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Kann Javier Milei Argentinien retten?
Javier Milei (2023). Bild: Argentinisches Aussenministerium.

Kann Javier Milei Argentinien retten?

Der neue argentinische Präsident erbt ein Land, das wirtschaftlich am Boden liegt. Es geld- und finanzpolitisch zu stabilisieren, dürfte ihm gelingen, doch tiefergreifende Reformen haben einen schweren Stand.

Argentinien ist verzweifelt – wieder einmal. Von Mitte der 1970er- bis Anfang der ’90er-Jahre lag die Inflation in dem Land regelmässig bei über 100 Prozent pro Jahr. Nachdem die Inflation drei Jahrzehnte lang im zweistelligen Bereich gehalten werden konnte, erhöhen sich die Preise nun wieder um mehr als das Doppelte pro Jahr. Die Rückkehr der Hyperinflation ist nur der sichtbarste Teil des wirtschaftlichen Versagens Argentiniens: Die offizielle Armutsquote, die 2017 noch 25 Prozent betrug, liegt jetzt bei über 40 Prozent. Selbst in normalen Zeiten ist die argentinische Wirtschaft seit mehr als einem Jahrhundert ein beständiger Misserfolg: Im Jahr 1910 war der durchschnittliche Amerikaner nur 25 Prozent reicher als der durchschnittliche Argentinier – heute sind es etwa 400 Prozent. Inmitten dieser Trümmer hat Argentinien gerade den libertären Wirtschaftsprofessor Javier Milei zum Präsidenten gewählt, der verspricht, mit radikalen marktwirtschaftlichen Massnahmen nicht nur die Krise zu beenden, sondern Argentinien in ein Leuchtfeuer kapitalistischen Laisser-faire-Wohlstands zu verwandeln.

Höhere Steuern

Die von Milei vorgeschlagenen Lösungen für die jüngste Krise sind nicht neu. Fast jeder, der weiss, was Krisen sind, kennt ihre Ursache: Die argentinische Regierung gibt viel mehr aus, als sie in Form von Steuern und Krediten einnimmt, und gleicht die Differenz aus, indem sie immer grössere Stückelungen des argentinischen Peso druckt. Um die Inflation zu stoppen, muss der Staat aufhören, Geld zu drucken, und gleichzeitig den Haushalt sanieren. Aufgrund seiner schlechten Kreditwürdigkeit kann Argentinien nicht viel mehr Geld ausleihen. Tatsächlich sind die Haushaltsprobleme des Landes zum grossen Teil darauf zurückzuführen, dass es in der Vergangenheit so leichtsinnig Kredite aufgenommen hat. Auch kann Argentinien, das bereits jetzt die höchste Steuerbelastung in Lateinamerika aufweist, sein Defizit von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht allein durch höhere Steuern beseitigen.

Milei gelobte wiederholt das Gegenteil. Seine Versprechen, dass die Anpassung «vom öffentlichen Sektor bezahlt wird», schienen Steuererhöhungen auszuschliessen. Noch im Oktober kündigte Milei eine Ausgabenkürzung um 14 Prozent an, was mehr als das Doppelte des Defizits wäre.1 Anfang November waren die von ihm vorgeschlagenen Ausgabenkürzungen auf 5 Prozent des BIP gesunken. Jetzt will Milei, wie die früheren argentinischen Krisenärzte, das Geldwachstum einschränken, die Staatsausgaben kürzen und die Steuern erhöhen. Der aktuelle Plan sieht vor, die Ausgaben um 2,9 Prozent des BIP zu senken und gleichzeitig die Steuern, insbesondere auf Arbeit und Einkommen, um 2,2 Prozent des BIP zu erhöhen. Obwohl Mileis Wirtschaftsminister Luis Caputo verspricht, «die Abschaffung aller Exportzölle voranzutreiben», «sobald diese Notlage vorbei ist», wird der Privatsektor während des Andauerns der Notlage draufzahlen.

Dennoch: Milei tönt ganz anders als frühere Krisenärzte. Kaum ein Politiker auf der Welt, geschweige denn in Argentinien sehnt sich offen nach einer Zukunft, in der «alles, was in den Händen des privaten Sektors sein kann, in den Händen des privaten Sektors sein wird». Krisenärzte befürworten oft die Liberalisierung des Handels und der Wechselkurse, aber Milei hat eine umfassendere Agenda der freien Marktwirtschaft. Zehn Tage nach seiner Machtübernahme erliess er ein Notstandsdekret (das «Megadecreto»), um die Vorschriften für Mieten, Lebensmittelgeschäfte und Personaleinstellungen zu lockern und die Tür für die Privatisierung staatlicher Unternehmen zu öffnen. Einige Tage später erliess er ein ordentliches Gesetz (das «Ley Omnibus»), dessen bemerkenswertester Vorschlag die Privatisierung von 41 staatlichen Unternehmen ist, darunter Aerolíneas Argentinas, die nationale Fluggesellschaft.

