seien, wie er in der «Kritik der Urteilskraft» formuliert, «ohne Ende hypothetisch». Auf ihrer Grundlage lasse sich zwar gewiss viel Wahres über die tatsächliche Entstehung unserer Vorlieben herausfinden, vielleicht aber sogar zuviel. Denn man wird nie recht entscheiden können, welche von all den möglichen Erklärungen nun gerade diejenige ist, die das fragliche Phänomen wirklich – und das heisst notwendig und als solches – erklärt. Was Kant mit der Frage nach den Rechtsgründen oder, wie er es formuliert, nach den «Bedingungen der Möglichkeit» ästhetischer Urteile untersuchen wollte, waren nicht die tatsächlichen Einflüsse, denen unser Geschmack faktisch unterliegen mag, sondern die logischen Voraussetzungen korrekter ästhetischer Urteile. Es geht also um eine in dem Sinne kritische Untersuchung, als danach gefragt wird, was wir denn, wenn wir so urteilen und sprechen, korrekterweise meinen können. Worauf wir uns beziehen sollen, wenn wir ästhetisch urteilen wollen und nicht zuletzt auch, ob sich überhaupt allgemeine Gründe angeben lassen für eine solche Art von Urteilen. Kritische Untersuchungen dieser Art hat Kant zu einem früheren Zeitpunkt schon für unsere Erkenntnisurteile in der «Kritik der reinen Vernunft» und für unsere moralischen Urteile in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der «Kritik der praktischen Vernunft» angestellt. In diesen Schriften wurde jeweils eine Idealform des betreffenden Urteilstyps herausgearbeitet und unangemessenes Sprechen sowie damit verbundene unangemessene Ansprüche an sich selbst aufgeklärt.
Unterhaltung ist keine Kunst
Auch wenn der Kantische Anspruch an eine theoretische Erklärung eines Phänomens recht hoch erscheint, so zeigt sich doch, dass andererseits die Behauptungen, zu denen er durch die kritische Untersuchung unserer ästhetischen Urteile gelangt, durchaus bescheiden ausfallen. Statt uns vollmundig mit Definitionen zu versorgen, die ein für allemal festlegen, was das Schöne und was die Kunst ist, führt er in kritischer Auseinandersetzung mit dogmatischen Positionen ein Gedankengebäude vor, das uns mit Methoden mehr denn mit Ergebnissen versorgt. Der positive Ertrag scheint auf den ersten Blick durchaus gering. Es geht um Kritik und darum, was alles nicht gemeint sein kann, wenn man behauptet, etwas sei schön oder etwas habe ästhetischen Wert.
Kant entwickelt seine Ästhetik zunächst einmal auf der Grundlage von vier Thesen über das ästhetische Urteil. Sie werden in der Kritik der Urteilskraft – genauer in deren erstem Teil, der Kritik der ästhetischen Urteilskraft – eingeführt und gelten durchaus als etwas dunkel, was nicht zuletzt daran liegt, dass ihre Formulierung dem ersten Anschein nach paradox anmutet. Im Rahmen der sogenannten «Analytik der ästhetischen Urteilskraft» erweisen sie sich als Momente, und man könnte statt dessen auch sagen, sie bildeten vier Hinsichten, auf die «wir acht haben» müssen, wenn wir ein ästhetisches Urteil fällen wollen und nicht etwas anderes. Dabei ist zu beachten, dass Kant den Bereich des Ästhetischen keineswegs auf die Bildende Kunst beschränkte, sondern auch die Sprachkunst, die Musik und sogar die Naturschönheit, ja überhaupt alles, sofern es von uns wahrgenommen und reflektiert werden kann, als mögliche Gegenstände ästhetischer Beurteilung ansah.
Das erste Moment des ästhetischen Urteils lautet nun: «Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Missfallen ohne alles Interesse.» Schon diese erste Bestimmung hat der Kantischen Ästhetik viel Widerspruch eingebracht. Wohlgefallen, aber ohne alles Interesse? Warum sollten wir uns einem Gegenstand oder sogar einem Kunstwerk zuwenden, wenn wir gar kein Interesse an ihm nehmen? Worum es Kant aber geht, wenn er dem «Interesse» jede Beteiligung an der Frage abspricht, «ob ein Gegenstand schön sei oder nicht», ist folgendes: Oft gefallen uns Gegenstände, weil wir sie gerne besitzen oder gebrauchen würden. Wir verbinden mit diesen Dingen ein Wohlgefallen, weil wir ein Interesse an ihnen nehmen, aber eigentlich nicht an ihrer Schönheit, sondern vielmehr an ihrer Existenz, an dem Gedanken, dass es «schön», oder sollte man nicht besser sagen: dass es «angenehm» wäre, sie zu besitzen. Der Grund für unser positives Urteil liegt also weniger in der besonderen Gestalt oder Beschaffenheit des Wahrgenommenen selbst, als vielmehr darin, dass diese Gegenstände in unser persönliches «Bedürfnisprofil» passen. Kant schliesst mit diesem ersten Moment das Interesse als Grund des Urteilens aus, um die Vereinnahmung des Schönen und der Kunst durch unseren privaten Willen, durch unser persönliches Gefühl oder – auf der Theorieebene gesprochen – durch eine «Ästhetik des Gefälligen» abzuschlagen. Urteile über das Schöne sollen also nicht mit Urteilen über das Angenehme verwechselt werden. Kann man daraus auch einen Anspruch an die Gegenstände des Schönen entwickeln? Nun: zumindest soweit als alle Wahrnehmung und auch alle «Kunst» zu kritisieren wäre, die nur und unmittelbar auf den Affekt und den Effekt setzt, die also keinen Raum für eine Reflexion lässt. Sie dürfte nicht mit dem Prädikat «schön» belegt werden und wäre auch keine Kunst im Kantischen Sinne, sondern Unterhaltung. Das ist das Ergebnis des ersten Moments.
Nicht alle «Heiligen Georgs» sind schön
Das zweite fordert: «Schön ist, was ohne Begriff allgemein gefällt.» Begriffe sind gerade bei der Betrachtung von Kunstwerken schnell zur Hand. Im allgemeinen sorgen sie dafür, dass wir uns verständigen können und dass wir trotz unterschiedlichen Sinneseindrücken dasselbe meinen können. Entsprechend umfasst ein und derselbe Begriff die verschiedensten Wahrnehmungen. Doch daraus, so die Kantische Überlegung, können wir nicht schliessen, dass diese alle auch gleichermassen schön seien. Nehmen wir als Beispiel etwa das Sujet «Heiliger Georg». Es wurde von Altdorfer, von Mantegna und von Raffael ins Bild gesetzt. Aber wenn wir die jeweils bestimmte Darstellung danach beurteilen, ob sie «schön» oder «ästhetisch gelungen» ist, dann lässt sich das nicht aus den allgemeinen Merkmalen der Darstellung ableiten, also aus denen, die sie erkennbar zu einer Darstellung der Legende des Heiligen Georg machen, sondern nur aus der jeweils besonderen Gestaltung der Darstellung bzw. aus der in Raum und Zeit «gegebenen Form», wie Kant es formuliert. Deshalb ist das ästhetische Urteil auch immer nur ein «einzelnes Urteil», denn daraus, dass man eine bestimmte Darstellung – zum Beispiel des Heiligen Georg von Altdorfer – als schön beurteilt, kann man nicht schliessen, «schön» seien oder es sein würden. Betrachtet man die Dinge so, sind für die Expressivität künstlerischer Darstellung und damit auch für ein entsprechendes ästhetisches Urteil konstitutiv: die Darstellungselemente in ihrer jeweiligen Anordnung, die Komposition, der «Bau» eines Werkes, nicht aber der damit vermittelte Begriff. Diese Überlegung lässt sich natürlich auch kritisch gegen manche Werke der Kunst selbst wenden.
Ganz in diesem Sinne hat etwa Nietzsche das Selbstverständnis der – aus seiner Sicht – allzusehr dem Begriff verhafteten Künstler seiner Zeit beklagt: «Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Scene-Setzer irgendwelcher Erinnerungen oder Theorie. Sie gefallen sich an unsrer Erudition, an unserer Philosophie. Sie sind, wie wir, voll und übervoll von allgemeinen Ideen. Sie lieben eine Form nicht um das, was sie ist, sondern um das, was sie ausdrückt. Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektirten Generation Tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen, und nur dran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.»1 Was aber bedeutet es, «den Augen ein Fest zu geben» und eine Form zu schaffen, die wir ohne Interesse und ohne Begriff dennoch alle gleichermassen als ästhetisch wertvoll beurteilen können?
Zur Klärung dieser Fragen tragen die beiden anderen Momente des ästhetischen Urteils etwas bei. Das dritte Moment des ästhetischen Urteils bezeichnet die Schönheit als eine Form der Zweckmässigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird. Schönheit ist also eine Zweckmässigkeit ohne Zweck.