Was die «Notmassnahmen» angeht, so ist Mileis Deregulierung des Arbeitsmarktes bemerkenswert milde: Sie verlängert die Probezeit für neue Arbeitnehmer von drei auf acht Monate, kürzt die Abfindungszahlungen und droht protestierenden Arbeitnehmern, die den Verkehr blockieren, mit Entlassung. Doch bisher haben diese Vorschläge den stärksten Widerstand hervorgerufen. Die CGT, Argentiniens führende Gewerkschaft, behauptet, dass der «einzige Zweck» dieser «grausamen» und «regressiven» Massnahmen darin bestehe, «gewerkschaftliche Aktivitäten zu behindern, Arbeitnehmer zu bestrafen und Geschäftsinteressen zu begünstigen».2 Ein argentinisches Gericht hat Mileis Sofortmassnahmen zur Deregulierung der Arbeitsgesetzgebung fast sofort aufgehoben, obwohl er vielleicht in der Berufung gewinnen wird. Die Privatisierungen werden von grösserer Bedeutung sein, wenn sie stattfinden, aber da er es abgelehnt hat, sie in sein Notstandsdekret aufzunehmen, müssen sie beide Kammern der Legislative passieren.

Keine Bastion der freien Marktwirtschaft

Was ist das wahrscheinlichste Szenario für Argentinien? Die geld- und finanzpolitische Stabilisierung wird höchstwahrscheinlich funktionieren. Argentinien hat schon weitaus schlimmere Krisen erlebt: Die Hyperinflationen der 70er- bis 90er-Jahre haben die Preise 100 Milliarden Mal vervielfacht. Das ist, als würde man eine Milliarde Dollar in einen Penny verwandeln. Dennoch haben die Argentinier all diese Probleme und noch viel mehr mit Hilfe der orthodoxen Medizin monetärer Zurückhaltung und fiskalischer Verantwortung überwunden. Da selbst Politiker, die diese Behandlungen ideologisch ablehnten, letztlich die kurzfristigen Kosten ertrugen, kann man sicher sein, dass ein libertärer Wirtschaftsprofessor dasselbe tun wird.

«Die geld- und finanzpolitische Stabilisierung wird höchstwahrscheinlich funktionieren.»

Weit weniger wahrscheinlich ist, dass Argentinien, das in Sachen wirtschaftlicher Freiheit nur knapp über Venezuela und Kuba liegt, zu einer Bastion der freien Marktwirtschaft wird. Mileis Partei, La Libertad Avanza, hat nur einen winzigen Sitzanteil in beiden Kammern der Legislative, und alle mit ihm verbündeten Parteien sind eindeutig weniger libertär. In den 1990er-Jahren verfolgte Argentinien eine sehr viel marktwirtschaftlichere Politik, doch dies war Teil der weltweiten antisozialistischen Welle nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Bewunderer der benachbarten chilenischen Wirtschaft werden feststellen, dass Milei ideologisch sehr viel stärker der freien Marktwirtschaft verpflichtet ist, als es Pinochet jemals war. Wie viele Politiker handelt er nach dem Motto: «Never let a good crisis go to waste.» Aber Milei hat eindeutig weit weniger Macht, sein Land umzugestalten, als der chilenische Diktator hatte. Optimistisch betrachtet, könnte Milei nach zwei vierjährigen Amtszeiten ein Viertel der wirtschaftspolitischen Kluft zwischen Argentinien und Chile schliessen.

«Optimistisch betrachtet, könnte Milei nach zwei vierjährigen Amtszeiten ein Viertel der wirtschaftspolitischen Kluft zwischen Argentinien und Chile schliessen.»

Diejenigen, die sich mit Schrecken an die «Schocktherapie» im ehemaligen Sowjetblock erinnern, werden selbst eine geringfügige Annäherung an die Politik der freien Marktwirtschaft mit Misstrauen betrachten. Die harte Wahrheit ist jedoch, dass die Schocktherapie Wunder gewirkt hat. Tatsächlich geht es den Ländern, die in den 90er-Jahren radikale marktwirtschaftliche Reformen durchführten, heute wesentlich besser. Diejenigen, die einen vorsichtigen, langsamen Ansatz verfolgten, stagnieren im Vergleich dazu. Die logische Folge von «Auf lange Sicht sind wir alle tot» ist, dass wir alle in der langfristigen Perspektive leben, die unsere Vorgänger für uns gewählt haben. Hätten die Argentinier in den 80er-Jahren, als sie doppelt so reich waren wie die Chilenen, für das chilenische Modell der freien Marktwirtschaft gestimmt, wären ihre Kinder heute wahrscheinlich Bürger eines Erste-Welt-Landes, nicht eines ökonomischen Desasters.

«Hätten die Argentinier in den 80er-Jahren, als sie doppelt so reich waren wie die Chilenen, für das chilenische Modell der freien Marktwirtschaft gestimmt, wären ihre Kinder heute wahrscheinlich Bürger eines

Erste-Welt-Landes, nicht eines ökonomischen Desasters.»

Der Artikel erschien zuerst auf dem Blog Bet On It. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Seaman.

  1. Doll, I.O.: «Javier Milei’s Plan: A 14% GDP Reduction in Government Expenditure», Bloomberg Línea, 22. 09.2023, https://www.bloomberglinea.com/english/javier-mileis-plan-a-14-gdp-reduction-in-government-expenditure/

  2. Calatrava, A.: «Argentina’s Unions Take to the Streets to Protest President’s Cutbacks, Deregulation and Austerity», AP, 27.12.2023, https://apnews.com/article/argentina-milei-protests-economy-austerity-9f8a41c0149b71d2480ae380191e52ec

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