Der Massstab liegt im Werk
Das ist eine der rätselhaftesten Bestimmungen, um deren Aufhellung sich viele Interpretationen bemüht haben und noch bemühen. Denn wenn etwas als zweckmässig erscheint, dann ja wohl hinsichtlich eines bestimmten, angebbaren Zwecks. Doch diesen könnte man zum einen problemlos in Begriffe fassen und zum anderen würde ein Zweck der Darstellung eine Funktion zumessen. Sie fände dann ihr Mass an etwas, das mit ihr selbst gar nichts zu tun hat, sondern das wir gleichsam von aussen an sie herantragen. Der Bildungsauftrag der Kunst wäre ein solcher Zweck, die Entlastung von den Härten des Lebens, die Vermittlung moralischer Werte oder auch nur die Funktion, eine leere Wand zu füllen und zum Sofa zu passen. Was an einer Darstellung kann uns aber den Eindruck einer Zweckmässigkeit verschaffen, wenn ihr Zweck dabei keine Rolle spielen soll?
Im Zusammenhang mit der Zweckmässigkeitsforderung erwähnt Kant eine nicht minder rätselhafte Theoriefigur: das sogenannte «Spiel der Vermögen». Eine Darstellung, so Kant, soll zweckmässig dafür sein, dass sich bei ihrer Kontemplation ein harmonisches, spielerisches Verhältnis zwischen «Einbildungskraft» und «Verstand» herstellen lässt und sich daraus – also nicht aus der unmittelbaren Wirkung des Wahrnehmungseindrucks und auch nicht aus unserem Wissen oder der intellektuellen Dimension des Werkes – ein Lustgefühl aufbaut. Eine Harmonie soll sich ergeben aus sinnlichen (dafür steht die Einbildungskraft) und geistigen Strukturen (hierfür steht der Verstand). Was kann man sich darunter vorstellen? Nicht nach einem bestimmten Zweck zu suchen, sondern nur nach der Zweckmässigkeit kann bedeuten, die jeweilige Darstellung, die individuell gegebene Form also, nicht auf allgemeine kognitive Strukturen hin, sondern auf ihre ästhetischen Effekte hin zu betrachten. An einer Darstellung kann man Farben und Formen in Bezug setzen und sinnliche Verhältnisse zwischen den raum-zeitlich geordneten Farbeindrücken bilden. Man muss diese nicht auf einen bestimmten Begriff hin beziehen, sondern kann die Vorlage in dieser relationalen Verhältnisbildung in ein System solcher Verhältnisse übersetzen: solche qualitativen Werte, die ästhetischen Effekte, werden an einer Vorlage nicht unmittelbar wahrgenommen, sie drängen sich dem Betrachter nicht auf, sondern setzen den Vollzug aktiver Betrachtung voraus. Was Kant als «freie Tätigkeit der Einbildungskraft» beschreibt, meint möglicherweise eben solche relationale Bildung sinnlicher, d.h. ästhetischer Effekte. Was also zunächst eine Vorlage zweckmässig erscheinen lässt, ist der Umstand, dass man an ihr ein solches ästhetisches Wertesystem herstellen kann.
Ob eine Vorlage, an der so eine «schöpferische Tat»2 möglich ist, auch «schön» ist – ob sie es verdient, eine «ästhetisch gelungene» Darstellung genannt zu werden – ist damit noch nicht entschieden. Denn eigentlich kann man so ja mit allen Gegenständen und Vorstellungen verfahren. Die meisten Kritiker der Kantischen Ästhetik haben gerade in diesen Überlegungen die Vollendung des Kantischen Unternehmens erkannt und sie daher möglicherweise zu Unrecht als eine Ästhetik des geistlosen «Fleckensehens», des blossen «Anglotzens» und sogar der «Entmündigung der Kunst»3 kritisiert. Aber die Kantische Analyse des ästhetischen Urteils endet hier nicht.
Sinnlichkeit allein ist zu wenig
Sie betont nicht allein die sinnliche Seite, sondern integriert auch eine Beteiligung des Geistes. Schliesslich soll sich ja ästhetische Valenz herstellen in einer Harmonie aus Einbildungskraft und Verstand, aus sinnlichen und geistigen Elementen. Dies zu berücksichtigen fordert das vierte und letzte Moment des ästhetischen Urteils; denn es lautet: «Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.»
Trotz der objektiven Gesetzlosigkeit, die der ästhetischen Betrachtung zugrunde liegt, meinen wir nach allgemeinen Gesichtspunkten verfahren zu sein. Aber welche Strukturen sorgen dafür, dass wir in der Betrachtung schöner Gegenstände doch wenigstens hoffen können, eine Gemeinsamkeit herzustellen? Kant macht eine Andeutung: Formen, die wir als ästhetisch gelungen beurteilen, müssten, obschon von jeglicher Bestimmung durch ein Begehren und einen Zweck befreit, doch «Mitteilbarkeit» besitzen. Sie müssten Formen der Mitteilbarkeit sein. Die Gemeinsamkeit des Wohlgefallens müsste sich aus den individuellen Strukturen einer Darstellung ergeben und somit aus der Möglichkeit, dass wir eine Darstellung, wenn wir sie in der oben beschriebenen Weise bewusst wahrnehmen, mit allgemeinen Sinnstrukturen verbinden können. Der Sinn, von dem hier die Rede ist, bezöge sich dann auf unser Sehen der Darstellung, und die oben so paradox anmutende Formulierung einer «Zweckmässigkeit ohne Zweck» könnte bedeuten: Die jeweils individuelle Komposition ist geeignet, um daran in bewusster Wahrnehmung gesetzmässige Zusammenhänge zu erkennen, um in der Reflexion auf unser Wahrnehmen eine ästhetische Bedeutung herzustellen. Das klingt nun etwas abstrakt, und die Kantische Ästhetik selbst hat auf die Fragen des konkreten Vollzugs ästhetischer Bedeutungskonstitution auch wenig Hinweise gegeben.
Klee nimmt Kant beim Wort
Für die Bildende Kunst haben aber insbesondere formalästhetische Ansätze Kantische Überlegungen konkretisiert. Beispielhaft bestimmten etwa Paul Klee, Wassily Kandinsky und Max Raphael die Wirkungen einfacher Form- und Farbstrukturen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es sich bei ihren Feststellungen nicht etwa um Gesetze a priori, gültig unabhängig von den Wahrnehmungen der Welt, sondern um Abstraktionen aus der künstlerischen Praxis handelt. Sie bilden daher auch kein allgemeinverbindliches Formenalphabet, das im voraus festzulegen vermöchte, aus welchen Formen welche ästhetischen Effekte und Sinnzusammenhänge hervorgehen würden. Hier geht es vielmehr darum herauszufinden, welche Strukturen einer Form welchen ästhetischen Effekt hervorrufen und welche geistigen Inhalte sich wiederum mit ihnen verbinden lassen. Die Ergebnisse solcher ästhetischen Reflexionen sind aber als begriffliche Formulierungen ästhetischer Werte immer nur Anleitungen zum Sehen, die allein dadurch Überzeugungskraft gewinnen, dass ein Betrachter ihnen folgend in der Rezeption des Kunstwerkes die beschriebenen ästhetischen Effekte und geistigen Verbindungen tatsächlich herstellen kann.
Der Reiz einer Ästhetik auf Kantischer Grundlage liegt vor allem darin, dass sie den Betrachter mit einem kritischen Instrumentarium versorgt und ihn zu selbständigem Urteil auffordert. Und an die Kunst richtet sie den Anspruch, dass ihre Werke nicht nur Gedanken illustrieren und Begriffe bebildern, sondern eine «innere Bedeutsamkeit rein aus ihren eigenen Mitteln der Darstellung»4 schaffen sollen. Dieser kann nur dort als eingelöst gelten, wo etwas als eine «freie Form» zu beurteilen ist, als eine Form von einer Bedeutungsfülle, für die «kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann».5
1) Friedrich Nietzsche, «Nachgelassene Schriften, Kritische Studienausgabe».
2) Arnold Gehlen, «Zeit Bilder». Frankfurt a. M.: Athenaeum,196 , S. 62ff.
3) Arthur Danto, «Die philosophische Entmündigung der Kunst».
München: Fink Verlag, 1993, S. 23.
4) Ernst Cassirer, «Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs».
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969, S. 191.
5) Immanuel Kant, «Kritik der Urteilskraft». Hamburg: Meiner Verlag, 1974, S. 171.
Andrea Marlen Esser, geboren 1963, promovierte in München im Fach Philosophie mit dem Thema «Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants Theorie des Schönen» (Fink Verlag, 1997). Ihre Habilitationsschrift «Eine Ethik für Endliche. Kants
Tugendlehre in der Gegenwart» ist dieses Jahr im Frommann-Holzboog Verlag erschienen. Zur Zeit ist sie Professorin für Kunst- und Designtheorie, Semiotik und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung Pforzheim.